Es mag niemanden verwundern, dass ich in meinem Blog immer wieder darauf hinweise, wie wichtig Wissenschaft ist. Immerhin bin ich Wissenschaftler und verdiene meinen Lebensunterhalt mit der Vermittlung von Wissenschaft. Aber wenn ich die Bedeutung der Wissenschaft so heraus stelle, dann sind das keine egoistischen Gründe und es liegt auch nicht daran, dass ich einen zu engen Blick auf die Welt habe. Ich bin tatsächlich zutiefst davon überzeugt, dass Wissenschaft für die gesamte Gesellschaft fundamental wichtig ist. Es ist eigentlich trivial: Unsere gesamte moderne Welt wird von der Wissenschaft bestimmt. Alles was irgendwo produziert wird und alles was irgendwo gekauft wird, entstammt wissenschaftlicher Forschung beziehungsweise wurde von wissenschaftlicher Forschung beeinflusst. Forschung hat die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist und wenn wir eine Chance haben wollen, die Probleme in dieser Welt zu lösen, dann geht das nur, wenn wir diese Welt besser verstehen. Und damit ist ganz explizit auch die “anwendungsfreie” Grundlagenforschung gemeint. Deren Ergebnisse lassen sich vielleicht nicht sofort in vermarktbare Produkte umsetzen. Aber früher oder später wird das passieren. Je mehr wir wissen, desto mehr Möglichkeiten haben wir. Und je mehr Möglichkeiten wir haben, desto größer ist die Chance, dass wir die richtige oder zumindest die beste Möglichkeit finden, um einem Problem zu begegnen.
Wissenschaft ist wichtig und es ist gefährlich, sie zu vernachlässigen. Aber genau das passiert leider immer wieder. Wenn irgendwo gespart werden muss, dann spart man gerne bei der Wissenschaft (ein aktuelles Beispiel findet man hier). Aber gerade die Länder, die durch Wirtschafts- und Finanzkrisen geschwächt sind, nehmen sich durch Einsparungen in der Wissenschaft die Möglichkeit, eine stabilere Wirtschaft für die Zukunft zu entwickeln. In ganz Europa haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler “dramatische Fehlentwicklungen im Bereich der Wissenschaftspolitik” identifiziert und weisen nun im Rahmen eines offenen Briefs darauf hin. Den Inhalt des Briefes möchte ich hier gerne wiedergeben und euch, falls ihr dem Text zustimmt, darum bitten die Petition zu unterzeichnen.
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Europäisches Manifest für die Wissenschaft
Wissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern weisen in einem offenen Brief darauf hin, dass trotz national sehr unterschiedlicher Rahmenbedingungen in vielen Ländern ähnliche dramatische Fehlentwicklungen im Bereich der Wissenschaftspolitik zu beobachten sind. Diese kritischen Betrachtungen werden zeitgleich in der Zeitschrift “Nature” vorgestellt und europaweit in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht. Sie sind eine Mahnung an die verantwortlichen Politiker, ihren Kurs zu überdenken. Gleichzeitig fordern sie Wissenschaftler und die Öffentlichkeit auf, sich für eine starke Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft einzusetzen. Der Titel “They have chosen ignorance”, spielt dabei an auf das Bonmot: “If you think education is expensive, try ignorance”, frei übersetzt: “Das Einzige, das teurer ist als Bildung, ist fehlende Bildung (resp. Wissenschaft).”
Die politisch Verantwortlichen in zahlreichen Mitgliedsländern und an der Spitze der Europäischen Union drohen den Kontakt zur Wirklichkeit von Forschung und Wissenschaft zu verlieren.
Sie scheinen entschlossen, die Wichtigkeit einer starken Wissenschaft für eine starke Wirtschaft zu ignorieren. Dabei sind besonders die Länder, die von der Finanz- und Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind, auf eine starke Wissenschaft angewiesen. Dennoch vergrößern dort die Verantwortlichen durch drastische Einschnitte im Bereich der Wissenschaft mittel- und langfristig die Anfälligkeit dieser Länder für kommende Wirtschaftskrisen. Dies geschieht unter dem wohlwollenden Blick europäischer Institutionen, die sich vorwiegend auf Sparmaßnahmen konzentrieren. Dabei lassen sie außer Acht, dass der Erhalt und Ausbau der nationalen Forschungsinfrastrukturen notwendig sind, um diesen Staaten den Übergang zu einem wissensbasierten, widerstandsfähigeren Wirtschaftsmodell zu ermöglichen.
Sie scheinen entschlossen zu ignorieren, dass Wissenschaft und Forschung einen langen Atem erfordern, der sich nicht in Legislaturperioden bemisst. Hier ist eine nachhaltige Finanzierung unerläßlich: Während einige Früchte der Wissenschaft sofort geerntet werden können, müssen andere über Generationen reifen. Wenn wir heute nicht die Grundlagen legen, werden unsere Kinder morgen nicht die Mittel und Technologien haben, um die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Statt dessen verfolgen sie eine kontraproduktive Investitionspolitik in der Wissenschaft. Sie haben allein das Erreichen von Sparzielen vor Augen, festgelegt von europäischen Institutionen und der Finanzwelt. Dabei verlieren sie aus dem Blick, welche verheerenden Auswirkungen diese Politik auf die Wissenschaft und die Innovationsfähigkeit einzelner Mitgliedsstaaten und damit ganz Europas hat.
Sie scheinen entschlossen zu ignorieren, dass öffentliche Investitionen in Forschung und Entwicklung Grundlage und Motivation für privatwirtschaftliche Investitionen sind. So hat in den USA mehr als die Hälfte des Wirtschaftswachstums seine Wurzeln in staatlich finanzierter Grundlagenforschung. Die Staaten der Europäischen Union haben in der Strategie von Lissabon das Ziel formuliert, mindestens 3% des Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren. Die politisch Verantwortlichen mancher Länder hoffen unrealistischerweise, dass der Privatsektor dieses Ziel alleine verwirklicht, während der Staat hierfür immer weniger Geld zur Verfügung stellt. Dies steht in scharfem Kontrast zu ihrer wirtschaftlichen Situation: die Zahl der besonders innovativen Unternehmen ist teilweise gesunken, während gleichzeitig unter den klein- und mittelständischen Unternehmen Familienbetriebe mit oft geringem Innovationspotential dominieren.
Sie scheinen entschlossen zu ignorieren, wieviel Zeit und Ressourcen die Ausbildung hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kostet. Statt dessen wurden, unter dem Eindruck europäischer Vorgaben zum Personalabbau im öffentlichen Dienst, auch Haushaltmittel für Forschungseinrichtungen und Universitäten massiv gekürzt. Dies führt zu einem Exodus hochqualifizierter Wissenschafter aus dem Süden Europas in den Norden und in Länder außerhalb Europas. Verstärkt wird diese Entwicklung noch durch Personalabbau und fehlende Jobs in der Industrie. Die Konsequenz ist ein weitgehender Verlust der bisherigen Investitionen in die Forschung. Gleichzeitig wird die Kluft zwischen den Forschungskapazitäten der einzelnen Mitgliedsstaaten immer breiter. Konfrontiert mit fehlenden Perspektiven und der Unsicherheit durch die immer neue Befristung ihrer Stelle, überlegen Forscherinnen und Forscher in vielen Ländern, die Wissenschaft aufzugeben. Dabei liegt es in der Natur der Foschungsdynamik, dass nach einer längeren “Pause” nur selten eine Rückkehr in die Wissenschaft stattfindet. Auch für die Industrie verringert diese Entwicklung den Pool an qualifizierten Forscherinnen und Forschern. Statt “das” Defizit zu verringern, entsteht so eine neue Art von Defizit: ein gesamteuropäisches Defizit in den Bereichen Technologie und Innovation.
Sie scheinen entschlossen zu ignorieren, dass auch anwendungsorientierte Forschung auf Grundlagenforschung beruht. Entgegen der Meinung mancher Politiker ist sie zudem mehr als bloße Produktforschung mit unmittelbarer Marktrelevanz. Dennoch gibt es auf nationaler und europäischer Ebene eine starke Tendenz, sich gerade darauf zu konzentrieren und zu beschränken. Dabei handelt es sich lediglich um die tiefhängenden Früchte der Forschung, die an einem verzweigten Baum der Erkenntnis reifen. Zwar kann auch anwendungsorientierte Forschung den Samen neuer Fragestellungen in sich tragen, doch ohne Grundlagenforschung werden die Wurzeln des Baums langsam vertrocknen.
Sie scheinen entschlossen zu ignorieren, wie Wissenschaft funktioniert. Forschung braucht Freiheit zu Versuch und Irrtum. Nicht jedes Experiment ist ein “Erfolg”. Herausragende Ergebnisse und Exzellenz sind dabei wie die sichtbare Spitze eines Eisberges, getragen von einer breiten Basis wissenschaftlicher Alltagsarbeit. Dennoch verlagert sich die finanzielle Förderung auf nationaler und europäischer Ebene auf eine geringe Zahl etablierter Forschergruppen. Dies beeinträchtigt die Vielfalt der Wissenschaft. Wir brauchen sie jedoch, um den gesellschaftlichen und technologischen Herausforderungen von morgen zu begegnen. Dieser Ansatz befördert zudem die Abwanderung von Wissenschaftlern, da eine geringe Zahl gut ausgestatteter Wissenschaftseinrichtungen systematisch die geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rekrutiert.
Sie scheinen entschlossen, die wichtige Wechselwirkung von Forschung und Lehre zu ignorieren. Statt dessen haben sie die Mittel für die öffentlichen Hochschulen massiv gekürzt. Dies beinträchtigt nicht nur die Qualität der Lehre, sondern gefährdet auch Ihre Schlüsselfunktion für die Umsetzung der Chancengleichheit.
Insbesondere scheinen sie entschlossen zu ignorieren, dass Wissenschaft nicht nur der Wirtschaftsförderung dient, sondern auch der Förderung von Wissen und sozialem Wohlstand für alle.
Sie ignorieren es, aber wir erinnern sie daran und treten für die Zukunft ein. Als Forschende und Bürgerinnen und Bürger bilden wir ein internationales Netzwerk zum Austausch von Informationen und Ideen. Wir engagieren uns in einer Reihe nationaler und europäischer Initiativen. Wir stellen uns einer systematischen Beschädigung nationaler Forschungskapazitäten in den Weg. Wir wollen zu einem gemeinschaftlichen Europa der Bürger beitragen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und alle Bürger rufen wir auf, sich daran zu beteiligen:
Wir sind es den kommenden Generationen schuldig.
Amaya Moro-Martín, Astrophysicist; Space Telescope Science Institute, Baltimore (USA); EuroScience, Strasbourg; spokesperson of Investigación Digna (for Spain).
Gilles Mirambeau, HIV virologist; Sorbonne Universités, UPMC Univ. Paris VI (France); IDIBAPS, Barcelona (Spain); EuroScience Strasbourg.
Rosario Mauritti, Sociologist; ISCTE, CIES-IUL, Lisbon (Portugal).
Sebastian Raupach, Physicist; initiator of “Perspektive statt Befristung” (Germany).
Jennifer Rohn, Cell biologist; Division of Medicine, University College London, London (UK); Chair of Science is Vital.
Francesco Sylos Labini, Physicist; Enrico Fermi Center, Institute for Complex Systems (ISC-CNR), Rome (Italy); editor of Roars.it.
Varvara Trachana, Cell biologist; Faculty of Medicine, School of Health Sciences, University of Thessaly, Larissa (Greece).
Alain Trautmann, Cancer immunologist; CNRS, Institut Cochin, Paris (France); former spokesman of “Sauvons la Recherche”.
Patrick Lemaire, Embryologist; CNRS, Centre de Recherche de Biochimie Macromoléculaire, Universités of Montpellier; initiator and spokesman of “Sciences en Marche” (France).
Disclaimer: The views expressed by the signatories are not necessarily those of their employers.
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