Der irische Nationalismus entwickelte sich unter ganz anderen Voraussetzungen und nahm andere Ausprägungen an. Ein offensichtliches Ergebnis der Entwicklung ist, dass der Begriff des Nationalismus’ in Irland durchweg positiv besetzt ist. Die Republik Irland ist eine Nation aus eigener Kraft, eine Gründung von unten. Das bedeutet allerdings nicht, dass es auf der Insel eine überragende Mehrheit für die irische Einheit gäbe. Tatsächlich zeigen sich bei Umfragen differenzierende Ansichten. Dieses Bild entspricht der Vielfalt der Wege, die der irische Nationalismus genommen hat. Er rezipiert europäische Entwicklungen und Ereignisse wie beispielsweise die Französische Revolution. Aufklärerische Ideen wie Freiheit und Gleicheit finden sich in ihm genauso wie die Interpretation der nationalen Frage als Klassenfrage oder Fragen der Besitzverteilung und der Landreform. Er nimmt Bezug auf Religion, die gälische Sprache und Kultur. Der katholische Nationalismus trat dabei nicht einheitlich auf. Die katholische Kirche beispielsweise störte sich häufig an säkularen republikanischen Bestrebungen und zeigte zuweilen eine Abneigung gegen allzu rebellisches Gedankengut. Der Nationalismus ist zudem beeinflusst von der engen Verwobenheit und dem Austausch mit der englischen Kultur und von der Erfahrung der Herrschaft einer fremden Macht. Er ist geprägt vom Ausschluss von politischer und wirtschaftlicher Macht, der sich in Irland an den Konfessionsgrenzen festmachte. Dabei ging es nicht allein um den katholisch-protestantischen Gegensatz. Zum exklusiven Kreis der herrschenden Schicht in Irland gehörte vielmehr ursprünglich die anglikanische Protestant Ascendancy, die andere protestantische Konfessionen wie auch nicht-christliche Religionen von Mitsprache und Herrschaft ausschloss. Im 20. Jahrhundert sollte sich schließlich in Nordirland mit dem Loyalismus ein spezifisch protestantischer Nationalismus entwickeln, der in der öffentlichen Wahrnehmung unter anderem durch seine Märsche ins Bewusstsein gekommen ist. Trotz der Prominenz der Religion dürfen die Konflikte nicht als Religionskonflikte verstanden werden. Vielmehr dient die Religion gewissermaßen als Transmissionsriemen für eine Vielzahl unterschiedlicher Konflikte.
Wie das Verhältnis zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich sein sollte und mit welchen Mitteln die Auseinandersetzung darüber geführt werden sollte, darüber herrschte keine Einigkeit. Genauso wenig über die Definition, was denn nun eigentlich die irische Identität sei. Einen grundsätzlichen Widerstreit gab es zwischen gewaltfreien Strategien, die sich an konstitutionelle Regeln halten wollten, und Gewaltstrategien, die ihre Legitimation aus der Behauptung oder Befürchtung der Fremdherrschaft, Besatzung und der Unterdrückung zogen. Schon früh wurde die irische Identität nicht notwendigerweise ausschließlich als katholisch gesehen. Im 18. Jahrhundert etwa artikulierten protestantische Iren die Idee einer Nation, die frei sein sollte von englischem Einfluss, aber die katholische Mehrheit nicht miteinbezog. Freilich erreichte die katholische Frage ebenfalls im selben Jahrhundert eine solche Bedeutung, dass sie zum bestimmenden Konflikt auf der Insel wurde und bis heute einer endgültigen Antwort harrt. Tatsächlich sorgten Gesetze für den Ausschluss der Katholiken von der politischen und wirtschaftlichen Macht, während sie die Protestanten, inbesondere deren herrschende Schicht, bevorzugten. Auch wenn die gesetzmäßige Diskriminierung der Katholiken bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem großen Teil aufgehoben wurde, war die volle bürgerliche Gleichberechtigung der Katholiken bei Weitem noch nicht erreicht. Mehrere Gruppen nahmen sich des irisch-englischen und inneririscher Gegensätze an: Die 1791 gegründete Society of United Irishmen mit einem ihrer prominentesten Mitglieder, dem Protestanten Theobald Wolf Tone, strebte anfangs beispielsweise eine republikanische Staatsform über die konfessionellen Grenzen hinweg an. Wie fließend die Grenzen zwischen Konstitutionalismus und revolutionärer Gewalt waren, zeigte das verbleibende Jahrzehnt. Der Gegensatz zwischen Irland und Großbritannien führte zur Radikalisierung auf beiden Seiten und zur – allerdings unkoordinierten und erfolglosen – Irischen Rebellion 1798.
Die Rebellion war mit ausschlaggebend dafür, dass die bis dahin erreichte Selbstverwaltung Irlands zu einem Ende kam. In den Acts of Union 1800 beschlossen die Parlamente beider Inseln die Einheit im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland. Iren erhielten nun Sitze im Westminsterparlament. Damit war wieder ein parlamentarischer, gewaltfreier Weg vorgezeichnet, mit dem alle Seiten unterschiedliche Hoffungen verbanden. Die Briten erwarteten sich einen Gewinn an Sicherheit und eine Stärkung des Empire, wenn den irischen Katholiken erst Mitsprache in Westminster gewährt würde. Die Katholiken in Irland, zumindest die führenden Katholiken, dagegen gingen davon aus, dass die Union die katholische Emanzipation entscheidend voranbringen würde. Daniel O’Connell erwies sich als prominenteste Figur der katholischen Reformisten. Mit seiner Catholic Association führte er das Element der Massenmobilisierung in die irische Politik ein. Mit Erfolg: 1829 erlaubte der Catholic Relief Act es den Katholiken erstmals, für Sitze im Parlament und fast alle öffentlichen Ämter zu kandidieren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte sich dennoch die Einstellung der Iren zur Union. Während für Katholiken der nächste Schritt die Auflösung der Union war, wurden die Protestanten zu Unionisten. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatten sich so die Konfliktlinien in Irland ausgeprägt, die im 20. und 21. auch noch bestimmend sein sollten. Der irische Nationalismus war katholisch geworden. War O’Connell’s Nationalismus eher pragmatischer Natur, hingen viele seiner Mitstreiter in der Young Ireland-Bewegung einem kulturellen Nationalismus an, der die Bedeutung von Sprache, Geschichte und Kultur erhöhte. Die Bewegung brachte auch Gewalt und die Drohung mit Gewalt als legitimes Mittel ins Spiel und nahm ein Motiv vorweg, das IRA im 20. Jahrhundert ebenfalls aufnehmen sollte. Gefängisaufenthalte, wie etwa nach der (erfolglosen) Rebellion 1848, sollten Märtyrer hervorbringen und Sympathien für die eigene Sache erzeugen.
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