Nichts bewegt sich schneller als das Licht! Das ist eine der großen physikalischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts. Aber unser Verständnis der Naturgesetze ist nicht für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelt, sondern einem stetigen Prozess der Veränderung unterworfen. Je genauer wir die Natur betrachten, desto genauer wird auch unsere Beschreibung. Als Albert Einstein vor fast 100 Jahren intensiv über Gravitation nachdachte, fand er am Ende ein Modell, das die Realität ein klein wenig genauer beschrieb als die Gravitationstheorie von Newton. Und in 100 Jahren wird vielleicht jemand anderes zeigen können, dass man eine noch bessere Annäherung an die Natur als Einstein finden kann. Mit der Lichtgeschwindigkeit als Geschwindigkeitslimit könnte es vielleicht ähnlich sein. Gerade macht eine Arbeit des Physikers Robert Ehrlich die Runde in den Medien (“Six observations consistent with the electron neutrino being a tachyon with mass: m2νe=−0.11±0.016eV2”) in der nahegelegt wird, dass Neutrinos sich schneller als das Licht bewegen.
Ich sage sicherheitshalber gleich zu Beginn, worum es in diesem Artikel nicht gehen wird: Um überlichtschnelle Raumfahrt, Warp-Antriebe, freie Energie aus dem Nichts und ähnliche Grenzgebiete der Science-Fiction und Pseudowissenschaft. Es geht um Elementarteilchen und theoretische Physik – aber die Sache ist trotzdem äußerst interessant.
Neutrinos sind sehr faszinierende Elementarteilchen. Sie wurden 1930 vorhergesagt und 1956 nachgewiesen. Sie interagieren so gut wie gar nicht mit normaler Materie (Neutrinos sind “dunkle Materie”, das heißt sie senden keine elektromagnetische Strahlung aus und absorbieren sie auch nicht sondern interagieren nur über die schwache Kernkraft mit dem Rest der Materie). Wir haben aber mittlerweile gelernt, sie trotzdem zu registrieren (siehe hier und hier) und diese Teilchen verraten uns viel darüber, was im Universum vor sich geht.
Eine der immer noch ungelösten Fragen bei diesem Thema ist die Masse der Neutrinos. Ursprünglich dachte man, sie hätte gar keine Ruhemasse; so wie zum Beispiel auch die Photonen des Lichts. Und als masselose Teilchen würden sich die Neutrinos dann auch mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Diverse Experimente und theoretische Überlegungen haben aber mittlerweile zu der Überzeugung geführt, dass sie doch eine sehr, sehr kleine Ruhemasse besitzen und daher auch ein klein wenig langsamer als das Licht sind. Der genaue Wert der Masse ist allerdings noch unbekannt.
Und hier kommt die Arbeit von Robert Ehrlich ins Spiel: Er behauptet, die Neutrinos hätten eine imaginäre Masse. Das klingt nicht nur ziemlich seltsam. Das ist auch ziemlich seltsam. Imaginäre Zahlen werden die meisten noch aus dem Schulunterricht kennen. Man hat sie eingeführt, um Gleichungen wie x² = -1 lösen zu können. Mit den “normalen” Zahlen geht das nicht, denn egal ob man eine positive oder eine negative Zahl mit sich selbst multipliziert; am Ende ist das Ergebnis immer positiv. Der Ausweg aus diesem Dilemma waren die imaginären Zahlen. Man hat einfach per Definition festgelegt, dass eine Zahl mit der Bezeichnung “i” existieren soll, die gleich der Wurzel aus -1 ist. Dann ist i² = -1 und die Lösung für die oben gestellte Gleichung lautet einfach x=i. Mit imaginären Zahlen kann man genau so rechnen wie mit normalen Zahlen und die moderne Mathematik bzw. Physik würde mittlerweile nicht mehr ohne diese Erweiterung des Zahlenraums auskommen. Aber eine Entsprechung in der realen Welt haben die imaginären Zahlen nicht. Was also soll es dann bedeuten, wenn behauptet wird, die Masse der Neutrinos wäre imaginär?
Dazu muss man sich eine der wichtigsten Formeln der speziellen Relativitätstheorie von Albert Einstein ansehen:
Sie beschreibt die Energie eines Teilchens. Die muss immer eine reale, beobachtbare Größe mit einem positiven Wert sein. Und das ist normalerweise auch kein Problem. Ist die Geschwindigkeit v eines Teilchens kleiner als die Lichtgeschwindigkeit c, dann wird in der Formel der Ausdruck unter der Wurzel positiv und der Wert der Energie ist eine normale Zahl. Ist die Geschwindigkeit eines Teilchens aber größer als die Lichtgeschwindigkeit, dann ist die Zahl unter der Wurzel negativ. Und wenn man die Wurzel einer negativen Zahl zieht, bekommt man eine imaginäre Zahl. Damit am Ende die Energie trotzdem eine normale Zahl sein kann, muss als Ausgleich die Masse m über dem Bruchstich ebenfalls eine imaginäre Zahl sein. Dann hat man zwei imaginäre Zahlen, die durcheinander geteilt werden und das Ergebnis so einer Rechnung ist immer eine normale Zahl.
Kurz gesagt: Die Masse eines Teilchens das sich schneller als das Licht bewegt, muss imaginär sein!
Eigentlich könnte man ja denken, man müsste sich mit so etwas gar nicht beschäftigen. Denn immerhin sagt Einstein ja, dass sich nichts schneller als das Licht bewegen kann. Aber das ist nicht ganz korrekt. Seine Theorie besagt nur, dass man unendlich viel Energie benötigen würde, um ein Objekt auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Es ist also unmöglich, irgendetwas schneller als das Licht zu beschleunigen. Es ist aber – zumindest rein theoretisch – möglich, dass Teilchen entstehen, die schon von Anfang an schneller als das Licht sind! Man kann von Unterlichtgeschwindigkeit nicht zur Überlichtgeschwindigkeit wechseln. Aber Teilchen die sich immer mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen, sind kein Widerspruch zur Relativitätstheorie.
Solche hypothetischen Teilchen nennt man Tachyonen (und sie tauchen heutzutage meistens in der Esoterik auf; darum soll es hier aber nicht gehen) und sie haben eine imaginäre Masse. Die Idee, dass es sich bei Neutrinos um genau solche Tachyonen handeln könnte, ist nicht neu – sie ist schon in den 1980er Jahren aufgetaucht. Und tatsächlich gab es früher Messdaten, die damit nicht in Widerspruch standen. Sie lieferten einen negativen Wert für das Quadrat der Masse der Neutrinos, also eine imaginäre Masse. Innerhalb der Fehlergrenzen waren die Werte aber auch mit einer normalen oder gar keiner Masse vereinbar und die Experimente selbst stellten sich später als fehlerbehaftet heraus.
Robert Ehrlich aber hat nun in seiner Arbeit diverse Daten zusammen getragen, die erneut zeigen sollen, dass die Masse von Neutrinos imaginär ist. Eine seiner Überlegungen hat zum Beispiel mit dem “Knie” in der kosmischen Strahlung zu tun. Die Argumentationskette ist ein wenig knifflig: Es beginnt mit Teilchen, die aus dem Weltraum zur Erde gelangen. Davon gibt es jede Menge; Sterne und andere kosmische Phänomene schicken ständig diverse Teilchen durch die Gegend und wenn sie zu uns auf die Erde gelangen, kann man ihre Energie messen und deren Verteilung aufzeichnen. Tut man das, bekommt man ein Diagramm mit einem “Knie”, also einer Region, in der ein bisschen weniger Teilchen einer bestimmten Energie vorhanden sind, als man eigentlich erwarten würde.
Die Auswertung ist komplex, denn wir wissen immer noch nicht genau über alle Prozesse Bescheid, die kosmische Strahlung produzieren; können also auch nicht exakt sagen, wie viele Teilchen einer bestimmten Energie wir eigentlich erwarten. Aber eine mögliche Erklärung für dieses “Knie” wären überlichtschnelle Neutrinos. Denn wenn es die gibt, dann folgt daraus unter anderem, dass Protonen nicht stabil sein können. Protonen die sehr hohe Energien haben zerfallen zu Neutronen und Neutrinos und deswegen gibt es weniger davon als man erwarten würde.
Das ist natürlich ein sehr, sehr indirektes Indiz und das gilt auch für die fünf anderen Argumentationslinien, die Ehrlich in seinem Artikel verfolgt. Es handelt sich dabei immer um Messdaten anderer Wissenschaftler, die jede für sich auch ganz ohne überlichtschnelle Neutrinos erklärt werden können. Aber Ehrlich hat die Daten neu und anders ausgewertet und kam dabei zu dem Schluss, das sie alle auf die gleiche und eben imaginäre Neutrinomasse hindeuten, wie dieses Diagramm aus seiner Arbeit zeigt:
Die sechs Punkte entsprechend seiner Auswertung der Daten und geben die Neutrinomasse an. Innerhalb der Fehlerbalken stimmen sie überein und geben eine Masse an, die imaginär ist und zwei dreimillionstel der Masse eines Elektrons entspricht (mit der angeblichen “Entdeckung” überlichtschnellen Neutrinos am CERN hat das übrigens erst Mal nichts zu tun; beim CERN ging es um eine andere Art von Neutrinos als denjenigen, mit denen sich Ehrlich beschäftigt).
Man darf ob dieser Behauptung durchaus skeptisch sein. Es ist immer ein wenig schwierig, Experimente im Nachhinein unter anderen Gesichtspunkten zu interpretieren und nicht so zu betrachten, wie sie eigentlich gedacht waren. Und es gibt durchaus auch Argumente, die gegen eine imaginäre Neutrinomasse sprechen. Man sollte dann zum Beispiel eine der Tscherenkow-Strahlung ähnlich Strahlung beobachten können, was man aber nicht getan hat (Tscherenkow-Strahlung entsteht, wenn sich Teilchen in einem Medium schneller als die lokale Lichtgeschwindigkeit bewegen – siehe hier). Mit überlichtschnellen Neutrinos könnte man auch theoretisch rückwärts in der Zeit kommunizieren, was zu allerlei Paradoxien führt weswegen viele Physiker davon ausgehen, dass sie in der Natur nicht existieren können.
Aber natürlich sollte man die Möglichkeit auch nicht völlig ausschließen, solange sie nicht einwandfrei widerlegt ist. Eine imaginäre Masse ist in anderen Bereichen der Teilchenphysik zumindest nicht völlig unbekannt. Bei Quantenfeldern kann es sogenannte “Tachyonenfelder” geben, die imaginäre Massen haben. Das heißt in diesem Fall aber (sehr vereinfacht gesagt) nichts anderes als dass diese Felder nicht stabil sind, sondern spontan zu einem niedrigeren Energiezustand wechseln können und das bei diesem Vorgang Teilchen entstehen, die dann aber eine normale Masse haben (das Higgs-Feld ist zum Beispiel so ein Tachyon-Feld).
Hätten Neutrinos wirklich eine imaginäre Masse, dann wäre das natürlich eine ziemlich große Sensation. Ihre Masse wäre dann nicht negativ und nicht positiv und auch nicht gleich null. Sie wäre irgendetwas anderes und man müsste sich ein völlig neues Konzept dessen ausdenken, was “Masse” bedeutet. Solche Paradigmenwechsel gibt es immer wieder in der Physik. Die allgemeine Relativitätstheorie hat ein völlig neues Konzept der Gravitation entwickelt; die Quantenmechanik hat unser Verständnis dessen, was ein “Teilchen” ist komplett revolutioniert. Wenn ein “Teilchen” weder ein Teilchen, noch eine Welle ist sondern “etwas”, das eben mal so erscheint wie eine Welle und mal so erscheint wie ein Teilchen; warum soll es dann nicht auch möglich sein, eine imaginäre Masse in unser Modell der Natur einzubauen?
Aber bevor man sich diese Mühe macht, braucht es natürlich zuerst noch mehr und bessere Daten. Die könnten in den nächsten Jahren in Karlsruhe gesammelt werden. Dort wird demnächst das KATRIN-Experiment (Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment) gestartet. Dabei wird das sogenannte Betaspektrum des Tritiumzerfalls gemessen. Tritium (ein Wasserstoff-Isotop mit einem Atomkern, der aus einem Proton und zwei Neutronen besteht) ist nicht stabil sondern zerfällt mit einer Halbwertszeit von etwa 12 Jahren. Die Energie der zerfallenden Teilchen wird dabei auf die entstehenden Teilchen aufgeteilt und dazu gehört auch ein Neutrino. Wie genau die Energie aufgeteilt wird, hängt unter anderem davon ab, ob und was für eine Masse das Neutrino besitzt. Misst man also die Energie der beim Tritium-Zerfall entstehenden Teilchen enorm genau, dann kann man daraus die Masse der Neutrinos ableiten. Bis jetzt war so eine Messgenauigkeit nicht möglich, aber der KATRIN-Detektor wird dazu in der Lage sein.
Wenn KATRIN in den nächsten Jahren Ergebnisse liefert, werden wir also besser wissen, ob wir uns tatsächlich Gedanken darüber machen müssen, wie man sich eine “imaginäre Masse” vorzustellen hat… So oder so – am Ende werden wir auf jeden Fall besser über die Welt Bescheid wissen als vorher und darauf kommt es ja an!
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