31.12.2014. Silvester. Es ist kalt, es ist trüb und es sieht nach Regen aus. Ich stehe mit einem Haufen anderer Menschen auf einem matschigen Waldweg mitten in der Schleswig-Holsteiner Provinz. Und warte darauf, dass jemand ein Kommando gibt, damit ich 10 Kilometer lang über weitere matschige Waldwege laufen darf. Wieso, mag sich nun der eine oder die andere fragen, mache ich das? Wieso sitze ich nicht irgendwo gemütlich im Warmen und bereite mich auf die Silvesterfeierlichkeiten am Abend vor? Wieso stehe ich stattdessen am Campingplatz in Lehmrade und warte auf den Start des Möllner Silvesterlaufs? Und vor allem: Wieso schreibe ich davon in meinem Blog? Hier soll es doch um Wissenschaft gehen? Eben!
Die Sache mit dem Laufen ist schnell erklärt. Früher habe ich Laufen immer für enorm langweilig gehalten. Davon, dass es auch enorm anstrengend ist, ganz zu schweigen. Aber seit ich Anfang 2014 beschlossen habe, ein wenig mehr Sport zu machen, kam ich ums Laufen nicht mehr herum. Das Ergometer im heimischen Wohnzimmer ist zwar nett, wird aber irgendwann langweilig. Schwimmen ist mangels brauchbarem Schwimmbad in Jena schwer zu machen. Mannschaftssportarten sind ungeeignet für einen flexiblen Zeitplan. Bleibt Laufen. Also habe ich irgendwann im Februar 2014 meine uralten Turnschuhe angezogen und bin 5 Kilometer durch den Jenaer Paradiespark gejoggt. Es war – wie zu erwarten – enorm anstrengend und enorm langweilig. Ich habe circa 45 Minuten für die Strecke gebraucht. Aber bin am nächsten Tag trotzdem nochmal gelaufen. Und dann nochmal. Und nochmal. Und wie das so ist mit dem Sport: Wenn man es oft genug macht, dann wird man irgendwann besser und es wird nicht mehr so anstrengend. Und dann war es auf einmal auch nicht mehr langweilig! Wenn man nicht ständig damit beschäftigt ist, den gequälten eigenen Körper wahrnehmen zu müssen sondern tatsächlich halbwegs entspannt durch die Gegend laufen kann, dann kann man auch auf die Gegend achten! Man kann sich umsehen, die Landschaft genießen, kann sich Podcasts anhören und auch darauf konzentrieren. Ich hab mich regelrecht aufs Laufen gefreut und hab einen Teil der Recherchearbeit für meine Texte, den ich normalerweise vor dem PC erledigt hätte, nun mit Hörbüchern und Podcasts während des Laufens absolviert.
Im Juli hat mich dann ein Freund überredet, doch mal einen Marathon zu laufen. Am besten gleich mit ihm gemeinsam, im September. Ich hab ihn gefragt, ob er verrückt ist – immerhin bin ich zu diesem Zeitpunkt noch nie länger als 10 Kilometer am Stück gelaufen. Aber als ich dann testhalber mal 20 Kilometer probiert habe, ging das überraschend problemlos! Also habe ich begonnen, regelmäßig längere Strecken zu laufen und als ich dann im August das erste Mal 32 Kilometer am Stück geschafft habe, habe ich mich für den Marathon angemeldet. Und gleichzeitig auch für einen 12-Kilometer-Volkslauf in der thüringischen Provinz. Ich wollte vor dem Marathon zumindest einmal erlebt haben, wie so ein offizielles Rennen eigentlich funktioniert. Und überraschenderweise hat es mir einen riesigen Spaß gemacht! Ich habe festgestellt, dass man ganz anders (und vor allem schneller!) läuft, wenn man “Konkurrenz” hat, die man überholen kann oder von der man zu überholt werden droht. Das ganze Drumherum so eines Rennens; die Siegerehrungen, die Parties, das Publikum, die Musik, usw schaffen ein Ambiente das eine simple Joggingrunde im Park nicht bieten kann. Selbst wenn man als reiner Hobbyläufer natürlich keine Chancen hat, irgendwas zu gewinnen macht so ein Rennen enorm viel Spaß.
Ich bin dann also im September nicht nur den Marathon gelaufen (und mit meiner Zeit von 3 Stunden und 53 Minuten war ich ganz zufrieden) sondern habe mich noch bei weiteren kürzeren und längeren Läufen angemeldet. Der Möllner Silvesterlauf stand jetzt nicht unbedingt auf der Liste der Läufe, die ich unbedingt immer schon machen wollte. Aber da ich Silvester eben dieses Jahr bei meiner Verwandtschaft in Mölln verbringe wollte ich die Gelegenheit nutzen. Und deswegen stehe ich nun im Wald am Ufer des Lütauer Sees und warte darauf, dass der Startschuss für das Rennen fällt! Weil ich 2014 festgestellt habe, dass Laufen alles andere als langweilig ist!
Und die Wissenschaft? Die ist – wie die regelmäßigen Leserinnen und Leser meines Blogs wissen – überall. Man muss die Welt nur auf die richtige Art und Weise betrachten und ein wenig nachdenken. Dann findet man sie immer! Und wo hat man mehr als ausreichend Gelegenheit, um die Welt zu betrachten und in Ruhe nachzudenken? Genau: Beim Laufen!
Ich habe in der Vergangenheit immer wieder probiert, die Wissenschaft aufzuzeigen, die man überall im Alltag finden kann. In meinen Büchern genau so wie in meinem Blog oder auf meinen Reisen. Warum also nicht auch darüber schreiben, was für Wissenschaft einem beim Laufen so begegnen kann? Das habe nicht nur ich mir gedacht, sondern auch ScienceBlogs-Kollege Ali Arbia von Zoon Politikon. Auch er ist 2014 von der Laufleidenschaft angesteckt worden; hat in diesem Jahr ebenfalls seinen ersten Marathon gelaufen und wird davon sicher selbst noch ausführlich berichten. Denn wir haben beschlossen, gemeinsam eine neue und blogübergreifende Artikelserie bei ScienceBlogs.de zu starten: Running Research – Denken beim Laufen. Abwechselnd werden Ali und ich (und im Laufe der Zeit vermutlich auch noch andere ScienceBlogger) über unsere Lauferlebnisse berichten und darüber, was wir unterwegs für Wissenschaft entdeckt haben. Die offizielle erste Ausgabe wird demnächst bei Ali oder bei mir erscheinen; dieser Text hier ist nur eine einführende “Pilotfolge” um die Hintergründe zu erklären und auf den Start einzustimmen.
Apropos Start: Der findet beim Silvesterlauf in Mölln jetzt endlich statt! Der Start ist auch das einzige, was mich an diesen offiziellen Rennen stört. Anstatt einfach loslaufen zu können, wenn mir danach ist, muss man (gefühlt) ewig warten und sich dann eingeklemmt zwischen diversen anderen Leuten laufend seinen Weg bahnen. Oder auch nicht, denn wenn es voll und eng ist, hat man meist keine Wahl, als sich ans Tempo der Läufer um einen herum anzupassen und das ist immer zu schnell oder zu langsam…
Aber in Mölln ist das Starterfeld überschaubar, der Waldweg am Start ist einigermaßen breit und die Läufer verteilen sich schnell. Ich habe vermutlich wie immer ein wenig zu flott begonnen und hoffe, dass mir das am Ende des Rennens nicht den Atem raubt. Aber noch bin ich optimistisch! Die Strecke ist zwar dank des Tauwetters der letzten Tage wirklich matschig und rutschig und wie bei Waldwegen üblich, uneben und voller Wurzeln. Aber sie ist auch äußerst schön! Es geht zuerst den Lütauer See und dann den Schmalsee entlang. Direkt am Wasser, durch die winterlichen Wälder. Im Sommer ist hier alles grün und voller Leben (und Insekten…). Aber auch im Winter haben die kahlen Bäume am Seeufer ihren Reiz. Und trotz des braunen Laubs ist doch nicht alles Grün verschwunden. Während ich probiere, mein Lauftempo bei etwa 4:00 Minuten/Kilometer zu halten, sehe ich immer wieder grüne Flecken auf den Bäumen und grünen Belag auf Boden und Steinen. Keine Blätter, sondern Flechten. Oder Moose? Ich hab mir beim Laufen schon oft genug gedacht, dass man mehr über Botanik wissen sollte. Dann könnte man den ganzen Kram, an dem man vorüber läuft, nicht nur schön finden, sondern auch beim Namen nennen!
Und Flechten (oder Moose?) sehen zwar auf den ersten Blick unscheinbar aus, sind aber enorm faszinierend! Flechten (Ich habe mich fürs erste Mal entschieden, dass es sich um Flechten handelt. Ich muss ja sowieso noch ne zweite Runde um den See machen und überleg mir dann nochmal, ob es vielleicht doch Moose waren) sehen zwar aus wie irgendwelche Pflanzen, sind aber eine symbiotische Lebensgemeinschaft! Das hat mich damals schon in der Schule so sehr beeindruckt, dass ich es bis heute nicht vergessen habe und sogar nach daran denken kann, während ich probiere, vielleicht doch noch den einen oder anderen Läufer vor mir zu überholen, bevor es am Ende des Schmalsees über die enge Brücke geht und da kein Platz mehr für solche Manöver ist.
Ein Flechte besteht aus Pilzen (die ebenfalls keine Pflanzen – und auch keine Tiere! – sind) und Grünalgen bzw. Cyanobakterien. Die Algen betreiben Photosynthese und versorgen den Pilz mit Nährstoffen und der schützt die Algen dafür vor Austrocknung und zu viel fieser UV-Sonnenstrahlung. Ich persönlich hätte ja nix gegen zumindest ein bisschen Sonnenstrahlung einzuwenden. Ich habe mich zwar mittlerweile daran gewöhnt, auch dann zu Laufen, wenn es draußen kalt ist. Aber wenigstens sonnig könnte es sein! Mit Austrocknung werde ich auf jeden Fall so schnell nicht zu kämpfen haben. Beim Marathon wird man unterwegs zwar schon ein wenig durstig, aber bei einem 10-Kilometer-Lauf im Winter ist der Flüssigkeitsverlust noch verkraftbar. Die Hälfte der Strecke habe ich jetzt auch schon absolviert und für die zweite Hälfte lutsche ich noch ein Stückchen Traubenzucker. Ob das wirklich hilft, kann ich nicht sagen. Aber man kann es sich ja einbilden – der Placeboeffekt hilft auch beim Laufen 😉
6 Kilometer sind jetzt geschafft und ich bin schon fast wieder am Start. Jetzt noch eine kleine Runde um den Lütauer See und dann bin ich durch. Das Läuferfeld hat sich jetzt schon deutlich auseinander gezogen (und ich habe den Überblick verloren, wie viele Leute noch vor mir sind und wie viele hinter mir – aber eigentlich sollten ich die meisten überholt haben und irgendwo unter den ersten 20 Läufern sein). Aber zumindest habe ich jetzt ein wenig mehr Überblick um mir nochmal die Flechten (oder Moose?) anzusehen. Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es hier entlang dieses Waldwegs Flechten und Moose gibt! Moose sind zwar keine Symbionten, sondern “nur” Pflanzen, aber trotzdem cool! Und – eine wichtige Information für alle Klugscheißer! – die wissenschaftliche Beschäftigung mit Moosen heißt Bryologie. Das weiß ich aus einem der vielen Podcasts, die ich beim Laufen immer höre. In dem Fall war es die Folge “Mosses” aus der Serie “Bitten by the Bug” von der BBC. Moose wachsen wirklich überall. In der Wüste, in der Tundra, im Wald, in der Steppe – überall. Sie sind zäh und ertragen die widrigsten Umstände. Im Gegensatz zu mir – langsam lässt meine Kraft ein wenig nach. Ich hab wohl doch zu schnell angefangen beim Rennen. Da hilft auch der Traubenzucker nix. Man müsste Photosynthese beherrschen, wie die Flechten und Moose damit man sich konstant während des Laufens mit Sonnenlicht aufladen kann.
Obwohl das mit der Photosynthese ja ursprünglich keine so gute Idee war. Als vor etwa 3 Milliarden Jahren die ersten Mikroorganismen auf den Trick kamen, das Sonnenlicht zu verwenden, um es in für sie nutzbare Energie umzuwandeln und dabei als Abfallprodukt Sauerstoff zu produzieren, fand das der Rest der Welt nicht wirklich gut. Denn für fast alles andere, was damals lebte, war Sauerstoff ein extrem giftiges Gas. Aber die Photosynthese lief weiter und die “Große Sauerstoffkatastrophe” nahm ihren Lauf. Und aus damaliger Sicht war es tatsächlich eine große Katastrophe; vermutlich das größte Massensterben in der Geschichte der Erde. Nur die wenigen Lebewesen, die sich anpassen und mit dem Sauerstoff klar kommen konnten, haben überlebt. Wir stammen von ihnen ab und der Sauerstoff in unserer Atmosphäre ist für uns lebenswichtig.
Für mich auch – beziehungsweise derzeit noch mehr als sonst. Die 10 Kilometer sind fast vorbei. Ein letztes Stück noch auf dem Weg zum Ziel am Campingplatz. Mittlerweile atmet es sich nicht mehr so einfach wie beim Start und ich hätte nichts gegen ein bisschen Extra-Sauerstoff einzuwenden. Aber es geht auch so. Ich bin angekommen!
Eine vernünftige Zeitmessung mit Chip gibt es bei diesem Lauf nicht, aber meine Laufuhr zeigt mir eine Zeit von 42 Minuten und 48 Sekunden für eine Strecke von 10,15 Kilometern an (siehe auch hier bei Runtastic). Damit bin ich eigentlich ganz zufrieden. Es waren nicht die schnellsten 10 Kilometer, die ich je gelaufen bin, sondern nur die drittschnellsten. Aber es war mein erstes Rennen im Winter und wenn man das fehlende Training während der Feiertage berücksichtigt, dann kann ich über die Zeit und Platz 16 in der Gesamtwertung (bei mehr als 100 Läufern) nicht meckern (Nachtrag: In meiner Altersklasse bin ich sogar auf Platz 2 gelandet).
Jetzt mache ich mich auf den Heimweg. Ich werde eine (heiße!) Dusche nehmen; ein (kaltes!) Bier trinken und mich auf die Silvesterfeier am Abend vorbereiten. Aber davor werde ich nochmal nachlesen, wie das mit den Flechten und Moosen wirklich ist! Das nächste Mal möchte ich auch beim Vorbeilaufen erkennen können, um was es sich handelt!
(Und der Leserschaft wünsche ich ein schönes neues Jahr! Viel Spaß beim Feiern – und falls ihr im neuen Jahr Sport treibt: Viel Erfolg! Und unterwegs nicht auf die Wissenschaft vergessen!)
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