Wie man auf die Insel Neuwerk gelangt, wird vom Mond bestimmt. Manchmal liegen die knapp drei Quadratkilometer Land in der Helgoländer Bucht mitten im Ozean. Manchmal sind sie aber auch von trockenem Meeresboden umgeben. Im ersten Fall bleibt einem nichts anderes übrig, als die Reise mit dem Schiff anzutreten. Im zweiten Fall kann man aber zu Fuß bis zur Insel gehen – sofern man dabei nicht vergisst, auf den Mond zu achten! Der interessiert sich nämlich nicht dafür, wer gerade durch das Watt spaziert und wie weit man vom sicheren Land entfernt ist. Er treibt das Meer vorwärts oder zurück und das ohne Rücksicht auf Wanderer, die sich nicht um die Gezeiten gekümmert haben.
“Denn mancher ist hier umgekommen um einer viertel Stunde wegen,
Die er entweder gar zu früh, wie oder etwa auch zu spat,
sich auf den fremden Weg gemacht, wie oder auch verzögert hat.
Indem die wiederkehr’nde Fluhten, mit großer Eile, rückwärts bringen,
Und zwar von Osten und von Westen, was ihnen widersteht, verschlingen.”
Das hat der Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes 1743 geschrieben (“Das Neue-Werk ohnweit Ritzebüttel”). Die Gefahr, von der Flut “verschlungen” zu werden besteht prinzipiell zwar auch heute noch. Aber der Weg durch das Watt wird mittlerweile von vielen Besuchern bevölkert; von Pferdewagen und Reitern und mitten drin kann man sich bei schönem Wetter sogar an einer “Watt-Oase” mit Erfrischungsgetränken stärken. Ebbe und Flut sind noch die gleichen Naturgewalten die sie immer schon waren, aber zumindest hier vor Neuwerk sind sie auch zu einer Touristenattraktion geworden.
Der Wetterdienst und die Behörden des “Nationalpark Wattenmeer” veröffentlichen täglich die exakten Zeiten für Hoch- und Niedrigwasser in der Deutschen Bucht. Und der Weg zwischen Neuwerk und der knapp 10 Kilometer entfernten Küste in Cuxhaven ist durch Pricken (Bündel aus Ästen) markiert. Denn die Kraft des Mondes ist für die Tiden verantwortlich und sie ist berechenbar, auch wenn die Gezeiten immer noch verwirrend erscheinen können.
“Der Mond zieht das Wasser der Erde an und verursacht so die Flut.” ist eine oft gehörte Erklärung, die plausibel klingt, aber trotzdem falsch ist. Im Schaukasten am Nationalparkhaus auf Neuwerk wird das Niedrigwasser heute für 9:13 am Vormittag und 21:17 am Abend prognostiziert. Und auch zwischen der Flut vergehen im Durchschnitt nur jeweils 12 Stunden und keine 24. Wenn aber der Mond das Wasser der Erde anzieht, dann müsste die Spitze des Flutbergs doch immer genau an dem Punkt des Ozeans zu finden sein, der sich gerade direkt unter unserem Nachbarshimmelkörper befindet. Der Flutberg bleibt, während die Erde sich dreht und erst nach 24 Stunden kommt Neuwerk wieder an seinem Ausgangspunkt an und schiebt sich unter das aufgetürmte Wasser.
Aber die Informationen des Wetterdienstes sind korrekt. Das Watt lag heute bei meinem Morgenspaziergang genau so trocken da, wie ich es 12 Stunden zuvor bei meinem Abendspaziergang vorgefunden haben. Es gibt zwei Flutberge und zweimal Niedrigwasser pro Tag. Denn nicht die Anziehungskraft des Mondes ist es, die für die Gezeiten verantwortlich ist, sondern der Unterschied in seiner Kraft, die an verschiedenen Orten der Erde wirkt. Im Jahr 1687, als der große Leuchtturm auf Neuwerk schon 377 Jahre alt war, hat der ebenfalls große Isaac Newton sein Buch “Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” veröffentlicht und darin erklärt, wie man die Gravitationskraft berechnet. Es kommt auf die Masse der beteiligten Himmelskörper an, aber auch auf ihren Abstand. Je weiter weg, desto schwächer die Kraft.
Der Insel Neuwerk gegenüber auf der anderen Seite des Planeten befindet sich Neuseeland und zwischen den beiden Orten liegen knapp 13.000 Kilometer der Erdkugel. Je nach Tages- oder Nachtzeit ist Neuwerk dem Mond also eben diese 13.000 Kilometer näher oder ferner als Neuseeland. Was für die beiden Inseln in Nordsee und Pazifik gilt, gilt auch für den Rest der Erde: Die Anziehungskraft des Mondes ist an jedem Punkt der Erde unterschiedlich stark und die Differenz zwischen den Anziehungskräften ist es, die für die Gezeiten verantwortlich ist. Befindet sich der Mond gerade direkt über Neuwerk, ist seine Kraft dort am stärksten und vor allem stärker als die Kraft, die er auf den Erdmittelpunkt ausübt. Das Wasser in der Deutschen Bucht wird also stärker angezogen als die Erde darunter und deswegen bildet sich dort ein Flutberg. Das Wasser im Pazifik auf der anderen Seite ist zum gleichen Zeitpunkt weiter vom Mond entfernt als alles andere auf dem Planeten und darum wird hier die Erde regelrecht vom Ozean weg in Richtung Mond gezogen. Aber ob jetzt die Erde vom Wasser weg strebt oder das Wasser sich von der Erde entfernt: Am Ende entstehen zwei Flutberge und dazwischen herrscht Ebbe; zweimal am Tag.
Kommentare (14)