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Das sagt der Autor des Artikels, Pascal über sich:
Ich studiere Anglistik und Rechtswissenschaften und blogge für gewöhnlich als @FalseShepard über Videospiele(kultur) auf www.indieflock.net
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Kommt ein Linguist vor Gericht…
…und wird als Experte in den Zeugenstand gerufen. Aber was soll ein Sprachforscher denn sinnvolles zu einem Kriminalfall beitragen? Fragt sich der geneigte Barbara Salesch-Sofajurist. Die Antwort darauf: Es gibt sogar eine Unterart der Sprachwissenschaft, die sich ganz und gar mit der Lösen von Fällen beschäftigt.
Forensische Linguistik bedeutet Linguistik, die zur Beweisfindung eingesetzt wird. Dass das ein ziemlich eingeschränkter Handlungsbereich ist, könnte man glauben; die Anwendungsmöglichkeiten sind aber gar nicht so gering. Jeder Abschiedsbrief eines Suizidfalls geht durch die Hände eines forensischen Linguisten, um seine Echtheit festzustellen und Manipulation auszuschließen. Dieser überprüft nicht unbedingt Handschrift und allgemeines Schriftbild, das fällt eher einem Graphologen zu. Der Linguist nimmt sich den Inhalt des Textes vor und gleicht ihn mit anderen Texten des Verstorbenen ab: Stimmen Register (also der Grad der Formalität in der Wortwahl), Satzbau und Fehlerquellen mit verifizierbar vom Opfer geschriebenen Texten überein? Wenn nicht, könnte das ein Hinweis auf Fälschung sein. Die Betonung liegt auf könnte; forensische Linguistik alleine kann niemals zu einem zweifelsfreien Schluss führen, da sie nie eindeutige Ergebnisse liefern kann. Es könnte eben auch sein, dass das Opfer sein Register gezielt wechselt, um dem Abschiedsbrief mehr Seriösität zu verleihen. Oder in seiner Nervosität mehr Fehler einbaut. Die forensische Linguistik liefert immer Indizien, keine Beweise.
Auch in einer weniger gravierenden, aber deutlich prominenteren Angelegenheit hat die forensische Linguistik die Finger im Spiel: In der Plagiatsprüfung. Wie viele Politiker in den letzten Jahren am eigenen Leib erfahren mussten, werden Plagiate nicht mehr auf die leichte Schulter genommen. Hochschulen und Universitäten sind so sehr wie nie zuvor darauf bedacht, Plagiatsvorbeugung zu betreiben und Plagiarismus aufzudecken. Die Möglichkeiten der unerlaubten Kopie steigen durch unendlichen Zugriff auf e-Books und Artikel im Internet, und um dem entgegen zu wirken müssen auch Lehranstalten ihre Prüfprogramme verbessern, Aufklärung betreiben und eben auch Linguisten beschäftigen. Durch die strenge Zitier- und Bibliographierpflicht in akademischen Arbeiten haben Plagiatsprüfer mittlerweile einen riesigen Vorteil: Klaut man ganze Sätze ohne zu zitieren, nutzt auffällig oft die gleichen ungewöhnlichen Vokabeln wie der Quellentext oder gar nur genau einmal einen ungewöhnlichen Begriff, den auch die Quelle nur genau einmal nutzt, so kann das ein Computerprogramm recht schnell erkennen und in anschaulichen Tabellen präsentieren. Solche sprachlichen Kopien nennt man linguistischen Plagiarismus. Er tritt am häufigsten auf, vor allem in Hausarbeiten von Studenten und Schülern, die sich wenig Gedanken über die Konsequenzen von Plagiaten machen. Glücklicherweise ist er auch mit dem bloßen, geübten Auge meist recht gut zu erkennen, da beim Kopieren und Umstellen von Quellsätzen oft Ungereimtheiten in der Konsistenz des Textes und der Kohärenz des Gedankenflusses entstehen.
Weit schwerer zu entdecken ist der sogenannte Plagiarismus der Ideen. Dabei wird nicht die Wortwahl oder der Satzbau unerlaubt kopiert, sondern die unterliegende Idee, etwa die Forschungsergebnisse, auf deren Grundlage ein Artikel geschrieben wurde, oder die fantastische Vision, aus der ein Autor seine Geschichte spinnt. Oft gehen beide Arten des Plagiats Hand in Hand, und der simpler entdeckbare linguistische Plagiarismus kann helfen, den Diebstahl von Ideen aufzudecken. Wie, das ist am besten an einem Beispiel erklärbar.
2004 erschien mit The Da Vinci Code Dan Browns großer Bestseller. Das Buch wurde zum Kult, verfilmt und mit Merchandise-Lawinen in die Läden gespült. Kurz darauf jedoch hatte sich Brown mit einer deutlich unschöneren Angelegenheit auseinander zu setzen: Lewis Perdue, Autor der von 1984—2000 erschienenen Buchtrilogie The Da Vinci Legacy, verklagte den Bestsellerautor vor einem U.S.-Gericht. Der Grund lässt sich anhand der beiden Buchtitel leicht vermuten: Perdue warf Brown vor, massive Anteile seiner Bücher gestohlen und verwendet zu haben. Die Klärung dieser Frage fiel einem Richter zu, der mehrere Sprachwissenschaftler als Gutachter mit dem Vergleich der Bücher beauftragte. Einige ihrer Methoden möchte ich hier beispielhaft aufführen.
Die Plotline
Es ist nicht einfach, zwei Geschichten miteinander auf Ähnlichkeiten abzugleichen, und zwar so, dass einer Beweisführung genüge getan wäre. Die zweckmäßigste Lösung ist es, einzelne Handlungsstränge heraus zu trennen und einzeln miteinander abzugleichen. Code und Legacy teilen sich die exakt gleichen sieben wichtigen Handlungsgrundlagen; man könnte fast sagen, ihre Geschichten sind identisch. Beide drehen sich um brisante Geheimnisse der Kirche, die durch die Entdeckung von wichtigen Dokumenten einer historischen Persönlichkeit aufgedeckt werden könnten. In beiden wird ein Experte auf dem Gebiet dieser Dokumente, der mit dem Helden der Geschichte verwandt ist, ermordet von Mitgliedern einer religiösen Sekte, und schreibt kurz vor seinem Tod eine Nachricht mit seinem eigenen Blut. Und in beiden wird – natürlich – der Held des Mordes an besagtem Experten beschuldigt.
Für wen das ein wenig zu schwammig ist – welcher religiöse Thriller dreht sich denn nicht um explosive Geheimnisse der Kurie und mordende Sekten – der mag einen Blick auf das oben abgebildete Diagramm werfen. Es zeigt die sieben Konzepte und die Seitenzahl ihrer ersten Erwähnung in beiden Werken. Bis auf einen Punkt sind diese nahezu identisch: Sehr verdächtig und kaum als zufällig abzutun.
Die Fehler
Einer der ergiebigsten Ansatzpunkte für Plagiatsprüfer sind Fehler in Texten. Telefonbuchverlage drucken absichtliche Fehler und erfundene Namen in ihre Listen, um Kopien zu entlarven – ähnliches funktioniert auch in der forensischen Linguistik. Ein gleicher Fehler an ähnlicher Stelle deutet oft auf eine schlecht versteckte Kopie hin. In Dan Browns Fall lässt sich ein besonders schönes Exemplar finden, denn es handelt sich nicht um einen bloßen Rechtschreibfehler, sondern um einen Schnitzer in der historischen Recherche. Beide Bücher beziehen sich auf den Codex Leicester, ein von Leonardo Da Vinci tatsächlich geschriebenes Buch. Und beide Bücher behaupten, der Codex wäre auf Pergament geschrieben – also auf bearbeitete Tierhaut. In der Realität ist er allerdings auf Leinenpapier verfasst worden, und dieser Fehler lässt sich sonst nirgendwo reproduzieren; er kann nicht von beiden Autoren zum Beispiel bei der Recherche im gleichen fehlerhaften Fachbuch gemacht worden sein. Entweder haben beide Autoren also unwahrscheinlicherweise den gleichen Fehler begangen, oder wir müssen von einem verdächtigen Punkt auf der Plagiatsliste ausgehen.
Der Rahmen
Bis hier hin hat simples Vergleichen der nebeneinander liegenden Bücher ein gutes Ergebnis geliefert. Linguistische Kenntnisse waren kaum bis gar nicht nötig; die Ähnlichkeiten lassen sich gut auch so greifen. Einer der überzeugendsten Faktoren der Plagiatsprüfung ist aber die Analyse des sogenannten Rahmens, und hierfür ist es wichtig, das sprachwissenschafte Konzept desselben zu erfassen.
In unserem Kopf herrscht zu jedem Konzept, an dass wir denken, eine Art ideales Bild vor, an dass wir sofort denken würden, wenn jemand das Konzept erwähnt. Werfe ich etwa das Wort “Vogel” in den Raum, denken viele Leute zuerst an ein Rotkehlchen, für manche ist die Taube der Idealvogel, aber nur für sehr wenige Leute wird es vermutlich der Pinguin sein. Je mehr ein Vogel die Voraussetzungen für den ‘typischen’ Vogel erfüllt – singt, kann fliegen, hat Federn, et cetera – desto eher eignet er sich für dieses Idealbild. Der Linguist nennt das die Prototypen-Lehre; das Rotkehlchen ist der ideale Prototyp für das Konzept Vogel.
Ähnliches lässt sich nun nicht nur auf einzelne Instanzen, sondern auf ganze Szenen anwenden; zu jeder angedeuteten Situation wird unser Gehirn ein typisches Bild aufbauen können. Diese variieren oft weit weniger als die Prototypen einzelner Lebewesen oder Gegenstände, da sie deutlich stärker sozial geprägt sind. Im Beispiel Da Vinci Code wird das Konzept eines luxuriösen Raumes benutzt; für die meisten Vertreter einer westlichen Kultur wird dieses Konzept ein sehr ähnliches Bild heraufbeschwören. Brokatsessel, Samtvorhänge, Ebenholz- oder Mahagonymöbel, teure Kristallgläser, Perserteppiche, vielleicht eine Auswahl luxuriöser Weine und Brandys. Im Zusammenhang mit dem Konzept “Luxus” bezeichnet der Linguist diese Bilder als generisch. Das bedeutet, jeder Mensch aus der angesprochenen Gesellschaftsgruppe denkt tendenziell sofort an solche oder ähnliche Bilder, daher ist es kein schöpferischer Aufwand, einen derart eingerichteten Raum mit genau diesen Worten zu beschreiben. Also: Die Erwähnung eines solchen Raumes ist nicht schützenswert und kann auch nicht verdächtig machen, wenn sie sich im Werk eines anderen Autors wiederholt.
Aber wie würde jemand die Idee eines solchen Raumes klauen, wenn er das nicht weiß? Wenn er denkt, er müsse seine Version des Raumes so unterschiedlich klingen lassen wie nur möglich, damit es nicht zu Überschneidungen und damit zum Verdacht kommt? Derjenige würde vermutlich Synonyme für all die Luxusgüter nutzen, um das gleiche Bild mit anderen Worten herauf zu beschwören. Und genau da kann der Linguist ansetzen. Sprache funktioniert, ob in Wort oder Schrift, erst einmal ganz intuitiv. Die richtigen Worte kommen uns einfach, wenn wir über ein bestimmtes Thema schreiben. Ein Autor, der einfach darauf los schreibt, nutzt intuitiv die gebräuchlisten Worte, um seine Situation zu beschreiben; man nennt das first line-language. Diese Worte kann der Fälscher dann nicht mehr nutzen. Er muss über seine Wortwahl nachdenken; weniger passende Synonyme nutzen, die sogenannte second line-language.
In Perdues Ausschnitt lässt sich sehen, dass hier sehr gängige Worte benutzt werden, um den Luxus des Raumes auszudrücken. Luxury, sofas and chairs, tumbler stechen nicht heraus, es sind die ersten Dinge, die einem beim Gedanken an solche Konzepte wie “teure Einrichtung, Polstermöbel, Trinkgefäß” in den Sinn kommen; die Prototypen ihrer Kategorie. Brown dagegen nutzt auffallend sperrige Worte, um exakt die gleiche Situation zu beschreiben. Lavish, cushioned chairs, crystal glasses sind alle eine gedankliche Ecke weiter entfernt als die von Perdue genutzten Wörter. Und obwohl man argumentieren könnte, dass Brown absichtlich sperrige Worte für eine vielen Menschen fremde, teure Welt eingesetzt hat, ist die komplette Abwesenheit von Überschneidungen doch auffällig.
Das waren nun nur drei Ansatzpunkte eines forensischen Linguisten in der Plagiatsprüfung; es gibt selbstverständlich noch eine ganze Menge mehr. Für einen generellen Überblick und das Erlernen des einen oder anderen fachlichen Konzepts jedoch sollte es genügt haben. Ob das nun hilft, Diebstähle an den selbst gemachten Werken zu erkennen oder die eigenen Kopien nur besser zu verstecken, sei dahin gestellt. Lewis Perdues Klage wurde übrigens, trotz eindeutiger Verdachtsbestätigung durch Linguisten, vom Richter abgewiesen; eine Gegenklage in Milliardenhöhe von Browns Verleger folgte auf dem Fuße. Immerhin wurde Perdue in diesem Verfahren von jeglichen Geldforderungen freigesprochen, bekommen hat er selbst aber auch nichts. Vielleicht hat die zusätzliche Werbung durch das Verfahren aber wenigstens die Verkäufe seiner Bücher etwas angekurbelt.
Für diesen Artikel genutzte Quellen:
Olsson, John. 2009. Wordcrime: Solving Crime through Forensic Linguistics. Continuum: London, New York.
Turell, Teresa M. 2008. “Dimensions of Forensic Linguistics”. In Plagiarism. Ed. Gibbons, John & Turell, Teresa M. John Benjamins Publishing: Amsterdam, Philadelphia.
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