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Das sagt die Autorin des Artikels, Kathi Keinstein über sich:
Ich bin Chemikerin sowie angehende Lehrerin und blogge Geschichten aus Natur und Alltag auf www.keinsteins-kiste.ch.
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Chemie ist überall – alles ist Chemie: Warum es unter Stoffen kein Gut und Böse gibt
Letztes Jahr erhielt ich von meiner Schwägerin ein duftiges Weihnachtsgeschenk: Ein Fläschchen mit einer Duft-Essenzmischung. “Diese Essenzen lassen aufatmen” steht darauf, und aus 100% naturreinen ätherischen Ölen soll der Inhalt bestehen. Wunderbar! Das natürliche Aroma von Wald, Kräutern und Gewürzen für das eigene Zimmer, ganz ohne Zusatzstoffe – mag so mancher denken, der von der Sanftheit und Verträglichkeit der Natur überzeugt sein mag. Und der das Fläschchen noch nicht umgedreht hat.
Auf dessen Rückseite prangen nämlich gleich vier rotumrandete Rauten mit alarmierenden Symbolen darin, wie man sie von Chemikalien-Verpackungen her kennt: Die GHS-Gefahrensymbole für “entzündlich”, “gesundheitsschädlich”, “Gefahr” und “umweltgefährdend”. Gefahrstoffe in der naturreinen Essenzmischung? Was ist da noch drin nebst den natürlichen Duftstoffen? Bin ich etwa einem Skandal auf der Spur….?
“Halt! Stop! Mach mal langsam!”, tönt es plötzlich von der Inhaltsstoff-Liste, “nicht so voreilig. Ich bin Linalool – eine der Essenzen aus deinem Duftöl – und ich möchte dir und den Menschen da draussen mal was über mich und meinesgleichen erzählen. Wir sind nämlich nicht das, wofür man uns gemeinhin hält!”
Das klingt spannend, denke ich, und signalisiere dem Linalool, dass es gleich anfangen kann – denn meine Leser “hören” zu.
Ein Naturstoff stellt sich vor
“Besten Dank! Mein Name ist also Linalool – man spricht die beiden ‘o’ getrennt aus, also Linalo-ol. Ich bin – unter menschenfreundlichen Bedingungen – eine blumig duftende Flüssigkeit, die aus Molekülen besteht, welche so aussehen:
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Richtig, ich bin ein Gemisch aus zwei Molekülen: (S)-Linalool oder Licareol (links) und (R)-Linalool oder Coriandrol (rechts). Eines sieht aus wie das Spiegelbild des anderen, und ihre Eigenschaften unterscheiden sich nur leicht – zum Beispiel der Geruch.
Ich bin also eine organisch-chemische Verbindung. Das “ol” am Ende meines Namens weist darauf hin, dass meine Moleküle eine -OH-Gruppe enthalten, und ich damit ein Alkohol bin. Für die Chemiker ist das allerdings eher Nebensache, denn die ordnen mich lieber in die Gruppe der Terpene ein. In diese Gruppe gehören nämlich alle Moleküle, deren Kohlenwasserstoffskelett aus Grundeinheiten aufgebaut ist, die wie das Molekül Isopren aussehen. Und in meinen Molekülen lassen sich je zwei dieser Isopren-Grundeinheiten finden:
Links: Das Molekül Isopren enthält 5 Kohlenstoffatome. Im (S)-Linalool-Molekül rechts sind die zwei Abschnitte zu je 5 Kohlenstoffatomen, welche dem Isopren ähnlich sehen, farbig markiert. Wer erkennt, in welcher Orientierung die beiden Isoprenmoleküle miteinander verbunden sind?
Eine Isopren-Einheit macht dabei nur ein halbes Terpen, weshalb ich mit zwei Einheiten als ein Ganzes, als Monoterpen, gelte – wie übrigens auch die meisten anderen Duftstoffe in Kathis Essenzmischung.
Gemeinsam bilden wir – verschiedene Terpene und andere Stoffe – das, was ihr gerne als “ätherische Öle” bezeichnet: Ein Gemisch aus verschiedenen Duftstoffen mit fettähnlichen Eigenschaften. Dabei sind wir gar keine Fette, aus denen Öle normalerweise bestehen, sondern lösen uns bloss nicht gut in Wasser. Stattdessen schwimmen wir in Tröpfchen darauf, was uns die ungerechtfertigte Bezeichnung als “Öle” eingebracht hat.
Doch anders als Fette bestehen ich und meine Mit-Monoterpene aus vergleichsweise kleinen Molekülen und können uns daher in Lebewesen ziemlich frei bewegen – besonders dort, wo es fettfreundlich (schlecht wasserlösliche Stoffe sind umso besser in Fett und ineinander löslich, weshalb sie “lipophil”, also fettfreundlich, genannt werden) zu und her geht. Das ermöglicht uns, eine Vielzahl von Wirkungen auf Lebewesen zu entfalten, was die Evolution irgendwann auf den Trichter brachte, dass vor allem Pflanzen einen Nutzen davon haben können, wenn sie Stoffe wie mich herstellen.
Woher Terpene und ätherische Öle kommen
Die Pflanzen wiederum bestehen aus einer Unzahl von chemischen Verbindungen, deren Moleküle sich aus Atomen verschiedener chemischer Elemente zusammensetzen: Hauptsächlich Kohlenstoff und Wasserstoff, dann Sauerstoff, Stickstoff, etwas Phosphor und Schwefel und einige Atome verschiedener Metalle und Halbmetalle nicht zu vergessen. All diese Atome entstammen dem Sternenstaub, der sich vor rund 4 Milliarden Jahren zum Planeten Erde zusammengeballt hat, und sind somit in den Fusionsöfen früher Sterne “geschmiedet” worden (welcher besondere Trick die Entstehung von Kohlenstoff, dem “Grundelement” des Lebens, erst möglich gemacht hat, beschreibt Timaios auf seinem Blog sehr gut).
Als diese Atome der Erde schliesslich – in Molekülen gruppiert – die ersten Lebewesen bildeten, bestanden die zunächst aus dem, was man zum Leben so braucht: Proteine, darunter Enzyme, die verschiedene Reaktionen zur Ernährung und Erzeugung einer Nachkommenschaft katalysieren, Nukleinsäuren zur Speicherung von Erbinformationen, Fette und Zucker als Energieträger, und manches mehr. Und alle diese Stoffe dienen letztlich dem, was das Leben ausmacht: Fressen und sich selbst vermehren.
Doch da nicht nur ihr Menschen nicht perfekt seid, sondern alle Lebewesen bloss Annäherungen an einen perfekten Organismus sind, muss ab und zu mal eine Reaktion zur Herstellung von “notwendigen” Stoffen schief- oder in eine unbeabsichtigte Richtung gelaufen sein, sodass etwas dabei herauskam, das weder für die Verdauung (Fressen) noch für die Fortpflanzung (sich selbst vermehren) zu gebrauchen war. Und was nicht zu gebrauchen ist, wird schleunigst verschrottet und der Fehler im Produktionsablauf in den nächsten Generationen korrigiert.
Es sei denn, ein Lebewesen hat einen Vorteil von dem Schrott, den sein Körper da produziert. Wie zum Beispiel, dass er bitter schmeckt und dazu führt, dass andere Lebewesen es vermeiden, ein ungeniessbares Geschöpf zu fressen. Oder der Schrott duftet für die eigenen Artgenossen oder Bestäuber derart verlockend, dass er sie wie magisch anzieht und so zusätzliche Paarungen bzw. Befruchtungen ermöglicht. In beiden Fällen entstehen bevorzugt Nachkommen, die den gleichen “Schrott” produzieren, bis dieser schliesslich zu einem allgegenwärtigen Merkmal der betreffenden Spezies geworden ist. Damit ist es reichlich unpassend, länger von “Schrott” zu sprechen, sodass diese Stoffe stattdessen “Sekundärmetaboliten”, also sekundäre Stoffwechselprodukte, oder – wenn sie in Pflanzen entstehen – sekundäre Pflanzenstoffe genannt werden.
Und ich bin einer davon – und keinesfalls eine einzigartige Erfindung. Ich komme in vielen verschiedenen Gewürzpflanzen vor, die ihr ihrer ätherischen Öle wegen schätzt – und ich bin Bestandteil von vielen dieser “Öle”.
Hier in der Provence werde ich besonders geschätzt und – zum Beispiel als Bestandteil des Lavendels – richtiggehend kultiviert.
Linalool in der Menschen(um)welt
Mein Pech – oder Glück? – ist, dass ich euch Menschen recht angenehm rieche und schmecke. So bin ich sowohl aus euren Küchen als auch aus eurer Kosmetik nicht wegzudenken, ob aus Koriander oder Thymian, als Aroma eines guten Weines oder Lavendelduft eurer Lieblingsseife oder aus dem Säckchen im Wäscheschrank. Ich gehöre einfach dazu, wenn es um Gewürzpflanzen geht.
Allerdings gibt es inzwischen mehr Menschen, als die Erde Gewürzpflanzen zu ihrer Befriedigung hervorbringen könnte. Unter diesen Menschen sind jedoch einige schlaue Chemiker, die gelernt haben mich ohne die Hilfe von Pflanzenenzymen nachzubauen. Und zwar 1:1. So stammen meine Moleküle in vielen Produkten aus einer Chemiefabrik – an meinen Eigenschaften ändert das aber gar nichts. Allenfalls an der Vielfalt meiner Mit-Terpene in den ätherischen Ölen, deren Bestandteil ich bin. Ein natürliches ätherisches Öl bringt es nämlich locker auf 150 verschiedene Bestandteile, während sein synthetisches Gegenstück aus gerade mal 11 verschiedenen Stoffen bestehen – für euch stumpfnasige Menschen aber genauso riecht. Und genau diese reduzierte Vielfalt kommt euch doch eigentlich zugute.
Welche Gefahren gehen von Linalool und Co aus?
Denn während ich und meine Mit-Terpene in niedrigen Dosen einen für Menschen angenehmen Duft oder Geschmack entfalten mögen, werden wir in höherer Dosis ziemlich unangenehm – gemäss unserem ursprünglichen Zweck: Unserer Erzeugerpflanze mögliche Fressfeinde vom Leib zu halten. Wie viele meiner Kollegen reize auch ich die Haut, die Augen und die Schleimhäute – zum Beispiel die eurer Atemwege, was zu Ausschlägen, brennenden Augen und bösem Husten, wenn nicht gar einem asthmatischen Anfall führen kann. Und das nicht nur bei Menschen, sondern auch bei anderen Säugetieren [Sonja fragen!]. Auch Wasserorganismen kann ich gemäss meiner Natur mehr als unangenehm werden, sodass eure – zweifellos sinnvollen – Gesetze mir neben den Symbolen für Gesundheitsgefahren auch das für Umweltschädlichkeit einbringen.
Und für jedes meiner Mit-Terpene gilt mehr oder minder das gleiche. Überdies bin ich, wie viele Terpene, unabhängig von meiner Herkunft in der Lage, mit dem Sauerstoff in der Luft zu reagieren. Und was dabei rauskommt, kann bei euch Menschen eine Allergie auszulösen – also eine unnötige Reaktion des Immunsystems auf ein bestimmtes, für “feindlich” erachtetes Molekül (ein sogenanntes Allergen). Dazu genügt ein erster Kontakt, welcher das Immunsystem dazu verleitet, ein “Feindbild” aufzubauen und abzuspeichern. Danach genügen im Prinzip eines oder wenige Moleküle eben dieses Allergens, um die Immunabwehr Samba tanzen zu lassen – mit allen bekannten unangenehmen bis tödlichen Folgen. Da mag nun jeder selbst entscheiden, ob er sich lieber mit 11 synthetischen oder 150 aus Pflanzen extrahierten Vorstufen zu möglichen Allergenen abgibt.
Darüber hinaus sind wir Terpene in den Konzentrationen, in welchen wir in Speisen, Kosmetik oder sinngemäss angewendeten Duftölen vorkommen, für Menschen nicht gefährlich. Tatsächlich haben viele von uns sogar gesundheitsförderliche Eigenschaften, von Aktivierung oder Beruhigung bis hin zu einer möglichen Wirkung gegen Krebs. Die Gefahrensymbole auf Kathis Fläschchen sollen nur daran erinnern, dass wir darin in sehr grosser Menge enthalten sind. So solltet ihr die Dämpfe daraus nicht direkt einatmen und die Flüssigkeit nicht auf die Haut gelangen lassen oder gar einnehmen.”
Zusammenfassung
“Zusammenfassung? Kathi, das kannst du besser als ich!”
Also gut: Linalool und viele andere Terpene bilden eine Gruppe von sekundären Pflanzenstoffen oder Sekundärmetaboliten, die vielen Pflanzen nicht nur als Lock- sondern auch als Abwehrstoffe gegen Fressfeinde dienen. Wir Menschen schätzen einige dieser Pflanzen als Gewürze und Duftstofflieferanten und nennen die Terpen-Gemische, die wir daraus gewinnen, ätherische Öle.
Diese ätherischen Öle – besser: ihre Bestandteile – können wir heute auch im Labor synthetisieren und die gleichen Moleküle erhalten, welche die Pflanzen produzieren. Einzig bei der Anzahl der Bestandteile eines synthetischen Öls ist Mensch sparsam: Mitunter genügen 11 Substanzen, um den Duft einer natürlichen Mischung von über 150 Substanzen zufriedenstellend nachzubilden.
Ob synthetisch oder natürlich, die Terpene sind in ausreichender Menge auch in der Lage, Menschen und andere Lebewesen abzuwehren: Sie reizen Haut und Schleimhäute und können Wasserorganismen vergiften. Da sie nach der Reaktion mit Sauerstoff überdies Allergien auslösen können, kann die mangelnde Vielfalt synthetischer ätherischer Öle sogar von Vorteil sein, indem sie die Anzahl möglicher Allergene überschaubar macht.
Fazit
Damit sind ätherische Öle und ihre Terpene ein wunderbares Beispiel dafür, dass “natürlich” ebenso wenig automatisch “verträglich” und “gut” bedeutet, wie “synthetisch” automatisch “böse” ist. Die Eigenschaften aus der Natur und synthetisch gewonnener “Naturstoffe” gleichen sich im Guten wie im Schlechten. Es ist eben alles Chemie. Und die ist nicht von Grund auf schlecht.
Letzten Endes sind wir Menschen dafür geschaffen, in einer Umwelt voller vielfältiger und oft unangenehmer Chemikalien zu überleben. Wir haben nämlich die Fähigkeit, uns unserer persönlichen Unverträglichkeiten bewusst zu werden und diesen gezielt aus dem Weg zu gehen. Und das ist in meinen Augen der beste Weg, mit all der Chemie in unserer Welt umzugehen: Jeder für sich kann für sich ganz allein identifizieren, was er nicht verträgt, und fortan einen Bogen darum machen. Denn worauf ein Mensch empfindlich reagiert, das kratzt einen anderen noch lange nicht.
Um unseren Mitmenschen diesen Bogen zu erleichtern, ist es nur fair und rücksichtsvoll (und im Übrigen vom Bundesamt für Gesundheit der Schweiz empfohlen), Duftstoffe – vor allem mit ätherischen Ölen – in Räumen, die wir mit anderen teilen, mit sehr viel Bedacht einzusetzen. Wenn es gar um Produkte zur Raumbeduftung geht, ist kräftiges Lüften und die Beseitigung von Geruchsquellen gleichermassen effektiver und schonender für alle Nutzer der betroffenen Räumlichkeiten.
Und was bedeutet “Chemie” für euch? Wie geht ihr mit den vielfältigen Stoffen in eurem Alltag um? Leidet ihr unter einer Unverträglichkeit oder Allergie? und müsst “einen Bogen” um bestimmte Dinge machen?
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