Dieser Artikel ist Teil der blogübergreifenden Serie “Running Research – Denken beim Laufen”, bei der es um die Verbindung von Laufen und Wissenschaft geht. Alle Artikel der Serie findet ihr auf dieser Übersichtseite
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Im letzten Jahr bin ich viel gelaufen und habe immer wieder über die Wissenschaft gebloggt, die mir dabei begegnet ist. Auch im aktuellen Jahr laufe ich – aufgrund meiner veränderten beruflichen Tätigkeit derzeit allerdings auch ein wenig meiner Form hinterher. Meine frühere Kondition habe ich halbwegs wieder zurück und die langen Strecken gehen wieder problemlos. Nur mit der Geschwindigkeit hapert es noch ein wenig. Aber die Sache mit der Geschwindigkeit ist sowieso eine fiese Sache, nicht nur sportlich sondern auch wissenschaftlich und philosophisch.
Im Frühjahr und Sommer des letzten Jahres konnte ich ziemlich regelmäßig und gezielt trainieren. Ich bin viele Wettkämpfe gelaufen und habe meine Geschwindigkeit bei den Läufen kontinuierlich gesteigert bis ich im September 2015 endlich einmal die 10 Kilometer in weniger als 40 Minuten absolvieren konnte. Diese Form habe ich heute nicht mehr; vor allem weil ich nur noch selten zu einem vernünftigen Training komme.
Ein typischer Tag sieht eher so aus wie heute: Am Vortag bin ich bis um 23 Uhr auf der Bühne gestanden; danach musste noch aufgeräumt werden; die Show des nächstes Tages wurde besprochen; man plaudert ein wenig mit dem Publikum, isst noch eine Kleinigkeit und irgendwann um 2 Uhr landet man dann in einem fremden (Hotel)Zimmer. Nach wenig Schlaf geht man dann laufen; irgendwo in einer Umgebung wo man selten gelaufen ist und wo man meistens auch keine optimalen oder vertrauten Bedingungen vorfindet. So kriegt man zwar genug Kilometer zusammen und sieht dabei jede Menge von der Gegend. Aber ein vernünftiges Training sieht anders aus.
Um zumindest wieder ein bisschen schneller werden, probiere ich, wann immer es geht ein wenig Intervalltraining einzubauen. Heute war ich aber in Wien und nicht weit weg vom Prater mit seiner berühmten Hauptallee. Diese schnurgerade vier Kilometer lange Strecke mitten durch den Prater ist bei den Wiener Läuferinnen und Läufer sehr beliebt. Ich kann zwar nicht verstehen warum – es gibt kaum etwas langweiligers als gerade aus zu laufen – aber für ein bisschen Tempotraining eignet sie sich ganz gut.
Obwohl das mit dem Tempo ja so eine Sache ist. Wenn ich an Punkt A los laufe und an Punkt B ankomme, dann ist es leicht eine Durchschnittsgeschwindigkeit zu berechnen. Ich muss nur die Distanz zwischen A und B durch die Zeit teilen, die ich benötigt habe um die Strecke zu durchlaufen und bekomme eine Geschwindigkeit. Ich bin heute am Rathaus losgelaufen, bis in den Prater und dort einmal die Hauptallee auf und ab und dann wieder zurück zum Hotel. Insgesamt waren das 17,1 Kilometer und gebraucht habe ich dafür 1 Stunde und 19 Minuten. Das entspricht einer Geschwindigkeit von fast 13 km/h.
So weit, so klar. Aber wenn man ein wenig genauer darüber nachdenkt, wird es kompliziert. Betrachten wir einmal nur die Hauptalle selbst. Wenn am Praterstern los laufe und am Lusthaus wieder stehen bleibe, habe ich 4,2 Kilometer zurück gelegt. Ich habe dafür heute 17 Minuten und 28 Sekunden gebraucht. Das entspricht einer Geschwindigkeit von 14,43 km/h. Bin ich also die ganze Strecke in dieser Geschwindigkeit gelaufen? Nein, sicher nicht. Das ist nur der Durchschnittswert und ich bin nicht konstant gelaufen.
Ich habe mir für meinen heutigen Tempoversuch unter anderem deswegen die Hauptallee ausgesucht, weil dort normalerweise immer viele andere Läuferinnen und Läufer unterwegs sind. Man hat also meistens immer jemanden, der vor einem läuft und den man zu überholen probieren kann. Das ist praktisch, denn das verhindert, dass man beim langweiligen Geradeauslauf in einen Trott verfällt und unmerklich Geschwindigkeit abbaut. Heute war aber im Prater erstaunlich wenig los. Ich habe also die Musik auf meinem Handy eingeschaltet und mich von “Helvetios” von Eluveitie antreiben lassen. Musik ist fast noch besser zur Motivation als andere Läufer. Es kommt aber auf den Rhythmus an. Bei schnelleren Liedern läuft man schneller; bei langsamen ein wenig langsamer. Ich bin also sicherlich schneller gelaufen, als ich auf Kilometer 1 das flotte “Luxtos” gehört habe und sicherlich ein wenig langsamer als auf Kilometer 4 dann das sehr coole aber nicht ganz so fetzige “Alesia” kam.
Kilometerzwischenzeiten zu messen ist kein Problem. Meine Laufuhr macht das ganz automatisch. Ich kann leicht ablesen, wie schnell ich jeden einzelnen Kilometer gelaufen bin. Und theoretisch wäre es auch einfach, Zwischenzeiten für alle 100 Meter, alle 10 Meter oder jeden einzelnen Meter zu messen. Vielleicht sogar für jeden halben Meter; jeden Zentimeter oder jeden Millimeter. Aber das sind immer noch alles Durchschnittszeiten. Wie schnell war ich, als ich an der Abzweigung zum Ernst-Happel-Stadion vorbei gelaufen bin? Wie schnell war ich exakt, an diesem einen exakten Punkt?
Die Frage nach der Geschwindigkeit die ein bewegtes Objekt an einem konkreten Punkt hat, ist alt. Sie wurde schon vor 2500 Jahren vom griechischen Philosophen Zenon von Elea gestellt. In seinem berühmten Pfeil-Paradoxon behauptete Zenon, dass Bewegung an sich unmöglich wäre. Denn wann immer meinen einen bestimmten Punkt betrachtet, würde sich dieses Objekt nicht bewegen. Und da diese für jeden Punkt einer Strecke gelten müsse, kann eine Bewegung nicht stattfinden.
Aus Zenons Sicht hatte ich also an der Abzweigung zum Stadion auf der Hauptallee keine Geschwindigkeit sondern war in Ruhe. Genau so wie an jedem einzelnen anderen Punkt der Strecke. Ich habe mich also nicht bewegt. Nun, die verschwitzte Kleidung die gerade im Badezimmer des Hotels trocknet, behauptet etwas anderes und für mich hat es sich definitiv so angefühlt, als hätte ich mich bewegt!
Und natürlich war auch Zenon klar, dass irgendwas mit seiner Logik nicht stimmt. Deswegen heißt es ja auch “Paradox”. Und mittlerweile wissen wir auch, wie sich das Problem lösen lässt. Im 17. Jahrhundert haben Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibnitz unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung entwickelt. Eine mathematische Methode also, mit der sich auch unendliche kleine Größen bearbeiten lassen. Mit der Infinitesimalrechnung kann man die Strecke zwischen A und B immer kleiner und kleiner machen, bis sie irgendwann unendlich klein ist. Die Geschwindigkeit die ein Objekt dann in einem konkreten Punkt hat, entspricht dann genau dem Grenzwert für den Fall der unendlich kleinen Strecke.
Ich will die Details dieser mathematischen Methode jetzt gar nicht vorstellen (das sollte ja eigentlich auch in der Schule unterrichtet worden sein). Zenons Paradox zeigt uns jedenfalls, wie wichtig es ist, die Natur mit einem vernünftigen Modell zu beschreiben. Verwendet man ein falsches, dann führt das zu paradoxen und unmöglichen Aussagen, so wie im Fall von Zenon und der unmöglichen Bewegung.
Was die Geschwindigkeit angeht ist die Sache also mittlerweile zumindest mathematisch gelöst. Sportlich muss ich immer noch ein wenig arbeiten. Ich war zwar heute ganz zufrieden; angesichts der Umstände war meine Zeit auf der Hauptallee eigentlich ganz brauchbar. Und ich bin optimistisch, im Frühling wieder schneller zu werden. Wie gut meine Form wirklich ist, wird sich am 3. April zeigen, wenn ich beim Linz-Marathon mitlaufe. Ich bin gespannt, ob ich an meine Marathon-Zeiten vom letzten Jahr anschließen kann oder noch länger trainieren muss, um meine alte Form wieder zu bekommen.
So oder so werde ich weiterlaufen. Bewegung ist nicht nur nicht unmöglich; sie macht auch jede Menge Spaß. Ganz egal, wie schnell man dabei ist!
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