Dieser Gastartikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb. Alle eingereichten Beiträge werden im Lauf des Septembers hier im Blog vorgestellt. Danach werden sie von einer Jury bewertet. Aber auch alle Leserinnen und Leser können mitmachen. Wie ihr eure Wertung abgeben könnt, erfahrt ihr hier.
Dieser Beitrag wurde von Sebastian Kahl eingereicht.
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Seit Jahrzehnten schwirrt in der Öffentlichkeit die Annahme durch die Sphären, dass wir nur zehn Prozent unseres Hirns nutzen. Diese Annahme hält sich wacker gegen alle Aufklärungsversuche – auch weil diese wohl nicht die Reichweite erreichen, wie dieses ursprüngliche Hirngespinst. Diese Annahme führt zu Skurilitäten, wie den aktuell in den Kinos anlaufenden Film “Lucy”, mit Scarlett Johansson und Morgan Freeman. Auf den Filmplaketen zum Film prangert groß die Frage: “Was wäre wenn wir 100% unseres Gehirns nutzen könnten?” Im [Trailer][1] zum Film wird die Frage damit beanwortet, dass Lucys Körper unfreiwillig mit einer Substanz in Kontakt kommt, die ihr nach und nach mehr als die gewöhnlichen 10% ihres Gehirns zugänglich macht. Dadurch erlangt sie übermenschliche Fähigkeiten, die ihr erlauben zunächst nur ihren Körper nahezu perfekt zu koordinieren, wodurch ihr trotz Überzahl ihrer Wächter, die Flucht gelingt. Sie ist auf einmal extrem intelligent, telekinetisch veranlagt und kann alle kabellosen Kommunikationskanäle abhören und gezielt manipulieren. Sie erlangt sogar die Fähigkeit die Pigmentierung ihrer Haare willentlich zu verändern und vieles weiteres.
Woher kommen all die Ideen, die mit einer “Aktivierung” der restlichen 90% des Gehirns assoziiert werden?
Laut [Psiram][2] geht der 10%-Mythos zurück auf den Psychologen William James, der 1908 formulierte: “We are making use of only a small part of our possible mental and physical resources”. Die in unserer Kultur vorhandene und wiederholt beschworene Ansicht (und wohl auch Hoffnung), dass wir Menschen noch sehr viel Potential haben, spielt eventuell auch eine Rolle, die den 10%-Mythos voran getrieben hat. Das Human Potential Movement, das sich Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte geht auch von diesem großen Potential des Menschen aus.
Wie vieles, das im Zusammenhang mit einer Idee des Übermenschlichen die “was wäre wenn” Frage stellt, so kommt es auch hier zu einer Verwurstung von pseudowissenschaftlichen und esoterischen Hirngespinsten. Zum Beispiel gibt es in esoterischen Kreisen die Idee, dass insbesondere Kinder auf dem AD(H)S-Spektrum so genannte [Indigo-Kinder][3] sind. Indigo-Kinder werden als eine nächste Entwicklungsstufe der Menschen oft förmlich herbeigewünscht, was sicherlich auch mit einem in Eltern intrinsisch vorhandenen Wunsch danach gekoppelt ist, dass ihr Kind etwas Besonderes ist. Indigo-Kinder sollen sehr sensibel sein für Einflüsse aller Art, höchst intelligent (natürlich) und sollen emotionale Signale ihrer Umwelt nicht gut filtern können (entsprechend ihrer Sensibilität). Da kommt die Idee, dass “normale” Menschen nur 10% ihrer Hirnkapazität nutzen, gerade recht, denn dann kann man ja annehmen, dass Indigo-Kinder, als nächste Entwicklungsstufe der Menschheit, mehr als diese 10% nutzen, wodurch schließlich die erhöhte Sensibilität erklärt wäre (ja genau…). Auch wird in esoterisch angehauchten Kreisen die Frage gestellt, ob bei ihren auf dem AD(H)S Spektrum diagnostizierten Kindern überhaupt eine Therapie angebracht ist, schließlich sind sie ja eventuell Indigo-Kinder. Man würde also der “natürlichen” Entwicklung durch eine Therapie im Wege stehen. Ein Vergleich mit [Impfgegnern][4], ihren fehlerhaften Grundannahmen und davon ausgehenden [naturalistischen Fehlschlüssen][5] ist eventuell auch angebracht.
Es stellt sich mir die Frage, ob mit den 10% die Rechenleistung des Gehirns, also in Analogie mit einem Computer gemeint ist oder vielmehr die Hirnbereiche, die wir bewusst aktivieren können, gemeint sind, so dass bei 100% schließlich das gesamte Gehirn gleichzeitig “aktiv” ist? Generell wird bei dem Mythos davon ausgegangen, dass eine irgendwie geartete Aktivierung der übrigen 90% in übermenschlichen Fähigkeiten resultieren wird. Je nach Geschmack ist das darin begründet, dass entweder ein kleines, bisher übersehenes, sonst niemals aktives Hirnareal plötzlich aktiv wird und damit die besonderen Fähigkeiten, wie Telekinese, Gedankenlesen (you name it…) eben auch. Oder es wird eben statt, dass das Gehirn die ganze Zeit auf Sparflamme läuft, auf einmal das gesamte Gehirn aktiv und dadurch alles, was der Mensch bisher an kognitiven Fähigkeiten hat auf einmal *drölfzig* mal besser. Ideen der Auswirkungen auf den Menschen und die Gesellschaft, die durch so eine “Aktivierung” geschehen würden, gibt es jedenfalls zuhauf in allen Medienformen.
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