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Das sagt die Autorin des Artikels, Ute Parsch über sich:
Ich habe Physik studiert und 1992 im Fachbereich Astrophysik mein Diplom erworben. Nach der Geburt meines Sohnes musste ich allerdings meine berufliche Tätigkeit unterbrechen. Mitunter schreibe und kommentiere ich im Web, meist zum Thema Homöopathie, aber auch zu anderen pseudowissenschaftlichen Themen. Im Moment bin ich an der Erstellung eines umfassenden Online-Nachschlagewerkes zum Thema Homöopathie, der Homöopedia beteiligt.
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England ist flach. Oder auch nicht…
Es gibt so ein paar Dinge, da ist man einfach nur erstaunt, dass man sie im 21. Jahrhundert noch diskutieren muss. Ausnahmsweise meine ich damit heute einmal nicht die Homöopathie. Nein, im letzten Jahr bin ich immer wieder über Videos und Texte gestolpert, die ernsthaft den Standpunkt vertreten, die Erde sei flach.
Während man als Bayer jederzeit für möglich hält, dass an der Bielefeld-Verschwörung doch „etwas dran sein könnte“, würde man doch eher mit ordentlichem Gegenwind für „Flacherdler“ rechnen. Schließlich haben die sich zumindest eines der häufigsten Argumente für die angebliche Unzuverlässigkeit naturwissenschaftlicher Ergebnisse („früher war die Erde auch mal eine Scheibe“) gleich selber verbaut.
Leicht haben es moderne Flacherdler also nicht. Entsprechend ist ihre Hypothese auch weit weniger verbreitet als andere Behauptungen, die die Naturwissenschaft ausgemustert hat. Trotzdem darf man sich das nicht so einfach vorstellen, dass man einem Flacherdler einfach ein vom All aus aufgenommenes Bild der Erde zu zeigen braucht, um ihn ins Grübeln zu bringen. Wie in jeder guten Verschwörungstheorie hat man Antworten auf naheliegende Einwände parat:
Bei den modernen Flacherdlern geht es um weit mehr als darum, dass die Erde eine sich drehende Scheibe sei. Der Nordpol sitzt im Zentrum, am Rand türmt sich ein Eiswall auf, den man im – angeblich – falschen Kugelbild der Erde als Antarktis darstellt. Sonne, Mond und Sterne sind nur wenige hundert Kilometer von der Erde entfernt und deutlich kleiner als von der Astronomie beschrieben; die Schwerkraft ist eine Scheinkraft, die durch die Bewegung der gesamten Scheibe nach oben entstehen soll. Die Erde ist also nicht einfach nur flach, auch Astronomie und Physik sind nicht so, wie es die „etablierte Wissenschaft“ erklärt. Bei der flachen Erde kommt man eben „nicht ganz“ ohne Verschwörungstheorien aus.
Folgerichtig sollen sämtliche Aufnahmen der Erde vom Weltraum aus gefälscht sein. Einfach so. Alle.
Überhaupt soll es zum Beispiel die ISS gar nicht geben. Sie existiert laut Darstellung der Flacherdler gar nicht. Das “Flache-Erde-Forum“ erklärt das zum Beispiel in den „häufig gestellten Fragen“ so:
Angeblich kann man die ISS nur mit sehr modernen Teleskopen sehen. Es ist nicht auszuschließen, dass in diesen modernen Teleskopen (auch für den Amateurbereich) eine gewisse Software integriert ist, die eine ISS simuliert und auch immer weiß, wo sich die ISS gerade befinden soll.“
Raffiniert, diese „etablierte Wissenschaft“. Hat sie dieselbe Software doch auch in meine (und unser aller) Augen eingeschleust. Denn die ISS kann man bestens mit bloßem Auge über den Himmel ziehen sehen, nicht nur im Teleskop. Wer das noch nie probiert hat, sollte sich informieren, wann die ISS am eigenen Beobachtungsort das nächste Mal beobachtbar ist und das einmal nachholen. Das lohnt sich – wenn auch ganz gewiss nicht wegen den Flacherdlern.
Neben der ISS soll es laut den Flacherdlern auch andere Dinge gar nicht geben, deren Existenz wir meist ungeprüft als gesichert annehmen. Den Südpol zum Beispiel.
Klar. Den kann es auf der flachen Erde nicht geben, der ist im gängigen „flache-Erde-Modell“ verschmiert über den gesamten Rand der Scheibe, eine Art Eiswall, der die Erdscheibe umgeben soll. Dass das tatsächlich so ist, belegen Flacherdler mit der Aussage, dass es keine regulären Linienflüge über die Antarktis gibt. Die Fluggesellschaften wüssten also, was Sache ist.
Nun, der argentinischen Fluggesellschaft scheint man versehentlich nicht Bescheid gegeben zu haben. Die plant nämlich tatsächlich, ab 2018 einen solchen Linienflug in die Antarktis zu betreiben. Erfunden haben’s aber wie immer die Schweizer. Wer das nötige Kleingeld hat, der kann sich im Urlaubselbst davon überzeugen, dass der Südpol ein Punkt ist – und nicht der Rand der Welt.
Das Bild der Erde, das die meisten modernen Flacherdler vertreten, geht auf den Engländer Samuel Rowbotham zurück, der zutiefst davon überzeugt war, dass nur die Bibel das einzig wahre Bild der Erde beschreibt. Rowbotham veröffentlichte, nachdem er meinte, seine Thesen im Experiment bestätigt zu haben, unter Pseudonym das Buch „Zetetic Astronomy: Earth Not a Globe“, bis heute die Basis der flache-Erde-Fraktion.
Moment – ein Experiment, das die Scheibenform der Erde zu bestätigen schien?
Samuel Rowbotham argumentierte, dass auf einer runden Erde auch das Wasser eines Flusses eine gewisse Krümmung aufweisen muss, die auf einem nur hinreichend langen Flussstück nachweisbar sein müsste. So weit, so richtig.
Im Old Bedford Level, einem natürlich eingewachsenen Kanal im Südwesten Großbritanniens, fand er einen hierfür passenden, mehrere Kilometer gerade verlaufenden Flussabschnitt. Rowbotham watete mit einem Teleskop in den Fluss, und beobachtete von der Wasseroberfläche aus, wie ein Boot allmählich den Kanal bis zur nächsten Brücke hinunterglitt. Nach seiner Rechnung sollte die Spitze des Mastes bei der dann erreichten Entfernung von sechs Meilen (knapp 10 Kilometern) längst unter den Horizont gesunken sein, wenn die Erde tatsächlich eine Kugel von rund 40 000 Kilometern Umkreis wäre. Zu seiner Zufriedenheit konnte Rowbotham jedoch das Boot über die volle Distanz beobachten. Er fühlte sich bestätigt und veröffentlichte sein Ergebnis als Beleg für seine Ansicht, die Erde sei eine Scheibe.
Wirklich Beachtung fand dieses Experiment aber erst, als ein Anhänger von Rowbothams Thesen, John Hampden, öffentlich wettete, er könne das Experiment wiederholen und damit die flache Gestalt der Erde beweisen. Die Wette nahm niemand anderer an als Alfred Russel Wallace, der zeitgleich mit Darwin die Idee der Evolutionstheorie entwickelt hatte.
Diese Wette ist unter dem Namen „Bedford Level Experiment“ bekannt geworden: Man hängte ein großes Tuch mit einem großen, waagrechten schwarzen Balken darauf an die Old Bedford Bridge und stellte 6 Meilen weiter ein Teleskop so auf die Welney Bridge, dass das Teleskop genau denselben Abstand vom Wasser hatte wie der schwarze Balken (rund 13 Fuß, was etwa vier Metern Höhe entspricht).
Zwischen die Brücken stellte man Masten derselben Höhe, deren oberes Ende mit einer kreisförmigen Scheibe markiert war. Mit dem Teleskop sollte der Balken angepeilt werden. Im Falle einer runden Erde würde die Wölbung der Erde dann bewirken, dass die zwischen Teleskop und Ziel platzierten Scheiben oberhalb des Balkens zu sehen sein müssten – beziehungsweise im das Bild auf den Kopf stellenden Teleskop unterhalb des Balkens. Und genau das war es auch, was im Teleskop zu sehen war:
Das Experiment belegte also, dass die Erdoberfläche und damit auch die Wasseroberfläche wie erwartet gekrümmt waren.
Der entscheidende Unterschied zur ursprünglichen Beobachtung von Rowbotham liegt in der Anhebung der Sichtlinie. Rowbotham stand im Wasser, so dass seine Sichtlinie nur wenige Zentimeter über dem Wasser lag. Das Teleskop auf der Brücke hatte eine Höhe von rund vier Metern über der Wasseroberfläche. Es mag überraschen, dass das überhaupt für das Ergebnis des Experimentes einen Unterschied macht. Doch genau das ist der Fall und zwar wegen der Atmosphäre der Erde.
Astronomen und Landvermesser kennen den Effekt als terrestrische Refraktion: Ein Lichtstrahl, der durch die Atmosphäre dringt, wird in unterschiedlich dichten Luftschichten unterschiedlich stark gebrochen. Bei normalen Wetterlagen nimmt der Brechungsindex in der Atmosphäre nach unten hin zu, ein Lichtstrahl wird also zum Boden hin gebeugt. Für den Betrachter erscheinen entfernte Objekte deswegen höher als sie tatsächlich sind, die Sichtweite, bis zu der wir ein Objekt trotz der Erdkrümmung sehen können, wird etwas erhöht. Tatsächlich liegt die untergehende Sonne zum Beispiel bereits unter dem Horizont, wenn sie diesen scheinbar gerade erst berührt. Die Erdatmosphäre sorgt also dafür, dass wir beim Blick in die Ferne ganz leicht um die Kurve blicken können.
Indem Wallace die Sichtlinie etwas anhob, vermied er die besonders deutlichen Effekte der terrestrischen Refraktion in unmittelbarer Bodennähe und erhielt prompt das richtige Ergebnis. Natürlich stritt Hampden den Nachweis ab, verweigerte die Zahlung und formulierte später in Briefen sogar Drohungen gegen Wallace. In dieser Beziehung unterschieden sich die Verschwörungstheoretiker des 19. Jahrhunderts also nicht von den heutigen.
Heute wie damals wird es nur in den seltensten Fällen möglich sein, jemand zu überzeugen, der aus ideologischen Gründen hinter seinem Standpunkt steht. In den letzten Monaten habe ich aber öfter Kommentare von Schülern gelesen, die verwirrt waren vom Bedford Level Experiment und vergleichbaren, moderneren Bildern. Wer von der terrestrischen Refraktion noch nichts gehört hat oder nicht weiß, dass sie hier das Ergebnis verfälschen kann, ist erst einmal einfach nur überrascht vom Ergebnis Rowbothams und hinterher ehrlich dankbar für die Erklärung.
Schön am Bedford Level Experiment finde ich deshalb, dass es zeigt, dass man auch aus den merkwürdigsten Verschwörungstheorien noch etwas lernen kann. Manche Ergebnisse verblüffen zunächst und werden erst verständlich, wenn man wirklich alle Effekte berücksichtigt – wie hier eben die Krümmung des Lichtweges in der Atmosphäre. Mitunter zwingen uns gerade abstruse Ideen zum Nachdenken darüber, woher wir eigentlich wissen, was uns selbstverständlich erscheint oder wie wir diese Überzeugungen überprüfen können. Und das ist dann wieder echte Naturwissenschaft.
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