Dieser Gastartikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb. Alle eingereichten Beiträge werden im Lauf des Septembers hier im Blog vorgestellt. Danach werden sie von einer Jury bewertet. Aber auch alle Leserinnen und Leser können mitmachen. Wie ihr eure Wertung abgeben könnt, erfahrt ihr hier.
Dieser Beitrag wurde von Marcus Döpel eingereicht.
———————————————————————————————————————–
Laut erklingt der Türgong an jener Tür im zweiten. Ich erscheine unangemeldet. Das ist kein Problem. Ich weiß, dass der Kerl hinter dieser schweren Sicherheitstür zuhause sein wird. Gewissenhaft lautlos verdunkelt sich kurz der Türspion. Die Tür öffnet sich. Vor mir steht Chris, gibt mir die Hand und bittet mich herein, bevor er zügig wieder die Tür hinter uns schließt. Die Nachbarn sollen nicht den süßlichen Geruch bemerken, der aus seiner Wohnung dringt. Wenn ich ihn in seiner stets ordentlichen Einraumwohnung in Winzerla besuche, ist das einer der wenigen Momente, in denen man Freude in seinen roten Augen erkennen kann. Die Fenster sind zugehangen und der flüchtige Besucher bemerkt auch nicht den Balkon dahinter, auf dem er seit Jahren nicht mehr gewesen ist. Ich weiß das, denn ich kenne Chris bereits viele Jahre. Daher scheut er sich auch nicht, mir etwas Haschisch anzubieten, bevor er selbiges zu sich nimmt. Ich lehne wie immer dankend ab. Er sagt immer, er kifft selten und in Maßen. Auch mit den chemischen Drogen hätte er es nicht mehr so: „Die machen paranoid. Sieh Dir nur an, was aus jenem und welchem geworden ist“. „Aber Pilze“, so sagt er, „Die sind Ok. Die sind natürlich“. Er fragt mich, was es Neues gibt, da draußen, hinter der Tür. Er hat es vor Jahren aufgegeben, selbst nachzuschauen.
Dafür hat er es sich aber sehr wohnlich gemacht: schöne Couch, großer Fernseher, alles hat seinen angestammten Platz auf dem Tisch. Einer Freundin würde diese Ordnung bestimmt gefallen. Leider habe ich hier noch nie eine gesehen. Wie denn auch? 365 Tage im Jahr sieht man abends das Kunstlicht aus seinem Fenster schimmern. Er verlässt die Wohnung nur, um das Notwendigste zu besorgen. Dabei brauchte er sich nicht zu verstecken. Er wirkt auf den ersten Blick wie jeder andere, den ich kenne und schätze. Vielleicht nicht ganz so direkt, oder zielstrebig, aber durchaus sympathisch und herzlich. Chris ist jemand, den die meisten Fachärzte wohl kühl und sachlich als Sozialphobiker bezeichnen würden. Als jemanden, der Angst davor hat, mit Menschen zusammen zu sein. Die Japaner treffen es mit ihrem Begriff „Hikikomori“ (zu dt. sich verschließen) etwas genauer. In Japan soll es, glaubt man den Angaben der Psychologen, etwa eine Million dieser verschwundenen Menschen geben. Deutsche Statistiken hierzu gibt es noch nicht. Jedoch sollen nach neueren Schätzungen ungefähr zehn Prozent der Bundesbürger von sozialen Ängsten geplagt sein.
Chris spricht nicht über Ängste. Wenn ihn etwas empört, dann sagt er: „Es ist halt so. Was will man machen?“. Er bäumt sich nicht auf, in einer Welt, von der er glaubt, dass seine Stimme nicht zählt. „In der Welt da draußen, mit ihrem Leistungsdruck.“ Es scheint, als habe er sich irgendwann dazu entschlossen, sich keine Gedanken mehr zu machen. Ob das ein Resultat seiner langjährigen Drogenkarriere ist, oder Einstellungssache, lässt sich schwer sagen. Aber er scheint damit überaus zufrieden zu sein. Man vermisst nichts, was man nicht kennengelernt hat. Der Umgang mit ihm erfordert manches Mal einiges an Geduld. Wenn er da so sitzt und für jeden Wochentag das Fernsehprogramm punktgenau aufzuzählen weiß und dennoch behauptet: „Es kommt nur Mist in der Glotze, deswegen schaue ich nicht so oft“, dann schaltet er seine Videospielkonsole ein und taucht ab in die virtuelle Welt. Vorher kifft er natürlich ordentlich, damit die Illusion größer ausfällt. Dann spielt er mit seinen Lieblingsmannschaften Fußball, erschlägt die Bösen und rettet die bunte Welt.
Kommentare (13)