Ich lese gerne Bücher über die Geschichte der Astronomie. Und da stößt man natürlich sehr oft auf diverse Astronomen, über die man mehr erfahren will. Meistens findet sich dann auch irgendwo eine Biografie mit weiterführenden Informationen. Es sei denn, der Astronom ist eine Astronomin. Denn auch die findet man in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder und sie sind leider lange nicht so prominent wie ihre männlichen Kollegen. Ich hatte eigentlich vor, das Jahr 2015 für eine monatliche Serie über Astronominnen zu nutzen und wollte eigentlich für jeden Monat eine entsprechende Biografie auswählen und vorstellen. Aber leider habe ich feststellen müssen, dass es auf dem Buchmarkt sehr wenige biografische Bücher über Astronominnen gibt. Ich wollte mich ursprünglich auf deutschsprachige Ausgaben, die im normalen Handel erhältlich sind beschränken – aber nach ein wenig Recherche war ich froh, wenn ich überhaupt Bücher gefunden habe! Ich hoffe, es reicht am Ende für eine monatliche Serie; ein paar Bücher konnte ich dann doch noch auftreiben. Aber wenn ihr noch entsprechende Vorschläge habt, dann sagt bitte Bescheid!
In den bisherigen Teilen dieser Serie ging es um Astronominnen aus dem 18. Jahrhundert (Caroline Herschel) und dem 19. Jahrhundert (Annie Jump Cannon und Maria Mitchell, die außerdem alle im englischsprachigen Raum tätig waren. Für die April-Ausgabe habe ich mir daher eine Frau aus dem 20. Jahrhundert ausgesucht und eine Österreicherin: Lise Meitner.
Lise Meitner mag vielleicht in einer Serie über Frauen in der Astronomie ein wenig fehl am Platz erscheinen. Ist sie aber nicht! Sie hat zwar nicht in der Astronomie gearbeitet, aber ihre Erforschung der Radioaktivität hat definitiv die Grundlage für viele verschiedene astronomische Erkenntnisse gelegt. Ohne zu verstehen, wie Atome sich durch radioaktiven Zerfall verändern können, kann man auch die Entwicklung der Sterne nicht verstehen. Ohne Kenntnisse über radioaktiven Zerfall wüssten wir nicht über das Alter der Erde Bescheid oder das Alter der Sterne. Radioaktivität ist ein fundamentales Phänomen im Universum und Astronomen sind auf dieses Wissen angewiesen (siehe dazu auch hier). Und Lise Meitner gehört zu den Menschen, die unser Wissen über die Radioaktivität massiv erweitert haben.
Meitner wurde am 7. November 1878 in Wien geboren. Ihre Kindheit ist typisch für viele, die später großes in der Wissenschaft geleistet haben. Sie hat sich von klein auf für Wissenschaft und vor allem für die Physik interessiert – und wurde bei diesem Interesse von ihren Eltern voll und ganz unterstützt. Ihren großen Wunsch, die Physik auch an der Universität studieren zu können, kann sie sich aber nicht gleich erfüllen. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind die Bildungschancen für Frauen immer noch kaum vorhanden. Erst 1899 dürfen sie offiziell die Universitäten besuchen und Lise muss abwarten und ihr Abitur in Privatkursen absolvieren, bevor sie im Oktober 1901 ihr Studium der Mathematik und Physik aufnehmen kann (als eine von nur zwei Frauen, die diese Fächer belegen). Schon 4 Jahre später schließt sie es – ebenfalls als zweite Frau überhaupt – mit der Promotion ab.
Fast von Anfang an hat sich ihr Interesse auf das kurz zuvor entdeckte Phänomen der Radioaktivität entdeckt und ihre erste Arbeit auf diesem Gebiet beschäftigt sich mit den Eigenschaften radioaktiver Strahlen. Eigentlich ist es ihr Plan, nach Paris zu gehen und dort mit Marie Curie zu arbeiten. Davon lässt sie aber wieder ab, da ihr Curies Arbeit zu chemisch ist und sie sich mit der Physik beschäftigen will. Stattdessen wechselt sie im Jahr 1907 nach Berlin um dort bei Max Planck zu arbeiten und zu lernen. Sie lernt dann allerdings den Chemiker Otto Hahn kennen, der ihr sofort sympathisch ist und den sie als idealen Forschungskollegen ansieht. Die Tatsache, dass sie eine Frau und Physikerin ist, scheint für viele Zeitgenossen aber immer noch ein großes Problem zu sein. Hahns Institutschef ist strikt gegen die Anwesenheit von Frauen und lässt sich nur schwer überreden, sie mit Hahn zusammenarbeiten zu lassen. “Wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt, soll es mir recht sein”, lautet sein Kompromissvorschlag.
In diesem Keller beginnt nun die Jahrzehnte dauernde und äußerst erfolgreiche Zusammenarbeit mit Otto Hahn. Die beiden entdecken gemeinsam das neue chemische Isotop Protactinium-231 und andere radioaktive Isotope. Seit 1909 auch in Preußen das Verbot des Frauenstudiums aufgehoben ist, darf Lise Meitner auch offiziell das Institut betreten. Eine offizielle Anstellung (und damit auch ein offizielles Gehalt) bekommt sie aber erst 1913 am neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. Während des ersten Weltkriegs arbeitet sie als Röntgenschwester in den Lazaretten der Ostfront. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin machte sie nun langsam auch offiziell Karriere, nachdem sie zuvor schon mit von den anderen Größen der damaligen Physik (Max Planck, Albert Einstein, Marie Curie, etc) als hervorragende Forscherin anerkannt wurden. 1918 wird sie Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts und 1926 außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität (und damit Deutschlands erste Physik-Professorin).
Mit der Machtergreifung durch Adolf Hitler wird die Lage für die “nicht-arische” Meitner aber kritisch. Sie ist zwar schon vor langer Zeit aus eigener Überzeugung zum Protestantismus konvertiert, aber in der perversen Rassenlehre der Nazis spielt das natürlich keine Rolle. Anfangs ist sie noch zuversichtlich, dass die Lage nicht so schlimm werden wird – aber 1933 wird ihr die Lehrbefugnis entzogen. Aber immerhin war sie noch Österreicherin und damit vor den schlimmsten Auswirkungen des diktatorischen Staatswesens sicher. Das änderte sich 1938 mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland. Jetzt wurde Lise Meitner zwangsweise zur Deutschen und war nicht mehr sicher. Sie konnte noch rechtzeitig nach Schweden flüchten, musste dort allerdings sowohl privat als auch wissenschaftlich im Exil leben, was sie sehr deprimierte. In Berlin führten Otto Hahn (und mittlerweile auch Fritz Strassmann) die gemeinsame Arbeit weiter.
Und gerade jetzt; gerade als Meitner Deutschland verlassen musste, kam es zu ihrem größten wissenschaftlichen Durchbruch. Der Chemiker Hahn fand bei seinen Untersuchungen radioaktiver Zerfallsprodukte Elemente, die er sich nicht erklären konnte. Im Dezember 1938 schreibt er an Lise Meitner: “Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren.”.
Man wusste zwar schon, dass chemische Elemente sich umwandeln können. Sie können durch Abgabe radioaktiver Strahlung zu anderen Elementen werden. Aber man ging immer davon aus, dass es dabei nur zu Umwandlungen innerhalb der “Nachbarschaft” des Periodensystems kommen kann. Elemente sollten durch Radioaktivität nur kleine Teile ihres Kerns abstrahlen und sich so verändern können. Das, was Hahn bei seinen chemischen Analysen beobachte, schien dazu aber nicht zu passen. Er fand nicht die erwarteten Zerfallsprodukte. Aber Lise Meitner hatte die richtige Idee und konnte tatsächlich “etwas ausrechnen”. Sie fand heraus, das eigentlich nur eines passiert sein konnte: Der Kern der bei den Experimenten untersuchten Uran-Atome hatte sich nicht nur leicht verändert. Er hatte sich gespalten!
Hahn und Meitner hatten die Kernspaltung entdeckt und Meitner rechnete auch sofort aus, das dabei jede Menge Energie frei werden musste (Einsteins berühmte Formel zur Äquivalenz von Masse und Energie war ihr natürlich bekannt). Was das bedeutet, erfährt Meitner erst 1945, als in Japan die erste Atombombe abgeworfen wurde. Schlagartig rückt die Kernspaltung in den Fokus der Öffentlichkeit und damit auch Meitner selbst. Hahn ist zu dieser Zeit mit den anderen deutschen Kernphysikern in britischer Gefangenschaft. Im Gegensatz zu ihren ehemaligen Kollegen hat Meitner aber nie an der Atombombe geforscht und entsprechende Angebote aus den USA immer wieder abgelehnt. Sie war überzeugte Pazifistin und blieb das auch nach Ende des zweiten Weltkriegs.
1945 wurde auch der Nobelpreis für Chemie wieder verliehen und zwar an Otto Hahn für “seine” Entdeckung der Kernspaltung. Lise Meitner ging leer aus. Sie war darüber nicht sonderlich wütend, dafür aber verstimmt, das ihr alter Freund Hahn nichts tat, um in der Öffentlichkeit auf ihre gemeinsame Arbeit hinzuweisen. Aber zumindest in den USA wurde Meitner 1946 als “Frau des Jahres” ausgezeichnet, traf den Präsidenten und wurde von den Medien regelrecht belagert. Davon war sie nicht sonderlich begeistert; ebenso wenig wie von der atomaren Aufrüstung, die nun nach dem Krieg stattfindet. Meitner ist strikt gegen eine militärische Nutzung der Atomkraft.
Lise Meitner kehrt – trotz entsprechender Angebote – nach dem Krieg nicht mehr nach Deutschland zurück. Sie ist entsetzt darüber, wie ihre deutschen Kollegen den Horror des Holocaust verdrängen und komplett zu vergessen scheinen, was sie während des Kriegs getan haben. Meitner bleibt in Schweden, setzt ihre eigene Forschung fort – engagiert sich aber auch verstärkt in der Friedensbewegung und für die Gleichberechtigung der Frauen.
Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968 in Cambridge, wohin sie wenige Jahre zuvor übersiedelte. Einen Nobelpreis hat sie nie bekommen, obwohl sie dreimal für den Physik-Preis nominiert wurde. In den 1950er und 1960er Jahren bekam sie diverse andere Preise verliehen – aber im Deutschen Museum, wo heute der Arbeitstisch zu besichtigen ist, an dem Hahn und Meitner damals geforscht habe, dauert es noch bis 1990, bevor neben Hahns Namen auch der von Lise Meitner zu finden ist.
Lise Meitner gehört unbestreitbar zu den großen Wissenschaftlerinnen des letzten Jahrhunderts. Ihre Entdeckungen haben dazu beigetragen, die Welt fundamental zu verändern. Ihre wissenschaftlichen Leistungen hätten einen Nobelpreis mehr als verdient und ihre Biografie sollte eigentlich mindestens so bekannt sein wie die ihrer Kollegin Marie Curie. “Das Leben muss nicht leicht sein, wenn es nur inhaltsreich ist”, sagte Meitner bei einer Rede, die sie in Wien hielt. Und Meitners Leben war definitiv nicht leicht, dafür aber auch definitiv inhaltsreich. Trotz aller Ehrungen ist Lise Meitner aber nie so prominent geworden, wie sie durch ihre Arbeit eigentlich hätte werden sollen. Aber zumindest ist sie doch noch so bekannt, dass über ihr Leben mehr als nur ein Buch geschrieben worden ist.
Das, das ich gelesen habe heißt “Lise, Atomphysikerin”*, ist von Charlotte Kerner und soweit ich weiß, war es die erste Biografie die über Meitner geschrieben worden ist. Ich kann das kleine Buch nur uneingeschränkt empfehlen! Es gibt einen umfassenden Überblick über Meitners Leben, eine verständliche Erklärung ihrer wichtigsten Arbeiten und vor allem einen sehr packenden und spannenden Einblick in die persönlichen Beziehungen zwischen Meitner, Hahn und all den anderen großen Forschern der damaligen Zeit. Meitners Leben ist in jeder Hinsicht inspirierend. Sie war, wie es auch auf ihrem Grabstein steht, “Eine Physikerin, die niemals ihre Menschlichkeit verlor.”
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