Ich lese gerne Bücher über die Geschichte der Astronomie. Und da stößt man natürlich sehr oft auf diverse Astronomen, über die man mehr erfahren will. Meistens findet sich dann auch irgendwo eine Biografie mit weiterführenden Informationen. Es sei denn, der Astronom ist eine Astronomin. Denn auch die findet man in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder und sie sind leider lange nicht so prominent wie ihre männlichen Kollegen. Ich hatte eigentlich vor, das Jahr 2015 für eine monatliche Serie über Astronominnen zu nutzen und wollte eigentlich für jeden Monat eine entsprechende Biografie auswählen und vorstellen. Aber leider habe ich feststellen müssen, dass es auf dem Buchmarkt sehr wenige biografische Bücher über Astronominnen gibt. Ich wollte mich ursprünglich auf deutschsprachige Ausgaben, die im normalen Handel erhältlich sind beschränken – aber nach ein wenig Recherche war ich froh, wenn ich überhaupt Bücher gefunden habe! Ich hoffe, es reicht am Ende für eine monatliche Serie; ein paar Bücher konnte ich dann doch noch auftreiben. Aber wenn ihr noch entsprechende Vorschläge habt, dann sagt bitte Bescheid!
Die bisherigen Teile dieser Serie findet ihr hier.
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In den bisherigen sieben Teile dieser Serie über Frauen in der Astronomie habe ich ausschließlich Wissenschaftlerinnen behandelt, die zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert gelebt haben. Das liegt natürlich einerseits daran, dass die Astronomie als moderne Wissenschaft sich im Wesentlichen erst im 17. Jahrhundert entwickelt hat. Es liegt auch daran, dass um so weniger Quellen vorhanden sind, je weiter man zurück in die Vergangenheit geht. Und es liegt daran, dass die Frauen im Mittelalter und der Antike noch viel weniger Möglichkeiten hatten in der Wissenschaft zu arbeiten als ihrer Kolleginnen der Neuzeit.
Eine berühmte Ausnahme ist Hypatia von Alexandria, die im 4. Jahrhundert in Nordafrika lebte. So gut wie immer, wenn ich bisher über die Frauen in der Astronomie geschrieben habe, habe ich mich darüber beschwert, dass es über ihr Leben und ihre Arbeit kaum vernünftige, allgemeinverständliche Literatur gibt. Und das sie viel weniger bekannt sind, als es ihrer eigentlichen Bedeutung für die Wissenschaft zustehen würde. Bei Hypatia ist das völlig anders. Über sie gibt es nicht nur jede Menge Bücher; es wurden auch Romane geschrieben, Theaterstücke aufgeführt, Musik komponiert, Kinofilme gedreht und eine Vielzahl an Wissenschaftlern haben in der Vergangenheit ihr Leben erforscht. Es besteht definitiv kein Mangel an Material über Hypatia. Was einerseits gut ist, andererseits aber auch ein wenig überraschend, denn an tatsächlichen Quellen ist kaum etwas überliefert. Keines ihrer Werke hat bis in die Gegenwart überlebt. So gut wie alles, was wir über sie wissen, wissen wir aus Texten die von anderen Leuten meistens nach ihrem Tod geschrieben worden ist. Aber gerade ihr Tod hat dafür gesorgt, dass sie bis heute nicht vergessen ist!
Hypatia wurde irgendwann um das Jahr 355 in Alexandria geboren. Ihr Vater war Theon von Alexandria, ein Mathematiker und Astronom der als Wissenschaftler an der berühmten Bibliothek von Alexandria arbeitete. Theons Arbeiten haben zumindest teilweise bis heute überlebt; vor allem seine Übersetzung von Euklids “Elemente”, die bis ins 19. Jahrhundert verwendet und gelesen wurde. Was seine Tocher Hypatia angeht, ist die Quellenlage dürftig. Sie hat wohl bei ihrem Vater Mathematik und Astronomie gelernt. Und danach diese Fächer auch selbst unterrichtet, was darauf hindeutet, dass sie durchaus begabt gewesen sein dürfte. Angaben einer Enzyklopädie aus dem 10. Jahrhundert zufolge war sie auch rhetorisch sehr talentiert und konnte eine große Zahl an Schülern um sich versammeln. Sie vertrat eine neuplatonische Philosophie, war Kynikern, im Umgang mit Menschen und ihren Schülern offenbar immer wieder provozierend und im damals weitestgehend christlichen Alexandria eine überzeugte “Heidin”.
Es ist nicht belegt, ob Hypatia “offiziell” an der Bibliothek von Alexandria beschäftigt war oder quasi als freie Dozentin in der Öffentlichkeit ihre Philosophie und Wissenschaft vermittelte. Es ist auch nicht überliefert, worin genau ihre wissenschaftliche Tätigkeit bestanden hat. Sie soll die Arithmetik des berühmten Diophantos kommentiert haben und auch die Arbeit über Kegelschnitte von Apollonios von Perge, einem der Begründer der Epizykeltheorie der Planetenbewegung. Sie hat vermutlich auch das fundamentale astronomische Werk des Ptolemäus bearbeitet oder kommentiert und eventuell selbst einen Katalog mit astronomischen Daten veröffentlicht. Aber was sie sonst noch gemacht hat und ob sie die vorhin genannten Arbeiten wirklich durchgeführt oder etwas ganz anderes getan hat, ist unklar. Es wird manchmal behauptet sie hätte das Astrolabium erfunden, aber auch das ist nicht der Fall (obwohl ihr Vater Theon eine Arbeit über dieses astronomische Gerät geschrieben hat).
Wir wissen also eigentlich nur, dass Hypatia in Alexandria gelebt hat, dort Philosophie, Mathematik und Astronomie betrieben hat und damit scheinbar sehr erfolgreich war. Wir wissen, dass sie nie geheiratet hat, ein Leben führte das für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnlich war und das sie keine Hemmungen hatte, ihr Umfeld zu provozieren. Wir wissen, das sie gestorben ist und wir wissen vor allem, wie sie gestorben ist: Durch einen gewaltsamen Tod.
Die genauen Umstände sind ziemlich verwirrend und kompliziert und haben auf den ersten Blick auch wenig mit Hypatia selbst zu tun. In Alexandria gab es damals generell jede Menge Streit zwischen den Religionen. Neben den Christen lebten dort auch Juden und viele Anhänger diverser griechischer und ägyptischer Kulte. Und damit hatte vor allem der Patriarch von Alexandria, Theophilos, ein Problem. Nicht so sehr mit der Lehre der anderen Religionen sondern mit den kultischen Handlungen. Er lies deswegen zum Beispiel auch das Serapeum zerstören, einen Tempel des Gottes Serapis. Die Christen duldeten zwar den Unterricht der (neu)platonischen und nicht-christlichen Lehren, stellten sich aber gegen die kultischen Praktiken und Rituale der nicht-christlichen Religionen. Dann starb Theophilos und sein Neffe Kyrill wurde sein Nachfolger. Der legte sich zuerst mit den Juden an und beide Parteien begannen, sich immer aggressiver zu bekämpfen. Orestes, der Präfekt der Stadt war zwar Christ, stand aber zwischen den Gruppen, probierte, den Frieden aufrecht zu erhalten und wurde so ebenso zum Angriffsziel für die radikalen Christen unter Kyrill. Und hier kommt jetzt Hypatia ins Spiel: Sie gehörte zum Umfeld von Orestes, war eine prominente und bekannte Nicht-Christin und wurde von Kyrill deswegen angegriffen, um so indirekt Orestes zu treffen. Gerüchte wurden verbreitet, nach denen Hypatia Orestes daran hindern würde, einem Frieden zwischen weltlicher und kirchlicher Macht in der Stadt zuzustimmen. Die Stimmung heizte sich immer mehr auf und irgendwann zog ein Mob radikaler Christen durch die Stadt, der Hypatia verschleppte, folterte und schließlich tötete.
Dieser “Märtyrer”-Tod der Hypatia hat ihre Rezeption in den kommenden Jahrhunderten viel mehr bestimmt als es ihr Leben je tun hätte können. Ohne diesen gewaltsamen Tod mit all seinen religiösen Implikationen würde man die antike Astronomin heute wahrscheinlich kaum mehr kennen. Aber so wurde sie zur Identifikationsfigur für Atheisten, Kirchenkritiker, Feministen und andere Freigeister. Und einerseits ist es zwar gut, dass Hypatia auf diese Weise dem Vergessen entrissen wurde und nicht das Schicksal ihrer Kolleginnen teilen muss, die heute ungerechterweise kaum jemand kennt. Andererseits wird Hypatia ob ihres dramatischen Tods aber auch oft einfach instrumentalisiert und ihr Leben ohne Rücksicht auf Fakten und historische Genauigkeit an die jeweils gewünschte Propaganda angepasst. Es existiert zwar tatsächlich viel Literatur und Material über Hypatia, aber in vielen dieser Werke wird ihr Leben – großzügig formuliert – sehr “frei” interpretiert.
Ich habe mir zum Beispiel das Buch “Hypatia von Alexandria: Eine Geschichte aus dem Altertum. Lebensgeschichte der berühmten Mathematikerin, Astronomin und Philosophin”* von Fritz Mauthner besorgt, in der Annahme, es handle sich dabei um eine Biografie bzw. einen einigermaßen getreuen biografischen Roman. Aber das Buch aus dem Jahr 1892 ist weder das eine noch das andere (man kann es übrigens auch online kostenlos lesen). Es ist ein Roman und er handelt auch vom Leben der Hypatia. Aber Mauthner hat hier eindeutig die Kritik an der Kirche in den Vordergrund gestellt und ist mit dem Leben der Astronomin sehr frei umgegangen. Das Buch ist durchaus lesbar, wenn auch stellenweise ein wenig anachronistisch; nicht nur, weil es eben schon über 100 Jahre alt ist, sondern auch weil es die Vorgänge in der Antike in einem Stil schildert, der besser in das 19. Jahrhundert passen würde (Es ist zum Beispiel ein wenig seltsam, wenn Hypatia im Buch als “Fräulein Professor” angesprochen wird…). Wer ein – stellenweise sehr plakatives und manchmal auch ein wenig plumpes – Buch über Religionsstreit in der Antike und Kirchenkritik lesen will, hat mit dem Werk von Mauthner sicher viel Freude. Aber wer einen seriösen Eindruck über das Leben von Hypatia gewinnen will, wird enttäuscht werden.
Ich habe mir daher auch noch das Buch “Hypatia of Alexandria”* von Maria Dzielska bestellt. Dort wird immerhin versprochen:
“In this book, Maria Dzielska searches behind the legend to bring us the real story of Hypatia’s life and death, and insight into her world.”
Ob das aber auch wirklich der Fall ist, kann ich leider noch nicht beurteilen, da die Lieferung länger dauert, als ich für diesen Artikel eingeplant hatte. Aber lesen werde ich das Buch natürlich trotzdem und dann an anderer Stelle davon berichten! In der Zwischenzeit würde ich mich über weitere Literaturhinweise freuen.
Ach ja: Den Film Agora – Die Säulen des Himmels von Alejandro Amenábar habe ich mir auch angesehen. Er ist durchaus gut gemacht, wenn auch stellenweise für meinen Geschmack etwas langatmig. Man bekommt einen guten Eindruck wie das Leben einer Astronomin zu dieser Zeit gewesen sein könnte. Aber biografische Seriosität würde ich dem Film trotzdem nicht unbedingt attestieren. Dafür wird Hypatia ein wenig zu sehr als Übermensch dargestellt. Und das sie entdeckt hat, dass die Planeten sich auf elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen, ist genau so unbelegt wie so gut wie alles andere, was ihr zugeschrieben wird… Aber schaut ihn euch am besten selbst an. Hier ist ein Trailer:
Hypatia war ohne Frage eine mutige Frau. Eine Frau, die die Welt verstehen wollte und sie vielleicht besser verstanden hat, als viele ihrer (männlichen) Zeitgenossen. Hypatia war eine selbstbestimmte Frau die sich nicht den Zwängen ihrer Zeit beugen wollte und die diese Einstellung schließlich mit ihrem Leben bezahlen musste. Hypatia hat viele Menschen und vor allem viele Frauen inspiriert. Aber was sie wirklich war und im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit wirklich herausgefunden hat, werden wir vermutlich nie erfahren. Und das ist schade. Ich bin sicher, ihr reales Leben wäre mindestens so spannend und inspirierend wie all die Legenden, die sich im Laufe der Jahrhunderte um sie gebildet haben.
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