Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2016. Hinweise zum Ablauf des Bewerbs und wie ihr dabei Abstimmen könnt findet ihr hier.
Das sagt der Autor des Artikels, sudo_rm über sich:
Ich interessiere mich für Astrophysik/Kosmologie und Computertechnik und betätige mich gern sportlich an der frischen Luft.
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Die Erkenntnis, dass Bewegung gut für das Wohlbefinden sei, kommt nicht aus der aktuellen Forschung sondern wird seit Jahrzehnten von wohlmeinenden Eltern, Ärzten, der Gesundheitspolitik, dem Bildungswesen usw. mit mäßigem Erfolg propagiert. Die Zahl derer, die trotzdem jede Strecke länger als 500m per Auto zurücklegen oder in Gebäuden auch für nur eine Etage den Aufzug benutzen, blieb viel zu hoch. Die Ratschläge wurden von der allgegenwärtigen Bequemlichkeit einfach absorbiert, (teure) Kampagnen verpufften wirkungslos. Der innere Schweinehund war meist stärker.
Doch ein kleines Stück Silizium, eingegossen in schicke Armbänder, macht sich daran auch die bequemsten Zeitgenossen auf Trab zu bringen. Wir verweigern uns zwar menschlichen Ratschlägen, springen aber sofort auf, wenn die Technik uns per Piepton drauf hinweist, es sei an der Zeit wieder einige Kalorien zu verbrennen. Haben die Computer also jetzt bereits die Herrschaft über die Menschheit übernommen? Sind wir dabei, uns von den Chips endgültig versklaven zu lassen? Es scheint so zu sein, der Herr pfeift, der Hund springt.
Zu unserer Entschuldigung kann man ja anführen, dass die neuen Machthaber in einem ausgeklügelten Prozess auf die Erfüllung ihre Aufgaben hinoptimiert werden, während wir den Zufällen der Evolution ausgeliefert waren. Ein durchschnittlicher Chip durchläuft bei der Herstellung etwa 10 000 Bearbeitungsschritte. Er wird dabei mit exotischen und z.T. für uns giftigen Elementen geimpft, z.B. Arsen, Indium, Phosphor, wird u.a. heißer Fluss- und Schwefelsäure ausgesetzt, mit aggressivem Plasma bombardiert und auf Temperaturen über 1000°C erhitzt. Der Energieverbrauch bei der Herstellung liegt bei ca. 3-5 Millionen Joule pro Prozessor. Das entspricht rund 1200 kcal oder dem halben Tagesbedarf eines Erwachsenen. Das klingt dann gar nicht so viel, ein Erwachsener wiegt aber um die 75kg, während ein Chip nur wenige Gramm auf die Waage bringt. Nimmt man einen auf die Masse normierten Energieverbrauch, entspricht die bei der Herstellung benötigte Energie pro Prozessorgramm dem Energiebedarf eines Erwachsenen pro Menschengramm über einen Zeitraum von fast 11 Jahren. Vor dieser hochkonzentrierten Digitalpower muss der innere Schweinehund kapitulieren!
Wie schafft es aber das perfektionierte Stück Silizium uns mitzuteilen, dass wir heute bereits 1713 Schritte gegangen sind oder 43 Stufen erklommen haben? Woher nimmt es die Zahl verbrannter Kalorien, deren Wissen es uns ermöglicht, das nächste Stück Torte/Kuchen/Schokolade… mit reinem Gewissen zu genießen? Wie bringt es uns dazu, pflichtschuldig aus dem Sessel aufzustehen und uns 10 Minuten zu bewegen, um das Tagessoll zu erfüllen?
Der prinzipielle Aufbau der Fitnessarmbänder ist dabei nichteinmal so kompliziert. Beschleunigungssensoren erfassen Bewegungsänderungen in den drei räumlichen Dimensionen. Die dabei anfallenden Daten werden aufbereitet und in eine Schrittzahl umgerechnet. Der Beschleunigungssensor ist ein miniaturisierter Federkraftmesser mit einer Testmasse. Die Feder ist ein wenige Mikrometer breiter Siliziumstreifen, auch die Testmasse, die bei einer Bewegung die Feder dehnt, besteht aus Silizium. Auf dem Chip ändert sich bei Bewegung durch die Dehnung des Siliziumstreifens eine Kapazität geringfügig, dieses elektrische Signal ist die Eingangsgröße für den Prozessor, der daraus eine Schrittanzahl berechnet. Es ist das gleiche Prinzip wie bei einem Smartphone, welches den Bildschirminhalt um 90° dreht, wenn man das Smartphone entsprechend hält. Die gehobene Klasse der Fitnesstracker kann noch den Hautwiderstand messen und über optische Sensoren den Blutfluss in den Adern erfassen, um daraus den Pulswert zu bestimmen. Der Rest ist reine Software, eine Mischung aus Datenfilterung, Berechnungen, Statistik und Raten, um aus den Rohdaten einen wahrscheinlichen Kalorienverbrauch abzuleiten. Die berechnete Zahl ist nämlich eine rein statistische Größe, basierend auf der breiten Verteilung individueller Eigenschaften bestimmter Bevölkerungsgruppen. Als Klassifizierungsmerkmale dienen dafür das Geschlecht, Alter, Gewicht. Für diese Merkmale gibt es aber eine sehr breite Gaussverteilung des individuellen Energieumsatzes bei gleicher sportlicher Betätigung (z.B. pro gelaufenem Kilometer). Der tatsächliche Energieumsatz einer konkreten Person kann durchaus deutlich verschieden von dem ausgegebenen Wert sein. Auch die Details der Programmierung beeinflussen den errechneten Wert. Man sollte also vorher verschiedene Modelle testen und das Gerät auswählen, das den für die eigenen Zwecke günstigsten Wert ausspuckt. Die Technikgläubigkeit reicht scheinbar aus, die in einer App schick verpackten Zahlen für bare Münze zu nehmen und sich entsprechend zu verhalten. Manche gehen ja sogar so weit, diese Daten ihren Krankenkassen zur Verfügung zu stellen, um günstigere Tarife zu bekommen (ein aktuelles Beispiel sind Überlegungen der TK, https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/tk-erwaegt-nutzung-von-fitnessarmbaendern-zu-belohnen-a-1108870.html). Daraus ergeben sich in einigen Jahren sicher interessante Diplomthemen für Psychologiestudenten, ein weiterer Bezug zur Wissenschaft. Vielleicht entsteht auch ein neues Geschäftsfeld für App-Entwickler. Ein Hacken der Fitnessarmbänder, um der Krankenkasse gesundheitsbewusstes Verhalten vorzugaukeln!
Um noch einmal auf die eingangs gestellte Fragen zurückkommen.
Fitnesstracker sind für Leute sinnvoll, die von sich aus regelmäßig Sport treiben und ihre Trainingswerte dokumentieren wollen. Abweichungen von tatsächlichen Werten sind ein systematischer Fehler und verzerren Leistungstrends nur unwesentlich. Sie sind aber völlig untauglich, um nur aus den gelieferten Daten ohne weitere Kenntnisse der Personen Rückschlüsse auf deren gesunde oder ungesunde Lebensweise abzuleiten. Fitnesstracker sind auf jeden Fall für die Chipindustrie und Hersteller elektronischer Gadgets (s. Wikipedia, „englisch für Apparat, technische Spielerei oder auch Schnickschnack“, https://de.wikipedia.org/wiki/Gadget) ein wichtiges Geschäftsfeld.
Und haben die Computer nun bereits die Herrschaft über die Menschheit übernommen? Eine Schlagzeile aus dem Spiegel vom 8. August hilft bei der Beantwortung: Krankenkassen-Report: Die meisten Fitnessarmbänder liegen nur rum (https://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/dkv-report-die-meisten-wearables-liegen-nur-rum-a-1106654.html). Der evolutionär gefestigte innere Schweinehund ist am Ende doch stärker, wie beruhigend.
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