So wie in den Beschleunigern der Wissenschaftler entstehen auch bei den Kollisionen zwischen kosmischer Strahlung und Erdatmosphäre neue Teilchen. Hoch oben über unseren Köpfen wurde das intensiv gesuchte Higgs-Boson schon in großen Mengen produziert, lange bevor es die Physiker im Jahr 2012 endlich nachweisen konnten. Aber um diesen Nachweis führen zu können, war der Bau einer gigantischen Maschine wie dem LHC eben unumgänglich. Die vom Universum veranstalteten Kollisionexperimente nutzen uns nicht viel, wenn wir nicht auch passende Detektoren haben die die Resultate aufzeichnen können. Und wenn wir weiterhin und vor allem besser verstehen wollen, wie das Universum funktioniert, werden wir demnächst auch neue Beschleuniger brauchen.
Warum entstand beim Urknall mehr Materie als Antimaterie? Woraus besteht die dunkle Materie? Welche Eigenschaften hat das Higgs-Teilchen? Woraus besteht alles wirklich? Das sind Fragen, auf die wir immer noch keine Antwort haben und um diese Antworten irgendwann finden zu können, wird der LHC nicht ausreichen, ist Carlo Rubbia erzeugt. Um die Genauigkeit und Reichweite der Experimente zu erhöhen, müssten wir noch gigantischere Anlagen bauen. Einen unterirdischen Ring mit einer Länge von 100 Kilometern, gegen den der LHC wie ein Kinderspielzeug aussieht zum Beispiel, oder einen 50 Kilometer langen Linear-Beschleuniger. Diese Maschinen wären noch teurer als die bisherigen und es würde viel länger dauern, sie zu bauen. Und selbst dann wäre zweifelhaft, ob sie wirklich in der Lage wären, die Experimente in der Qualität durchzuführen, die sich die Wissenschaftler wünschen.
Rubbia will für die Zukunft auf eine ganz andere Technik setzen; eine Technik, in der sich ein weiteres Mal die tiefe Verbindung zwischen Kosmos und der Welt der winzigen Teilchen zeigt. Er möchte, dass in den Beschleunigern der Zukunft Myonen miteinander kollidieren. Dieses Elementarteilchen wurde im Jahr 1936 entdeckt und zwar nicht in Beschleunigern, sondern eben bei der Untersuchung der kosmischen Strahlung: Myonen sind das Resultat der hochenergetischen Kollisionen über unseren Köpfen. Die Teilchen ähneln den Elektronen, sind aber ungefähr 200 Mal schwerer und existieren nur ein paar Millionstel Sekunden lang, bevor sie wieder zerfallen. Ihre große Masse macht sie ideal für den Einsatz in Beschleunigern; ihre kurze Lebensdauer ist der Grund, warum sie bisher nicht eingesetzt worden sind.
Im LHC lassen die Wissenschaftler zur Zeit Protonen miteinander kollidieren. Die sind leicht zu kriegen, aber selbst keine Elementarteilchen und die Zusammenstöße daher nicht “sauber”. Es treffen eben nicht einzelne Teilchen aufeinander, sondern zusammengesetzte Objekte. Bei der Kollision der elementaren Elektronen hat man dieses Problem nicht, aber weil sie so leicht sind, muss man sehr viel Energie aufwenden, um sie mit ausreichend hoher Energie aufeinanderprallen zu lassen. Das ist bei den schwereren Myonen einfacher und da auch sie elementar sind, denken die Wissenschaftler schon lange über Myonen-Beschleuniger nach. Man muss nur einen Weg finden, sie während ihrer kurzen Lebensdauer ausreichend zu kontrollieren und zu fokussieren, damit zwei Myonenstrahlen auch wirklich kollidieren und nicht aneinander vorbei laufen.
Aber Rubbia ist überzeugt, dass genau das technisch machbar ist. Und dass der Bau eines Myonen-Beschleunigers politisch viel leichter durchzusetzen wäre. Brauchbare Ergebnisse bekäme man hier schon mit vergleichsweise kleinen Anlagen. Anstatt einen 100 Kilometer langen Tunnel unter dem Genfer See und weit unter der Schweiz und Frankreich hindurch zu graben, käme man mit einem wenige dutzend bis hunderte Meter durchmessenden Beschleuniger zurecht, den man problemlos in den bisherigen CERN-Komplex integrieren könnte. Die Kosten würden nur einen Bruchteil dessen betragen, was man aufwenden müsste, wenn man die bisherige Technik immer weiter vergrößert. Noch aber ist es nicht so weit. Rubbias Zukunftstechnologie für die Astro-Teilchenphysik ist noch nicht etabliert genug, um eingesetzt zu werden. Aber er ist überzeugt davon, dass es der richtige Weg ist, wenn wir mehr über die Verbindung zwischen der Welt des Kleinen und der Welt des Großen erfahren wollen.
Kommentare (45)