Als man ihn wieder vernehmen wollte, fand man ihn halbtot. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Krankenhaus kam er ins Zuchthaus Brandenburg, 1934 dann ins Moorlager im Emsland und kurz darauf ins Zuchthaus Lichtenburg. Dort blieb er ungefähr drei Jahre und fand, schwer verkrüppelt, in der Buchbinderei etwas Ruhe, indem er sich der mittelalterlichen Literatur und der Weiterbildung seiner Mithäftlinge widmete. Diese schätzten ihn auch wegen seinem Mut, seiner inneren Stärke und seines ungebrochenen Geistes. Ein Beweis dafür ist, dass er bei einem Nazifest vor seinen Bewachern das revolutionäre Gedicht „Die Gedanken sind frei“ rezitierte, und er hatte viel Glück, dass keine der Wachen den Inhalt vollends begriff.
Im Sommer wurde er zum KZ Buchenwald verlegt. Es war ein kurzer Aufenthalt, den schon im Oktober 1937 wurde er ins KZ Dachau eingeliefert. Er gelangte in den berüchtigten Judenblock, wo man ihn in den Selbstmord treiben sollte.
„Wegen Verbreitung von Greuelnachrichten über das Konzentrationslager Dachau durch die Juden im Ausland werden wir hier isoliert und haben bis auf weiteres Postsperre. Hans Litten.“ Diesen Brief musste Litten, wie alle Häftlinge Ende 1937 nach Hause schreiben.
Nach fünf Jahren hatte Litten keine Kraft mehr. In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1938 wurde er von Mithäftlingen erhängt aufgefunden. Seine Mutter erfuhr erst Monate später von Mitgefangenen davon, die jedoch aufgrund von Drohungen nicht vom ganzen Terror berichten durften. Littens Freund Alfred Dreifuß berichtete:
„Einen kleinen Zettel hinterließ er, nur ein paar Worte des Abschieds und der Versicherung, daß er aus eigenem Entschluss in den Tod gegangen wäre …”
Litten wurde fünf Jahre lang in verschiedenen KZs in den Tod getrieben; genauso lang kämpfte er für eine gerechte Behandlung der Arbeiter und gegen den faschistischen Terror. Sein Kampf war genauso erbarmungslos, wie er gegenüber sich selbst. Er ist ein herausragendes Beispiel für eine andere Art der Juristen der Weimarer Zeit, die nicht nur klug und vorteilhaft zu argumentieren wussten, sondern sich auch in der Tradition der abendländisch–christlichen Werte der Freiheit und Gerechtigkeit sahen.
Schamhaftes und ideologisches Schweigen in der BRD
Bei einem so vorbildlichen Leben, wie es Hans Litten führte, scheint es eklatant, dass es bis zur Wiedervereinigung kaum brauchbare Biographien aus Westdeutschland gab. Schließlich gab es ja auch Werke aus dem Ausland, von der DDR ganz zu schweigen. Daraus wird, wie bereits oben erwähnt, auch ersichtlich, dass es nicht an einem Mangel an Material liegen kann, ansonsten müsste es ja überhaupt keine Biographien von ihm geben. Irgendetwas musste Autoren und Verlage, Historiker und Juristen davon abgehalten haben, über ihn zu berichten.
Der einzig sinnvolle Bereich, in dem es zu suchen gilt, um die gegen null tendierende Rezeption Littens in Westdeutschland zu erklären, ist eine andere Mentalität in der Bundesrepublik als in der DDR.
Deshalb ist es sinnvoll zu betrachten, als wer Hans Litten innerhalb Westdeutschlands galt.
Denn wer damals seinen Namen hörte, assoziierte nicht Begriffe wie Gerechtigkeit und Mut, sondern Kommunismus und Klassenkampf. Litten wurde vor allem als ein proletarischer Anwalt gesehen, was fälschlicherweise mit einer kommunistischen Überzeugung gleichgesetzt wurde. Gerade für die neu gegründete Bundesrepublik war das ein Problem. Denn wie sollte sich eine neugeborene juristische Tradition auf einen Mann berufen, der angeblich politisch der größten existenzbedrohenden Gefahr des jungen Deutschland nahestand?
Schließlich lief doch der westliche Teil Deutschlands jederzeit Gefahr, genauso wie Ostdeutschland von der Sowjetunion überrollt zu werden. Denn diese war nicht nur militärisch zu den NATO-Staaten, zu denen die BRD auch später zählen sollte, ein Konkurrent, sondern auch ideologisch, was Westdeutschland mit einem deutschen Gegenmodell im Besonderen zu spüren bekam. Ein weiteres wichtiges Element ist aber auch die Konzeption der BRD als ein antiautoritärer Staat, was nicht nur Antifaschismus, sondern auch Antikommunismus bedeutet. Besonders der Konservatismus, der nach dem Dritten Reich seine traditionellen Vorbehalte gegenüber der Demokratie, seinen Nationalismus und seine Nähe zum Sozialismus aufgeben musste, fand im Antikommunismus ideologischen Ersatz für diese politischen Konzepte. Geteilt wurde dies auch von der SPD. Bereits 1930 bezeichnete Kurt Schumacher Kommunisten als „Rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten” (Scholz, Günther: Kurt Schumacher, Ullstein, 1990, S. 68) und als „stehenden Heere der sowjetischen Außenpolitik”(?Albrecht, Willy?:? Kurt Schumacher?, ?Dietz Nachf., 1985, S. 25). Dies wurde durch die Auflösung der Ost-SPD in der SED noch verstärkt.
Folge waren zahlreiche Verbote von kommunistischen Organisationen und unzählige Verfahren gegen des Kommunismus bezichtigte Personen geführt. Von 1951-58 waren die Urteile gegen Kommunisten fast siebenmal so hoch wie gegen NS-Täter.
Angesichts dieser Situation war eine Zurückhaltung gegenüber der Beschäftigung mit Hans Litten nicht verwunderlich, wollte doch niemand in den Verdacht geraten, sich mit einer Leitfigur des Marxismus in Deutschland zu beschäftigen oder gar ein Anhänger desselben zu sein.
Diese Interpretation des Lebens Littens ist natürlich falsch. Schließlich war er persönlich unpolitisch, nie Anhänger einer Partei, erst recht nicht der 1956 verbotenen KPD, von der er sich links stehend betrachtete. Er war eher Anarchist, jedoch gleichzeitig auch Pazifist. Ihn als kommunistisch zu bezeichnen schließt auf inakzeptables Missverständnis oder gar Vorurteil, hauptsächlich entstanden aus seinem Engagement für die „Rote Hilfe“, die ihn jedoch letztendlich auch nicht mehr für Prozesse einsetzte, da ihr Verurteilungen der Arbeiter und so entstehende Märtyrer lieber waren und die seinen Vorbehalt gegenüber der KPD kritisierte.
Doch selbst wenn dies erkannt wurde, war eine Beschäftigung mit Litten auch aufgrund der ausschließlichen Inanspruchnahme des „Littenerbes“ seitens der DDR problematisch, obwohl Littens juristische Erfolge genau genommen in Westberlin stattfanden.
Ein weiterer Punkt ist die Wahrnehmung Littens als Opfer des Dritten Reiches, und dies in mehrfacher Hinsicht. Einerseits ist es möglich ihn als gescheiterten Widerständler, als politisches Opfer und als Opfer des Holocausts (er war schließlich Halbjude) zu sehen.
Damit steht Hans Litten auch im Kontext der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschlands.
Vor allem Historiker versuchten, die deutsche Geschichte nicht zu „verdunkeln“, aber auch auf die gute deutsche Tradition vor Hitler hinzuweisen. Litten stellt dabei ein Brückenelement dar, da sein Handeln zwischen den Zeiten steht, was eine Beschäftigung problematisch macht.
Noch komplizierter war jedoch die Situation der Gesellschaft in der jungen Republik. In der Öffentlichkeit herrschte Schweigen über das Dritte Reich, eine Person wie Litten würde nur provozieren, ist er doch ein Symbol für den Holocaust, das Scheitern der Demokratie und das Schweigen in Anbetracht von Verbrechen und Ungerechtigkeit. Außerdem war man bestrebt angesichts des Kalten Krieges eine gesellschaftliche Umwälzung zu vermeiden und strebte eine Politik der Integration ehemaliger NS-Funktionseliten an. Damit begann auch der Versuch einer Rechtfertigung und des allgemeinen Willens, sich von jeglicher Schuld zu befreien. Hans Littens Schicksal würde diese Politik infrage stellen. Erst nach 1968 kam eine Welle der Aufarbeitung wirklich ins Rollen, doch bereits zu lange wurde über Litten geschwiegen, sodass sich an dieser Situation bis zu den 80er nur wenig ändern sollte. Zusätzlich erinnerten seine jüdischen Wurzeln noch immer unangenehm an den deutschen Völkermord, sodass man sein Wirken und seine Werte auf christlichen Humanismus zurückführen wollte, was das unangenehme Thema umschiffen sollte.
Man ignorierte diesen faszinierenden Menschen also, weil er symbolhaft für das deutsche Trauma des Scheiterns der Demokratie, der Grausamkeit der Hitlerdiktatur, der Spaltung Deutschlands zwischen den Nachkriegsideologien und der politischen Bedrohung durch den Kommunismus stand.
Erst kurz vor der Wiedervereinigung sollte Litten nicht mehr als Kommunist und Symbol für Scham, Nazivergangenheit und Scheitern der ersten Demokratie auf deutschen Boden gelten, sondern zum Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit werden, was zu ersten Auseinandersetzungen mit ihm führte.
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