Wissenschaft ist großartig. Sie schafft neues Wissen – und dieses Wissen ist immer wertvoll. Und bleibt das auch, selbst nach langer Zeit. Das demonstriert kaum etwas besser als eine aktuelle Forschungsarbeit britischer Astronomen. Francis Richard Stephenson von der Universität Durham und seine Kollegen haben untersucht wie sich die Rotation der Erde im Laufe der Zeit verändert. Dass sie das tut, wissen wir. Zum Beispiel weil die vom Mond auf die Erde ausgeübte Gezeitenkraft ihre Rotation langsam aber stetig bremst. Aber sie ändert sich aufgrund anderer Effekte; Massen im Erdinneren können sich verlagern; große Ströme zähflüssigen Gesteins und Metalls können sich verändern und so zu einer Abbremsung oder Beschleunigung der Rotation führen, was auch der Grund ist, warum wir ab und zu mal Schaltsekunden einführen damit die Uhrzeit nicht zu weit von der Dauer der Erdrotation abweicht. Wie schnell sich die Erde heute dreht lässt sich sehr genau messen. Aus der Veränderung die man in der Gegenwart bestimmen kann, kann man auch Rückschlüsse auf die Dauer der Rotation in der Vergangenheit ziehen. Ob das aber wirklich stimmt, lässt sich nur mit Daten aus der Vergangenheit überprüfen. Aber woher soll man die kriegen? Zum Beispiel aus 2700 Jahre alten astronomischen Beobachtungen der Babylonier! Genau das haben Stephenson und seine Kollegen getan (“Measurement of the Earth’s rotation: 720 BC to AD 2015”).
Es ist natürlich nicht einfach, aus so alten Daten konkrete Informationen für die moderne Forschung zu erhalten. Aber es geht. Viele der alten astronomischen Beobachtungen sind datiert und mit den nötigen historischen Informationen kann man die alten Datumsangaben in moderne Zeitangaben umrechnen. Das geht natürlich nicht beliebig genau, vor allem weil man damals natürlich nicht so genau messen konnte wie heute. Hat man genug Daten gesammelt kann man aber über eine statistische Auswertung trotzdem zu Ergebnissen kommen. Man kann aber auch Informationen verwenden, bei denen keine konkreten Daten vorliegen. Wenn man zum Beispiel weiß, dass im Jahr 136 v.Chr. eine Sonnenfinsternis in Babylon beobachtet wurde und die Sonnenfinsternis dort total zu sehen war, dann ist das eine wichtige Information.
Eine Sonnenfinsternis ist nur von ganz bestimmten Orten der Erde aus zu sehen. Der Bereich in dem die Sonne komplett verfinstert zu sehen ist, ist eng begrenzt. Mit dem modernen Wissen über die Bewegung der Himmelskörper ist es heute kein Problem zu berechnen, wie Erde, Sonne und Mond damals konfiguriert waren und wo auf der Erde damals eine totale Finsternis zu sehen war. Um das genau zu berechnen muss man aber auch berücksichtigen, dass sich die Erde damals ein klein wenig schneller um ihre Achse gedreht hat als heute. Geht man von der aktuellen Verlangsamungsrate der Erdrotation aus und rechnet damit zurück in die Vergangenheit, erhält man einen bestimmten Zeitpunkt für die Sonnenfinsternis und einen bestimmten Bereich in dem sie total sichtbar ist. Tut man das für die Finsternis für 136 v.Chr. dann zeigt sich, dass Babylon nicht in diesem Bereich liegt! Wenn nun aber alte Tontafeln zeigen, dass sie damals dort doch zu sehen war, muss irgendwo ein Fehler gemacht worden sein. Die Rate der Verlangsamung der Erdrotation muss sich in den letzten paar Jahrtausenden geändert haben. Sie muss sich weniger stark verlangsamt haben als bisher angenommen wurde, denn nur so sind die alten Aufzeichnungen mit den modernen Berechnungen vereinbar.
Stephenson und seine Kollegen haben aber natürlich nicht nur eine alte Aufzeichnung aus Babylon für ihre Arbeit verwendet. Sie haben hunderte Texte aus Babylonien, Griechenland, China, Arabien und dem mittelalterlichen Europa ausgewertet. Das Ergebnis: Nicht um 2,3 Millisekunden pro Jahrhundert hat sich die Erdrotation in den letzten Jahrtausenden verändert sondern um 1,8 Millisekunden.
Ich finde das höchst großartig. Natürlich; für die Gegenwart ist das jetzt nicht dramatisch relevant. Die genaue Geschwindigkeit der Erdrotation und ihre Veränderung zu kennen natürlich schon. Das müssen wir wissen, um die Bewegung der Himmelskörper möglichst genau zu berechnen, um unsere Uhren genau einzustellen und aus vielen anderen Gründen. Wie schnell sich die Erde vor knapp 3000 Jahren gedreht hat spielt dafür aber keine Rolle. Aber es ist großartig, dass so altes Wissen heute immer noch seinen Nutzen hat. Die babylonischen Astronomen gehörten zu den ersten Menschen die so etwas ähnliches wie systematische Wissenschaft durchgeführt haben. Aus ihrer Arbeit entstand die moderne Astronomie. Dort wo heute im Irak nur noch Ruinen stehen haben damals neugierige Menschen den Himmel beobachtet und ihre Beobachtungen aufgeschrieben. Und Jahrtausende später nutzen andere neugierige Menschen diese alten Aufzeichnungen um mehr über die Welt herauszufinden, auf der wir leben. Wie gesagt: Wissenschaft ist großartig!
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