Dieser Gastartikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb. Alle eingereichten Beiträge werden im Lauf des Septembers hier im Blog vorgestellt. Danach werden sie von einer Jury bewertet. Aber auch alle Leserinnen und Leser können mitmachen. Wie ihr eure Wertung abgeben könnt, erfahrt ihr hier.
Dieser Beitrag wurde von Peter eingereicht.
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Immer mehr Bücher, Dokumente, Zeitungen und sonstige Schriften aus vergangenen Jahrhunderten werden weltweit von Bibliotheken und anderen Institutionen eingescannt, digitalisiert und im Internet veröffentlicht. Wir haben einen Zugang zu einer Fülle an Material, der früher nur eingeschränkt wenigen Personen mit großem Aufwand möglich war. Diese phantastischen Möglichkeiten habe ich genutzt, um anhand von Hahnemanns Hauptwerken, dem „Organon der Heilkunst“ und der „Reinen Arzneimittelehre“ und anderen zeitgenössischen Quellen die Umstände der Entstehung der Homöopathie zu untersuchen.
Alle fünf zu Hahnemanns Lebzeiten erschienenen Ausgaben des „Organon“ sowie alle sechs Teile seiner „Reinen Arzneimittellehre“ sind in ausgezeichneten Scans auf https://archive.org zu finden:
https://archive.org/details/organonderration00hahn/ (1810)
https://archive.org/details/organonderheilku01hahn/ (1819)
https://archive.org/details/organonderheilku02hahn/ (1824)
https://archive.org/details/organonderheilku03hahn/ (1829)
https://archive.org/details/organonderheilku04hahn/ (1833)
https://archive.org/search.php?query=hahnemann%20arzneimittellehre%20francisacountwaylibrary
**Der Stand der medizinischen Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts**
Vieles – vielmehr fast alles – was die moderne Medizin ausmacht, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch unbekannt. Über Infektionen hatte man nur vage Vorstellungen von „Miasmen“. Bakterien als Verursacher von Infektionen wurden größtenteils in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt, Viren erst im 20. Jahrhundert. Die Erblichkeit von Krankheiten war gelegentlich bekannt, genetische Ursachen wurden aber erst im 20. Jahrhundert systematisch erforscht. Der Aufbau des menschlichen Körpers aus Zellen war noch unbekannt, auch wenn beispielsweise rote Blutkörperchen bereits beobachtet worden waren: eine Erklärung oder auch nur Diagnose von Krebserkrankungen war dadurch unmöglich. Was wir heute Ernährungsphysiologie nennen, gab es nur in rudimentärer Form, viele Mangelerscheinungen blieben dadurch unerkannt.
Die Medizin berief sich vielfach auf Autoritäten, vor allem Hippokrates und Galen. Die „Säftelehre“ des Hippokrates, nach der Gesundheit durch ein Gleichgewicht der „Säfte“ bedingt ist, führte zu nutzlosen und gefährlichen Therapien wie dem zu allem und jedem angewandten Aderlass, mit dem die „Überfülle“ (plethora) an Blut beseitigt werden sollte.
Die Arzneimittellehre ging auch auf antike Vorbilder zurück, allen voran die „Materia medica“ des Pedanios Dioskurides. Die Materia medica enthält hauptsächlich Beschreibungen von Heilpflanzen, aber auch tierische, mineralische und sonstige Heilmittel, wobei sich Erfahrungen und Beobachtungen von Heilpflanzen mit magischen Vorstellungen mischen. Zahlreiche Arzneibücher des Mittelalters und der Neuzeit setzen den Dioskurides fort. Viele der beschriebenen Arzneien sind schwere Gifte, vor allem das gegen alles und jedes eingesetzte Quecksilber.
Vom akademischen Beruf des Arztes streng getrennt war der „Wundarzt“, der Vorläufer der heutigen Chirurgen, die ein wesentlich geringeres Ansehen genossen – aus heutiger Sicht gesehen, haben sie aber, trotz ihrer rauen Methoden, wesentlich Besseres geleistet als ihre akademischen Kollegen.
**Beispiele aus der Literatur**
In Romanen, Erzählungen und Theaterstücken aus dieser Zeit ist die Medizin ein häufiges Thema. Die bemerkenswerte Unkenntnis der damaligen Ärzte erstaunt heutige Leser immer wieder. Beispielsweise wird der schwerverletzte Werther in Goethes „Leiden des jungen Werther“ folgendermaßen behandelt:
„Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt, über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Ueberflusse eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Athem.“
Goethes „Faust“ ist ein erfolgreicher Arzt, der jedoch von Gewissensbissen geplagt wird, weil er weiß, dass seine Heilkunst gefährlicher Betrug ist:
„Hier war die Arzeney, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir, mit höllischen Latwergen,
In diesen Thälern, diesen Bergen,
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,
Sie welkten hin, ich muß erleben
Daß man die frechen Mörder lobt.“
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