Man darf die Kräfte aber nicht isoliert betrachten. So wie vorhin bei der zweiten falschen Erklärung müssen wir uns die Situation vom Erdmittelpunkt aus ansehen. Oder, mathematisch formuliert, wir müssen die Stärke und die Richtung der im Erdmittelpunkt wirkenden Kraft von der Stärke und Richtung der am Nordpol wirkenden Kraft abziehen und nachsehen, welche Stärke und Richtung die Kraft hat, die übrig bleibt. Tut man das, dann sieht man, dass die resultierende Kraft mehr oder weniger ziemlich genau nach unten, in Richtung des Erdmittelpunktes zeigt. Beim Südpol gilt das gleiche. An diesen beiden Punkten sorgt die Gezeitenkraft des Mondes also dafür, dass man quasi ein klein wenig fester auf die Erdoberfläche gedrückt wird, als es ohne Mond der Fall wäre. Die Erdoberfläche hat aber noch mehr Punkte als nur den Nord- und den Südpol. Bestimmt man für jeden Punkt die Richtung und Stärke der Kraft, dann zeigt sich ein interessantes Bild.
Je weiter man vom Nord- oder Südpol in Richtung Äquator geht, desto stärker ist die resultierende Gezeitenkraft vom Boden weg und in Richtung Mond gerichtet. Dort, genau am mondnächsten Punkt gilt dann das, was schon in der zweiten Erklärung gegolten hat und die Kraft ist direkt auf den Mond selbst gerichtet. NUR DORT sorgt der Mond dafür, dass irgendwas zu ihm hin gezogen wird (bzw. von ihm weg, wenn wir den mondfernsten Punkt betrachten). An allen anderen Punkten der Erde “hebt” der Mond nichts, sondern die Gezeitenkraft sorgt dafür, dass die Dinge ein klein wenig zur Seite geschoben werden.
Und jetzt kann man auch verstehen, warum Ebbe und Flut nur in großen Gewässern entstehen. Beziehungsweise sichtbar sind, denn entstehen tun sie tatsächlich überall. Aber eben überall nur mit der vorhin erwähnten enorm geringen Stärke. Die Ozeane aber sind groß. Jeder kleine Tropfen Wasser wird von den Gezeitenkräften ein klein wenig an der Erdoberfläche entlang geschoben. Und drückt dabei auf all die Tropfen, die in seiner Umgebung sind. Ist die Menge an Wasser groß genug, dann summiert sich das irgendwann, so dass am Ende das ganze Wasser des Ozeans so stark schiebt, dass es sich am mondnächsten bzw. mondfernsten Punkt zu einem Flutberg auftürmt. In kleineren Gewässern reicht die Menge nicht aus, um eine ausreichende Kraft zu entwickeln und dort sehen wir keine merkbaren Gezeiten.
Die Ozeane werden durch den Mond also nicht angehoben wie in der ersten Erklärung und auch nicht auseinander gezerrt wie in der zweiten Erklärung. Das Wasser wird stattdessen von überall her in Richtung des mondnächsten bzw. mondfernsten Punktes gedrückt, bis sich dort ein Flutberg gebildet hat.
Die Realität ist natürlich noch viel komplizierter. Da wäre zum Beispiel die Sonne, die zwar viel weiter weg ist als der Mond aber auch viel schwerer. Sie übt ebenfalls eine Gezeitenkraft aus, die bis zu 46 Prozent der Gezeitenkraft des Mondes ausmacht. Je nachdem wie Sonne und Mond im Verhältnis zur Erde stehen und je nachdem wie sich dann die wirkenden Kräfte gegenseitig verstärken oder abschwächen, können Ebbe und Flut stärker oder schwächer als normal ausfallen. Dass nennt man dann “Springflut” oder “Nippflut”. Und die Erde ist ja auch nicht komplett von Wasser bedeckt. Die Ozeane sind von den Küstenlinien begrenzt und je nachdem wie die verlaufen können sie sich dem Fluss der Gezeiten entgegenstellen, sie abschwächen oder das Wasser durch Engstellen zwingen und damit viel höhere Fluten erzeugen als normal zu erwarten wären.
Wie gesagt: Die Gezeiten sind hinterhältig. Man muss sich ein wenig anstrengen, wenn man wirklich verstehen will, wie sie funktionieren. Aber am Ende läuft alles nur auf die gute alte Gravitation von Isaac Newton hinaus.
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