Es mag zwar so aussehen, als würden sich die Linien hier schneiden, aber das liegt eben daran, dass es nur ein zweidimensionales Bild eines dreidimensionalen Raums ist! Die Trajektorie des Lorenzattraktors trifft niemals auf sich selbst. Aber sie kommt sich selbst auch beliebig nahe. Es ist wirklich schwer vorstellbar, wie dieser Attraktor tatsächlich aussieht. Die Linie im Bild ist ja auch nicht der Attraktor selbst, sondern nur ein Phasenraumorbit, der vom Attraktor eingefangen wird. So wie sich eine Trajektorie bei der Pendeluhr immer der geschlossenen Kurve folgt, die das regelmäßige “Tick-Tack” der Uhr repräsentiert, folgt die Linie im Bild der komplexen Struktur des Lorenz-Attraktors. Einer Struktur, die sich mit normaler Geometrie nicht beschreiben lässt… Ein seltsamer Attraktor ist nicht einfach ein Punkt (oder eine Menge von Punkten) oder eine Linie oder eine Fläche. Er ist irgendwas dazwischen, ein Objekt mit einer sogenannten fraktalen Dimension (was das ist, habe ich hier ausführlich beschrieben). Also ein Objekt, das nicht eindimensional wie ein Linie, zweidimensional wie eine Fläche oder dreidimensional wie ein ausgedehnter Körper ist, sondern irgendwas dazwischen. Ein seltsamer Attraktor kann zum Beispiel “flächiger” als eine Linie sein aber immer noch weniger “flächig” als eine echte Fläche und eine Dimension besitzen, die irgendwo zwischen den Zahlen “1” und “2” liegt. Der Lorenz-Attraktor ist nur ein klein wenig fraktal; seine Dimension liegt bei etwa 2,05. Wäre er eine einfache zweidimensionale Fläche im dreidimensionalen Phasenraum, dann wäre er auch zweidimensional. Aber der seltsame Attraktor ist quasi so sehr in sich selbst verdreht, gefaltet und verschachtelt, dass er mehr ist als eine simple Fläche aber immer noch weniger als ein dreidimensionaler Körper.

Mathematisch kann man den seltsamen Attraktor als ein Objekt beschreiben, dass aus einem “normalen” Objekt entsteht, wenn man es immer wieder streckt, verdreht und auf sich selbst zurück faltet. Man kann sich vorstellen, dass das die Dinge enorm komplex macht. Egal wie nahe beieinander zwei Punkte im Phasenraum (die zwei unterschiedliche Anfangszustände repräsentieren) liegen, die ganzen Verdrehungen und Windungen des seltsamen Attraktors sorgen dafür, dass sie am Ende völlig unterschiedliche Wege gehen werden. Das kann man im folgenden Video gut sehen. Die roten Punkte repräsentieren verschiedene, einander ähnliche Ausgangzustände des Systems. Verfolgt man die zukünftige Entwicklung der jeweiligen Systeme, dann folgen die Trajektorien alle dem Attraktor. Die roten Punkte bewegen sich also alle entlang der seltsamen Strukturen die wir im Bild vorhin gesehen haben. Aber jeder Punkt folgt sehr schnell einem völlig anderen Weg. Ein paar landen auf der linken Seite des Attraktors, ein paar auf der rechten und im Laufe der Zeit mischt sich alles komplett durch und die zuvor eng benachbarten Punkte sind am Ende über den ganzen Attraktor verteilt. Oder anders gesagt: Die Modellatmosphären zeigen alle völlig unterschiedliche Zustände, obwohl sie am Anfang alle sehr ähnlich waren:

Auf einem seltsamen Attraktor folgt ein Phasenraumorbit einer unendlich langen, sich nie wiederholenden Bahn. Egal wie lange man wartet: das System wird niemals einen Zustand erreichen, den es vorher schon hatte. Es wird aber unterwegs jedem früher eingenommen Zustand beliebig nahe kommen. Und egal wie klein die Unterschiede zwischen zwei Zuständen am Anfang sind: Am Ende werden sie so groß sein, dass keine Möglichkeit mehr besteht, vom Ende auf den Anfang schließen zu können.

Die seltsamen Attraktoren sind also wirklich seltsam. Und man findet sie nicht nur in Lorenz’ vereinfachten Wettermodell. Man findet sie überall. Egal, ob man die Bewegung von Sternen in Galaxien betrachtet, die Strömung einer Flüssigkeit oder von Wind über einen Flugzeugflügel, die Vermischung von Flüssigkeiten oder irgendein anderes dynamisches System: Wenn ein gewisser Grad an Komplexität überschritten wird, dann wird man auch einen seltsamen Attraktor finden. Und mit ihm das Chaos…

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Kommentare (19)

  1. #1 Marc
    4. Februar 2015

    “Für jeden beliebigen Zeitraum kann man einen Punkt in den Phasenraum zeichnen und am Ende bekommt man so eine Linie, die anzeigt, wie sich der Zustand des Pendels im Laufe der Zeit verändert.”

    Zeitraum oder doch Zeitpunkt? 🙂

  2. #2 Gast
    4. Februar 2015

    Nach meinem Verständnis ist ein Attraktor ist eine Menge.
    Eine Untermenge aller Punkte des Phasenraumes.
    Der Attraktor ist die Menge aller Häufungspunkte des Phasenraumes.
    Ein seltsamer Attraktor ist dann eine etwas exotische Menge.

  3. #3 Florian Freistetter
    4. Februar 2015

    @Gast: “Ein seltsamer Attraktor ist dann eine etwas exotische Menge.”

    Ja, aber das sage ich doch auch in meinem Artikel, oder?

  4. #4 Mystiker343
    4. Februar 2015

    Die Chaostheorie ist in der Tat sehr interessant. Man kann sogar eine Verbindung herstellen zwischen Wissenschaft und Religion (z. B. östlicher Mystik). Sehr gut beschrieben wird dies im Buch “Lebensnetz” von Fritjof Capra. Wir brauchen eine Wissenschaft und Technologie im Einklang mit der Natur. Z. B. können Krampfadern mit der Linsermethode ohne Operation zerstört werden.

  5. #5 Gono
    4. Februar 2015

    Schöner Artikel. Nett finde ich auch die Tatsache, dass die Projektion das Lorenz-Attraktors auf dem Bild aussieht, wie die Flügel eines Schmetterlings. Passend zum Inhalt des Artikels 🙂

    Weiter so Florian!

  6. #6 Severin
    4. Februar 2015

    Hallo Florian,
    schöner Artikel der auch mir das ganze noch mal ein bisschen besser erklärt hat.
    Kennst du die Planetariumsshow “Chaos&Order”? Ich glaube die würde dir gefallen 😉

    Und hier habe ich mal eine Liste zusammen gestellt, was in der Show alles gezeigt wird: https://e-sev.de/chaos.html

    LG,
    Severin

  7. #7 Karla Kolumna
    4. Februar 2015

    […] Wir brauchen eine Wissenschaft und Technologie im Einklang mit der Natur.[…]

    Stimmt die heutige Wissenschaft und neu entwickelten Theorien haben üüüüüüberhaupt nichts mehr mit der Natur zu tun, fällt alles einfach so vom Himmel (ach Mist ist der nicht auch irgendwie Natur…) und das sieht man nirgends so gut wie in der Chaostheorie!

  8. #8 Florian Freistetter
    4. Februar 2015

    @Mystiker: Wenn du jetzt jeden meiner Artikel nutzt, um deinen Pseudowissenschaftsspam unterzubringen, bist du hier schneller rausgeflogen, als du “Om” sagen kannst…

  9. #9 krypto
    4. Februar 2015

    @Florian:
    Super beschrieben, danke!

  10. #10 schlappohr
    4. Februar 2015

    Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie das aussähe, wenn ein normales Pendel auf einem seltsamen Attraktor landen würde. Es würde sich weiterbewegen, dürfte aber nie wieder den gleichen Ort mit der gleichen Geschwindigkeit erreichen. Mir ist klar, dass das physikalisch unmöglich ist. Aber wie würde eine solche Bewegung aussehen?

  11. #11 cassandra
    4. Februar 2015

    Danke 🙂 Florian
    erinnert mich ans Doppelpendel

    @severin wird/wurde diese Shows wirklich in Planetarien gezeigt? Entweder ist sie mir entgangen 🙁 oder in Wien wird sowas generell nicht gezeigt – da kommt echt viel Chaos vor 🙂

    off topic: die “Milliarden Sonnen” der ESA habens uns auch unterschlagen

  12. #12 Robert
    4. Februar 2015

    @Mystiker: Du schreibst “Wir brauchen eine Wissenschaft und Technologie im Einklang mit der Natur […]”. Schon mal das Wort “Naturwissenschaft” gehört? Die Physik (und natürlich auch Chemie und Biologie) dient der Beschreibung der Natur.
    Und was zum Teufel hat denn die Zerstörung von Krampfadern mit dem obigen Artikel zu tun?

  13. #13 Zhar
    4. Februar 2015

    @schlappohr

    nun, vllt wie dies hier. Oder etwas pendelinger

  14. #14 Kyllyeti
    4. Februar 2015

    @Mystiker scheint unter verschiedenen Nicknames immer dasselbe Phrasenkonglomerat immer wieder auf diversen Kommentarseiten  zu posten. Sogar wenn’s vom Thema her kaum dazu passt.

    Einfach mal

    “Z. B. können Krampfadern mit der Linsermethode ohne Operation zerstört werden.”

    in die Suchmaschine eingeben …

     

     

  15. #15 Florian Freistetter
    4. Februar 2015

    @schlappohr: Stell dir ein Pendel vor, dass nicht nur zweidimensional hin und her schwingt, sondern in drei Dimensionen. Und das zB durch Magnete regelmäßig angetrieben wird. So ein Pendel wird dann tatsächlich eine unendlich lange chaotische Bewegung durchführen (google mal nach “chaotic pendulum”, da gibts viele Varianten anzusehen). Aber du darfst dir den Phasenraum NICHT als realen Raum vorstellen. Die Trajektorie beschreibt nicht, wie sich das Pendel bewegt, sondern wie sich Winkel und Geschwindigkeit verändern!

  16. #16 meregalli
    4. Februar 2015

    @kyllyeti
    Ist wohl ein alternativer Varizen-Guru, den müsste man ausmachen können. Wenn er in Österreich tätig ist, ist er juristisch belangbar.
    Die Methode gefällt mir, erinnert mich an DNA-Abgleiche.

  17. […] dessen Versuchen, die Luftströme in der Atmosphäre in einem Computermodell abzubilden. Wie ich anderswo schon ausführlich erklärt habe hat das zur Entdeckung des ersten “seltsamen Attraktors” geführt, also den […]

  18. […] und ein paar meiner Meinung nach sehr interessante Phänomene aus der Chaosforschung vorgestellt (seltsame Attraktoren, Periodenverdoppelung, chaotische Universalität, die Mandelbrot-Menge und Fraktale). Dabei ging es […]

  19. […] den Blog von Florian Freistetter verfolgt konnte dort im Februar eine äußerst interessante Serie von Blogposts zum Thema Chaos finden, in dem Artikel findet ihr auch Links zu einer früheren Serie zum Thema Chaos. In seinem […]