Dieser Gastartikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb. Alle eingereichten Beiträge werden im Lauf des Septembers hier im Blog vorgestellt. Danach werden sie von einer Jury bewertet. Aber auch alle Leserinnen und Leser können mitmachen. Wie ihr eure Wertung abgeben könnt, erfahrt ihr hier.
Dieser Beitrag wurde von MBq eingereicht.
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– Der Makroökonomie-Professor stellt einen Eimer Glasmurmeln auf den Tisch, “das ist der Markt!” sagt er und verläßt den Hörsaal. Die alleingelassenen Studenten sind zunächst verwirrt, dann beginnen sie zu verstehen, ein Rollenspiel will er… die Murmeln sind das Geld… Ware hat jeder dabei, Schokoriegel, Cola. Meinungsführer treten auf, die ersten Anbieter, Nachfrageüberhang, es kommt zum Streit, Mechanismen und Regeln werden erfunden… nach einer Stunde haben sie ohne Anleitung und Vorkenntnisse eine komplette Handelsbörse entwickelt.
Die Selbstorganisation einer Gruppe von völlig fremden Personen ist in der Realwelt selten, höchstens Thema akademischer Rollenspiele – doch im Netz ist sie ein alltägliches Phänomen. Als Jimbo Wales, Mitgründer und Vorstandsvorsitzender der Wikimedia Foundation, seinen ersten Vorschlag zu einer Regeländerung machte [https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Special:Contributions&dir=prev&tagfilter=&contribs=user&target=Jimbo+Wales&namespace=4], bestand die Online-Enzyklopädie schon seit drei Jahren und besaß ausformulierte Prinzipien, Regeln, Hierarchien, Diskussions- und Abstimmungsseiten, und eine interne (“arbitration committee” genannte) Gerichtsbarkeit.
All das war selbstständig, ohne Anweisungen emergiert. Erstaunlicherweise funktioniert es: wir alle hassen es, fremdbestimmt zu werden, aber die graswurzelartig entwickelten Vorschriften und Benutzer-Hierarchien unserer Internet-Gemeinschaft genießen uneingeschränkte Akzeptanz.
Diese Selbstorganisation hat natürlich dieselben Nebenwirkungen wie Wetworld-Demokratien: etwa Regelungswut (unsere Richtlinie “Artikel über Studentenverbindungen” ist sechs Bildschirmseiten lang), ausufernde Diskussionen (die Diskussion [https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Relevanzkriterien] zu unseren Kriterien, ob ein Gegenstand bedeutsam genug ist, um eingetragen zu werden, umfasst neben der aktuellen Seite 109 Archivseiten, die durch ein eigenes Register erschlossen sind), und Konservativismus (die meisten deutschsprachigen Autoren benutzen noch immer die alte “Monobook”-Oberfläche, obwohl für die Leser schon seit 2010 der moderner anmutende “Vector”-Skin Standard ist). Gelegentlich bildet sie auch ziemlich skurrile Blüten. Manche Konflikte wirken auf Außenstehende geradezu bizarr, etwa die Donauturm-Affäre 2010 [https://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,689588,00.html SPON: “im Innern des Weltwissens”] oder der gegenwärtig noch andauernden Kreuz-Stern-Auseinandersetzungen [https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meinungsbilder/MB_Verbindlichkeit_genealogische_Zeichen]. Doch am Ende raufen wir uns immer wieder zusammen und es verbleibt eine Verbesserung unseres gemeinsamen Produktes: der Artikel, die ihr alle täglich lest.
Ernsthafte Probleme, die die Weiterentwicklung des Projektes gefährden, haben wir immer dann, wenn unsere anarchistische Selbstorganisation auf die klassischen Gesetze der Marktwirtschaft stößt: Eigentum, Rechtsverantwortung, Verfügungsgewalt. Die Grenze zieht sich mitten durch unser Projekt: den etwa 10.000 freiwilligen regelmäßigen Autoren (davon etwa 1000 deutschsprachig) stehen die ungefähr 200 festangestellten Manager, Programmierer und Techniker der Wikimedia Foundation [https://wikimediafoundation.org/wiki/] gegenüber. Die WMF ist eine gemeinnützige Stiftung komplett mit Geschäftsführung, Justitiar, Stiftungsrat und Beirat, Finanzplänen, Jahresberichten… ein Uhrwerk der Effizienz. Außer der Wikipedia in zahllosen Sprachen betreibt die WMF noch viele Nebenprojekte, wie die Mediensammlung Commons, die Datenbank Wikidata, die Quellensammlung Wikisource u.v.m..
Ihr Jahresumsatz beträgt knapp 50 Mio. U$. Der Stiftung gehören die Server, sie besitzt die Wortmarke “Wikipedia”, die Stiftung wird urheber- oder persönlichkeitsrechtlich verklagt. Ohne sie gäbe es das “Lexikon des Weltwissens” (Spiegel) nicht. Und dennoch ist die Foundation bei den Freiwilligen unbeliebt. Immer dann, wenn die bezahlte Geschäftsführung sich in unsere Bereiche einmischt, Entscheidungen an sich zieht, ihre physische Macht über Server und Software ausspielt, dann kommt es zum “Clash of Civilizations”.
Im Juni 2014 schalteten die WMF-Informatiker in San Fancisco ein neuentwickeltes Softwaremodul ein, welches die Darstellung der Wikipedia auf Handys und Tablets verbessern sollte. Vor einigen Wochen stimmten die englisch- und deutschsprachigen Wikipedianer über diesen sogenannten “Media Viewer” ab. Beide Communities lehnten das Modul mit breiter Mehrheit wegen der zahlreichen enthaltenen Software-Bugs ab. Dieses Ergebnis wurde der Foundation gemeldet mit der Bitte, das Modul wieder zu deaktivieren. Nur mit ausdrücklichem Opt-in des Benutzers sollte es laufen dürfen.
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