Es könnte einem ja so vor kommen, als wüssten wir schon recht gut über unser Sonnensystem Bescheid. Immerhin haben wir schon alle acht Planeten mit Raumsonden aus der Nähe beobachtet. Wir haben Rover, die auf dem Mars herumfahren. Sonden, die sich im Saturnsystem umsehen oder die Atmosphäre der Venus erforschen. Und demnächst landen wir sogar auf einem Kometen! Aber das Sonnensystem ist groß. Und es gibt noch so viel, von dem wir keine Ahnung haben. Das trifft besonders auf die äußeren Regionen zu: Erst kürzlich musste man sich enorm anstrengen, um noch einen Asteroid zu finden, an dem die Raumsonde “New Horizons” nach ihrem Besuch des Pluto im nächsten Jahr vorbei fliegen kann. Und wenn wir noch weiter nach draußen blicken, dann können wir schon früh darüber sein, dass wir zumindest halbwegs wissen, was wir alles nicht wissen…
Die äußerste Grenze des Sonnensystems bildet die “Oortsche Wolke”. Zehn- bis hunderttausend mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde befinden sich dort unzählige Kleinkörper. Vielleicht gibt es dort sogar noch unbekannte Planeten. Klar ist nur, dass dort draußen irgendetwas sein muss. Das folgt einerseits aus der Untersuchung bekannter Himmelskörper wie zum Beispiel den langperiodischen Kometen. Die müssen ja irgendwo her kommen und wenn wir ihre Bahnen zurück verfolgen, dann zeigt sich, dass es weit draußen im Sonnensystem ein großes Reservoir dieser Kleinkörper geben muss. Andererseits wissen wir aber auch, dass die Entstehungsphase der Planeten vor 4,5 Milliarden Jahren ziemlich chaotisch war. Damals wurden jede Menge kleine und größere Felsbrocken aus den inneren Bereichen nach außen geschleudert (und vermutlich auch der eine oder andere größere Protoplanet). Auch diese Objekte können nicht alle verschwunden sein; ein Großteil von ihnen muss sich auch heute noch in den äußeren Bereichen des Sonnensystems aufhalten.
Aber momentan haben wir kaum eine Chance, die Objekte der Oortschen Wolke auch tatsächlich zu entdecken. Es ist schon schwierig genug, die vergleichsweise nahen Asteroiden zu finden, die sich knapp hinter der Bahn des Neptun im Kuipergürtel aufhalten. Die viel, viel weiter entfernten Kleinkörper der Oortschen Wolke sind außerhalb unserer derzeitigen technischen Möglichkeiten. Aber wir können uns zumindest theoretisch überlegen, was da draußen alles rumschwirrt. Und mit “wir” meine ich Andrew Shannon von der Universität Cambridge und seine Kollegen, die sich die Oortsche Wolke im Rahmen umfassender Computersimulationen angesehen haben (“Eight billion asteroids in the Oort cloud”).
Sie haben die Bewegung der bekannten Planeten und jeder Menge Kleinkörper simuliert. Zu Beginn der Computersimulation befanden sich die Kleinkörper im inneren Bereich des Sonnensystems (damit ist hier der Bereich gemeint, in dem sich auch die Planeten aufhalten und wo sich das ganze Material aus dem alles entstanden ist, ursprünglich auch aufgehalten hat). Im Laufe der Zeit kommt es aber immer zu nahen Begegnungen zwischen kleinen Objekten und den großen Planeten. Dabei können die Objekte entweder durch eine Kollision zerstört werden. Oder aber sie werden ganz aus dem Sonnensystem geworfen (im Rahmen dieser Simulation wurden alle Himmelskörper entfernt, deren Abstand zur Sonne größer als der 250.000fache Abstand zwischen Erde und Sonne war). Die komplette Simulation umfasst einen Zeitraum von 4,5 Milliarden Jahren; also das aktuelle Alter des Sonnensystems.
So sehen die Ergebnisse aus:
Auf den ersten Blick ein wenig verwirrend, aber eigentlich nicht kompliziert. Die x-Achse zeigt den ursprünglichen Abstand der Kleinkörper zur Sonne und zwar in Astronomische Einheiten (“au”). Die Erde befindet sich bei einer astronomischen Einheit; der sonnenfernste Planet Neptun bei 30. Die x-Achse zeigt, wie vielen Objekten ein bestimmtes Schicksal passiert ist und die Farbe der Balken gibt an, was mit ihnen passiert ist. Den größten Anteil haben die schwarzen Bereiche und das sind die Objekte, die komplett aus dem Sonnensystem geworfen sind. Die gelben Balken zeigen an, wie viele Objekte mit der Sonne kollidiert sind und die restlichen Farben stehen für Kollisionen mit den Planeten (Venus: Braun, Erde: Grün, Mars: Rot, Jupiter: Türkis, Saturn: Grau, Uranus: Violett, Neptun: Blau). Die weißen Bereiche repräsentieren die Objekte, die immer noch dort sind, wo sie angefangen haben. Und interessant für unsere Überlegungen zur Oortschen Wolke sind die rosa Balken: Die geben an, wie viele Kleinkörper am Ende der Simulation in der Oortschen Wolke gelandet sind.
Man erkennt gut, dass die Oort-Objekte hauptsächlich aus dem Bereich der äußeren Planeten zwischen ungefähr 15 und 40 AU stammen. Im Bereich der inneren Planeten waren Kollision und Rauswürfe das häufigste Schicksal, wie man an dieser Ausschnittsvergrößerung erkennt:
Schön zu sehen ist der Unterschied zwischen der sonnennahen Region zwischen 0 und 2 AU und dem Bereich zwischen 3,5 und 5 AU. Nahe der Sonne hat ein Kleinkörper kein klar definiertes Schicksal: In der Simulation kamen Kollisionen mit Venus und Erde genau so vor wie Zusammenstöße mit der Sonne oder komplette Rauswürfe aus dem System. Zwischen den Bahnen von Mars (bei 1,5 AU) und Jupiter (bei 5 AU) erkennt man große weiße Bereiche; also Regionen, in denen die Asteroiden die ganzen 4,5 Milliarden Jahre überlebt haben. Und tatsächlich finden wir dort heute noch den Haupt-Asteroidengürtel. Dahinter beginnt der Einflussbereich der großen Gasriesen: Mit ihren großen Massen können sie die Kleinkörper bei nahen Begegnungen viel intensiver stören und die meisten von ihnen fliegen aus dem Sonnensystem (d.h. die schwarzen Regionen dominieren).
Andrew Shannon und seine Kollegen haben nun probiert, anhand dieser Ergebnisse abzuschätzen, wie viele Objekte man heute noch in der Oortschen Wolke finden kann. Dazu braucht man Annahmen über die Gesamtmasse der großen Staubscheibe, aus der die Planeten entstanden sind. Man muss aber auch berücksichtigen, wo die Objekte entstanden sind. Nahe der Sonne war es warm und es gab tatsächlich fast nur Staub und die entstehenden Objekte waren alle felsig; das, was wir heute als “Asteroiden” bezeichnen. Weiter draußen war es kühler und dort konnte neben dem Staub auch gefrorenes Material existieren; also Eis. Die Objekte, die dort entstanden sind, waren eine Mischung aus Eis und Gestein; das, was wir heute “Kometen” nennen (siehe auch hier). Aus den Kometen und Asteroiden bildeten sich die Planeten – und diejenigen von ihnen, die heute noch übrig sind, finden wir in den Asteroidengürteln und eben der Oortschen Wolke.
Da die meisten Objekte der Oortschen Wolke aus den äußeren, kühleren Region des Planetensystems stammen, können wir davon ausgehen, dass es sich überwiegend um Kometen handelt. Aber in den Computersimulationen hat sich gezeigt, dass ungefähr 4 Prozent der in die Oortsche Wolke geschleuderten Himmelskörper aus der Region stammen, in der die Asteroiden entstehen. Rechnet man das entsprechend um, dann kommt man auf die beeindruckende Zahl von knapp 8 Milliarden Asteroiden, die größer als 2,3 Kilometer sind! Die Asteroiden sind in der Oortschen Wolke zwar in der Minderheit. Aber es gibt dort immer noch deutlich mehr, als im Asteroidengürtel!
Aber natürlich handelt es sich hier “nur” um eine Computersimulation. Die können zwar sehr aussagekräftig sein und sind ein wichtiges Instrument in der theoretischen Astronomie. Am Ende braucht es aber doch konkrete Beobachtungen. Shannon und seine Kollegen haben sich daher auch überlegt, ob und wie man vielleicht doch irgendwann Oortsche Objekte sehen kann. Sie haben dafür das “Large Synoptic Survey Telescope (LSST)” als Grundlage genommen; ein Teleskop in Chile dessen Fertigstellung für 2022 geplant ist und mit dem der Himmel durchmustert werden soll. Legt man die Ergebnisse der Computersimulation zu Grunde und die geplante Leistung des LSST, dann sollte es am Ende seiner Beobachtungskampagne 12 Oort-Asteroiden entdeckt haben. Das ist nicht viel – aber 12 ist immer noch besser als nichts!
Die Astronomen um Andrew Shannon haben sich übrigens auch angesehen, ob diese Objekte eine Gefahr für die Erde darstellen. Asteroideneinschläge sind ja eine potentielle Bedrohung und das gilt um so mehr, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit aus der Oortschen Wolke kommen und nicht vergleichsweise langsam aus dem inneren Sonnensystem. Die große Distanz macht einen Einschlag mit globalen Folgen aber enorm unwahrscheinlich: Im Durchschnitt ist damit nur einmal pro Milliarde Jahre zu rechnen…
Wie schon gesagt: Es handelt sich hier “nur” um eine theoretische Arbeit. Niemand hat irgendwas konkret beobachtet oder entdeckt und das ist vielleicht auch der Grund, warum solche himmelsmechanischen Computersimulationen in den Medien wenig Aufmerksamkeit finden (und wenn ich nicht selbst Himmelsmechaniker wäre und früher genau solche Simulationen selbst durchgeführt hätte, dann hätte ich die Arbeit wahrscheinlich auch ignoriert). Aber die Theorie ist nicht weniger wichtig als die Beobachtung! Wenn es um die Erforschung des Unbekannten geht, dann kann es nicht schaden, sich vorab zu überlegen, was man überhaupt entdecken könnte. Es wird noch eine Weile dauern, bevor wir beobachten können, was in den äußersten Bereichen des Sonnensystems vor sich geht. Bis dahin können uns die Simulationen helfen, das Unbekannte zu verstehen.
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