Klimawandel. Bei diesem Wort denken die meisten wahrscheinlich sofort an schmelzendes Eis. An Gletscher, die verschwinden. An bröckelnden Packeis. An den steigenden Meeresspiegel und all die Schwierigkeiten, die damit auf uns zu kommen. Aber wenn das Eis schmilzt, dann verschwindet damit auch ein ganzes Ökosystem. Denn eine Eisscholle mag auf den ersten Blick ziemlich leblos erscheinen. Darin und darunter verbirgt sich aber eine ganze Welt.
Dr. Ilka Peeken vom Alfred-Wegener-Institut erklärt mir diese Welt, die von Melosira Arctica und ihren Verwandten bewohnt wird: Den Meereisalgen der Arktis. Denn dort gibt es nicht nur Seehunde und Eisbäen, sondern eben auch jede Menge Algen, die an der Unterseite der Eisschollen haften. Aus dem Eis beziehen sie ihre Nährstoffe, die sich dort angesammelt haben und eingefroren worden sind. An der Grenze zwischen Wasser und Eis herrschen für bestimmte Arten ideale Bedingungen und wenn sich das Eis verändert oder gar verschwindet, dann hat das Folgen. Genau so wie die Abholzung von Wäldern einen massiven Eingriff in ein Ökosystem darstellt, ist das auch beim Verschwinden der Eisflächen der Fall.
Aber wie üblich in der Natur ist die Sache komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Wenn das Eis nicht mehr da ist, sinken die Algen hinunter auf den Boden der Tiefsee. Dort gibt es normalerweise wenig oder gar keine Nährstoffe und wenn nun plötzlich dort Algen auftauchen, die man dort normalerweise nicht findet, ist das eine weitere Veränderung eines Ökosystems. Plötzlich gibt es Nahrung für die dort vorhandenen Lebewesen, die zuvor nicht vorhanden war.
Dünnes Eis wäre an sich ja nicht schlecht für die Algen. Durch die dünnere Eisdecke dringt mehr Licht bis zu den Algen durch und selbst wenn sich Schmelztümpel bilden, also komplette Löcher im Eis, können die Algen durch die Sonnenenergie profitieren. Sie können verstärkt Photosynthese treiben und sich durch den dabei produzierten Sauerstoff an der Wasseroberfläche halten. Aber irgendwann sind sie auch von ihren Nährstoffreservoir im Eis abgeschnitten und sinken ab wo sie dann – wie von den AWI-Forschern beobachtet – zum Beispiel von Seegurken gefressen werden können, die sich über den unerwarteten Snack in 4000 Metern Tiefe freuen.
Auch der Salzgehalt spielt eine Rolle und auch der wird durch Eisschmelze verändert. In Experimenten hat man das Verhalten der Eisalgen schon ausführlich untersucht und herausgefunden, wie sie auf Veränderungen in ihrer Umgebung reagieren. Wie es in der Realität aussieht, weiß man dagegen noch kaum. Feldforschung in der Arktis ist schwierig und vor allem dann, wenn sie unter Wasser stattfinden soll. Es gibt ja auch kaum Langzeitdaten über die Veränderungen des Eis; über die Menge der Algenarten und ihre Veränderung im Laufe der Zeit. Wälder und Wiesen und normale Meeresalgen kann man unter Umständen noch von Satelliten aus der Ferne überwachen. Aber die Unterseite der Eisdecke ist vom Weltall aus genau so wenig zu sehen wie von der Erdoberfläche aus. Man muss schon direkt vor Ort sein um konkrete Messungen zu haben und das ist schwierig, teuer und kompliziert. Und lässt eben nur punktuelle Daten zu.
Wer bei Klimawandel nur an uns Menschen denkt und bei Eisschmelze an bröckelnde Gletscher und den steigenden Meeresspiegel, wird das Schicksal der Eisalgen vielleicht im großen Ganzen nicht sehr interessant finden. Aber diese Art der Forschung zeigt uns, das auch ein unscheinbares Stück Natur wie eine Eisscholle in der Arktis die Grundlage eines ganzen Ökosystems sein kann. Eines Ökosystems, dass die Grundlage für eine Reihe anderer Systeme darstellt. Nährstoffe sind Mangelware in der Arktis und die Eisalgen binden einen großen Teil davon. Andere Lebewesen hängen von diesen Nährstoffen ab und und wenn das Eis verschwindet, dann ändert sich das ganze System. Auch wenn diese Art der Grundlagenforschung nicht unmittelbar mit den Konsequenzen des Klimawandels für uns Menschen zu tun hat, ist sie trotzdem genau so wichtig. Erstes, weil es nie gut ist, ein ganzes Forschungsgebiet nur auf ein einziges Thema zu reduzieren. Genau so wie die Exoplanetenforschung mehr als nur die Suche nach Aliens ist oder die Medizin mehr als der Versuch, Krebs zu heilen, sind auch Ökologie und Klimaforschung mehr als die Analyse des menschlichen Einflusses auf die Welt. Und zweitens lohnt sich Grundlagenforschung immer. Nur wenn wir die enorm komplexen Ökosystems in all ihren Auswirkungen verstehen, können wir auch Modelle schaffen, die detailliert genug sind um die Veränderungen des Klimas zu verstehen.
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