Dieser Gastartikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb. Alle eingereichten Beiträge werden im Lauf des Septembers hier im Blog vorgestellt. Danach werden sie von einer Jury bewertet. Aber auch alle Leserinnen und Leser können mitmachen. Wie ihr eure Wertung abgeben könnt, erfahrt ihr hier.

sb-wettbewerb

Dieser Beitrag wurde von Lisa Leander eingereicht.
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Die Grenzen des Irrtums
Ein Wissenschaftler veröffentlicht seine Resultate, ein anderer geht derselben Fragestellung nach und kommt auf ein anderes Ergebnis. Was ist passiert? Im besten Falle führt der Widerspruch dazu, dass sie das Problem ganz neu betrachten und auf eine tieferliegende, bisher unbekannte Ursache stoßen. Doch Forscher können auch einfach falsch liegen mit ihrer Interpretation. So ist es wohl kürzlich beim Bicep2-Experiment geschehen, das mit dem Nachweis von Gravitationswellen Schlagzeilen machte. Drei Monate später war das Team mit seinen Schlussfolgerungen deutlich vorsichtiger, weil Fachkollegen Zweifel angemeldet hatten.

Bicep2-Teleskop in der Antarktis (Quelle: Steffen Richter, Harvard University, Lizenz gemäß den Bedingungen der Quelle)

Bicep2-Teleskop in der Antarktis (Quelle: Steffen Richter, Harvard University, Lizenz gemäß den Bedingungen der Quelle)

Zugegeben, es hat schon spektakulärere Fehleinschätzungen gegeben. Doch das Beispiel illustriert etwas, das mehrere große Wissenschaftsakademien in Deutschland in ihrer Stellungnahme „Zur Gestaltung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien“ beschrieben haben. Einige meiner Kollegen aus der Wissenschaftskommunikation haben das Thema schon intensiv diskutiert, allerdings möchte ich an dieser Stelle nur auf einen Punkt hinaus. In der Stellungnahme heißt es, dass sich die Berichterstattung zunehmend auf cutting edge research konzentriere, also auf brandneue Ergebnisse, die in Expertenkreisen noch diskutiert werden. Deswegen kommen Nachkorrekturen häufiger vor, als wenn nur über mehrfach abgesichertes Wissen gesprochen wird. Wir sind heute sozusagen viel näher am Puls der Forschung, als wir es früher waren. Allerdings hat diese Entwicklung einen unangenehmen Nebeneffekt: Sie ist einer der Gründe, warum Experten aus der Wissenschaft in der Öffentlichkeit als weniger glaubwürdig wahrgenommen werden.

Keine Regeln? Doch.
Natürlich spielen beim Verlust der Glaubwürdigkeit weitere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel wenn Wissenschaftler in wirtschaftliche oder politische Interessenskonflikte verstrickt sind. Aber es bleibt das Problem, dass einige Menschen die Zweifel an einzelnen Aussagen auf ganze Fachgebiete, wenn nicht sogar auf die gesamte forschende Zunft beziehen. Nach dem Motto: „Es gibt so viel, was wir noch nicht verstanden haben, die Wissenschaftler finden bald wieder was ganz anderes heraus.“ Oder anders ausgedrückt, bezogen auf die Physik:

„Allzu häufig verwechselt man sich entwickelndes naturwissenschaftliches Wissen mit überhaupt keinem Wissen und hält eine Situation, in der wir neue physikalische Gesetze entdecken, für das völlige Fehlen zuverlässiger Regeln.“

Das Zitat stammt aus dem Buch „Die Vermessung des Universums“ der theoretischen Physikerin Lisa Randall (Fischer Taschenbuch 2013, S. 24). Was mir an Randall gefällt – außer dass wir den gleichen Vornamen haben und sie gute populärwissenschaftliche Bücher schreibt – ist ihr Versuch, das richtige Verständnis von Wissenschaft zu vermitteln. Obwohl Erkenntnisgewinn ein dynamischer Prozess ist, sollten wir öfter darüber sprechen, welches Wissen wir bereits haben, auf das wir uns verlassen können. Es geht also nicht darum, ob Wissenschaftler irren können. Es geht darum, in welchem Rahmen.

Ganz nah und ganz weit
Randall erläutert das anhand der Quantenmechanik, die immer wieder Aufsehen erregt mit fast wundersam anmutenden Entdeckungen. Könnte es also nicht sein, dass sich durch die Phänomene aus dem rätselhaften „Land der Quanten“ Unbestimmtheiten in unsere sichtbare Welt einschleichen? Schließlich stößt man doch immer wieder auf so vieles, das man vorher nicht erwartet hat, oder? Die Antwort von Randall ist klar: Nein. Denn die Quantenmechanik, so stellt sie fest, gilt nur auf atomaren Größenskalen, ein Einfluss auf Alltagsphänomene ist ausgeschlossen. Dafür sind die physikalischen Gesetze, die bei Maßstäben herrschen, wie wir sie kennen, viel zu gut untersucht. Ähnlich sieht es bei verborgenen Extradimensionen aus, an denen Randall selbst forscht: Würden sie Größen beeinflussen, die sich heute bereits beobachten lassen, denn müssten Physiker nicht mehr nach ihnen suchen ­– sie hätten die zusätzlichen Dimensionen längst entdeckt. Das illustriert dieser Comic sehr schön, der ebenfalls in „Die Vermessung des Universums“ vorkommt:

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Kommentare (15)

  1. #1 Microfilosof
    22. September 2014

    Sehr schön und verständlich. Besonders diese Aussage hat mir gefallen: “Obwohl Erkenntnisgewinn ein dynamischer Prozess ist, sollten wir öfter darüber sprechen, welches Wissen wir bereits haben, auf das wir uns verlassen können.” So wäre man viel schneller an den gewünschten Informationen. Ein Problem dabei wäre: wo soll das gelagert werden und wie kommt schnell dazu?

  2. #2 Pterry
    22. September 2014

    Vielen Dank für diesen schönen Text. Ich würde mir wünschen, dass du damit weitermachst und vielleicht ein eigenes Blog einrichtest.

  3. #3 Alderamin
    22. September 2014

    Sehr professionell gemacht, mit Multimedia, Links, der richtigen Länge. Sehr schön.

    Ganz aktuell zu BICEP2. 🙁

  4. #4 Matthias Friedmann
    22. September 2014

    Das Zitat – hervorgehoben in Zitat #1 – erinnert mich an den Titel eines Aufsatzes: “Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein”.

  5. #5 Lisa Leander
    22. September 2014

    @Microfilosof: Puh, bis hin zu einer “Lagerung” des Wissens hatte ich noch gar nicht gedacht. Allerdings geht es ja nicht nur darum, z.B. die Gesetze der klassischen Physik zu kennen, sondern zu wissen, wann sie anwendbar sind und wann nicht (siehe Quantenmechanik). Solche Einordnungen zu sammeln/bündeln, wäre natürlich spannend.
    Danke für das Lob und den aktuellen Link!

  6. #6 Florian Freistetter
    22. September 2014

    Finde den Artikel auch sehr schön (einer der wenigen Artikel, bei dem man sich Gedanken um die Bebilderung gemacht hat! Das kommt leider viel zu selten vor). Dass gerade heute die Planck-Ergebnisse veröffentlicht worden sind, war aber Zufall; den Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Blogbeitrags habe ich schon Anfang September festgelegt…

  7. #7 Dampier
    22. September 2014

    Das ist mal ein klassischer Blogartikel, gut geschrieben, schön bebildert, sauber verlinkt, und einen interessanten Aspekt als Thema herausgepickt und aus einer eigenen Warte beleuchtet.

    In der Stellungnahme heißt es, dass sich die Berichterstattung zunehmend auf cutting edge research konzentriere, also auf brandneue Ergebnisse, die in Expertenkreisen noch diskutiert werden. Deswegen kommen Nachkorrekturen häufiger vor, als wenn nur über mehrfach abgesichertes Wissen gesprochen wird. Wir sind heute sozusagen viel näher am Puls der Forschung, als wir es früher waren. Allerdings hat diese Entwicklung einen unangenehmen Nebeneffekt: Sie ist einer der Gründe, warum Experten aus der Wissenschaft in der Öffentlichkeit als weniger glaubwürdig wahrgenommen werden.

    Gut beschrieben. Eine Erkenntnis, die ich mitnehme.

    Bist du Bloggerin, @Lisa Leander?

    grz
    Dampier

  8. #8 Florian Freistetter
    22. September 2014

    Übrigens: Der BICEP-Artikel wurde ja heftig kritisiert, weil er vorab bei arXiv veröffentlicht wurde, ohne peer-review. Der heute bei arXiv veröffentlichte Planck-Artikel ist allerdings auch (noch) nicht peer-reviewed…

  9. #9 ceeJay
    Wien
    22. September 2014

    Gratuliere dir zu diesem überaus gelungenen Artikel. Ein sehr aktuelles Thema finde ich, über das wir uns oft zu wenig Gedanken machen. Es macht Lust mehr über das Thema zu lesen. Vielleicht magst du mehr in einem Blog schreiben. Ich freu mich schon auf die nächsten Beiträge und danke für die tolle Idee dieses Schreibwettbewerbes. Liebe Grüsse ceeJay von ftiremixed

  10. #10 PDP10
    22. September 2014

    @Florian:

    “Übrigens: Der BICEP-Artikel wurde ja heftig kritisiert, weil er vorab bei arXiv veröffentlicht wurde, [..]”

    Ich verstehe immer noch nicht so ganz, wo da das Problem sein soll – bzw, warum daraus manche Leute unbedingt ein Problem machen wollen …

    Es kann doch nur besser sein, einen Artikel vorab zu veröffentlichen um ihn in einer grösseren Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Das schliesst eine Peer-Review ja gar nicht aus.
    Und soweit ich das verstanden habe, werden die korrigierten Artikel – sofern die Reviewer Korrekturen anmahnen – dann auch auf Arxiv veröffentlicht.
    Und eventuell in einem Journal.

    Besser kanns doch eigentlich gar nicht sein ….

    Ich glaube, die Diskussionen darum rühren vor allem daher, dass viele Leute im etablierten Wissenschaftsbetrieb angst haben, dass eine Veröffentlichung in einem der “grossen” Journals über diese Prozedur an “Wert” verliert.

    Wobei natürlich jeder weiss, dass vor allem die Leute da zur Veröffentlichung angenommen werden, die da schon mal veröffentlicht haben … oft ungeachtet der Qualität ihrer Arbeiten.

    Könnte ja passieren, dass sich die Qualität einer Veröffentlichung plötzlich nicht mehr am Journal misst in dem sie veröffentlicht wurde – sondern am Inhalt.

    Na sowas aber auch. Der Untergang des Abendlandes ist wieder mal nah!

  11. #11 PDP10
    22. September 2014

    Eigentlich wollte ich aber was zum Artikel sagen:

    Sehr schön und erhellend.
    Besonders die gut verständliche Klarstellung des Unterschieds zwischen “Wissenschaftler wissen ja eigentlich auch nicht bescheid” und der Art wie fragil und aufwendig der Prozess des Erkenntnisgewinns in der Naturwissenschaft nun mal ist.

    Und da im Artikel auch schon Sibylle Anderl erwähnt wurde:
    Sie hat vor ein Paar Tagen im besagten Planckton-Blog bei der FAZ einen sehr guten Artikel zum Themenkomplex Wissenschaftsvermittlung durch Jorunalisten, Veröffentlichungswahnsinn usw. geschrieben:

    https://blogs.faz.net/planckton/2014/09/19/wissenschaftsjournalismus-als-herausforderung-1094/

  12. #12 Lisa Leander
    23. September 2014

    @Dampier: Ich konnte bei einem anderen Blogprojekt schonmal üben, aber zum Thema Wissenschaft war es das erste Mal.
    @PDP10: Ich stimme dir zu, dass Veröffentlichungen vorab bei arXiv auch ihre Berechtigung haben. Generell sollten zumindest die Forscher selbst ihre Ergebnisse auf Schwachstellen abgeklopft haben, bevor sie überhaupt damit an die Öffentlichkeit gehen.

  13. #13 Florian Freistetter
    23. September 2014

    @pdp10 ich hab kein Problem mit Vorabveröffentlichungen bei arxiv. Ich wollte nur darauf hinweisen dass die Kritiker sich damals alle schrecklich aufgeregt haben, weil bicep nicht aufs Review gewartet hat. Aber jetzt anscheinend niemand ein Problem mit dem nicht reviewten paper von planck hat, obwohl die Ergebnisse dort theoretisch im Review auch noch modifiziert werden könnten…

  14. #14 PDP10
    23. September 2014

    @Florian:

    Das weiss ich.
    Mein Posting bezog sich auch nicht auf das von dir geschriebene, sondern auf das merkwürdige Gewese dass um die Vorabveröffentlichung gemacht wurde …

  15. #15 Sebastian Kahl
    24. September 2014

    Ein richtig gut geschriebener Artikel mit Bildern und Video! 😀
    Ich mag, wie du eines der Probleme der Wissenschaftskommunikation aufgreifst. Wissenschaftler können sich eben auch gerne mal durch ihre Lieblingsinterpretation in die Irre führen lassen und da die Öffentlichkeit heute viel schneller von neuen Erkenntnissen Wind bekommt, wirkt dann so ein Irrtum eben ungeschickt. Dass auch Wissenschaftler sich irren können ist wohl einfach noch nicht in der Öffentlichkeit angekommen, obwohl doch gerade das Eingeständnis eines Fehlers, oder eben das Ablassen von einer Hypothese bei entsprechender Faktenlage, besonders wissenschaftlich ist.