Dieser Artikel ist Teil der blogübergreifenden Serie “Running Research – Denken beim Laufen”, bei der es um die Verbindung von Laufen und Wissenschaft geht. Alle Artikel der Serie findet ihr auf dieser Übersichtseite
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Wenn die Wissenschaft eine Sache gut beherrscht, dann sind es Vorhersagen. Ganz besonders die Astronomie. Wann geht die Sonne auf? Wo und wann kann man nächstes Jahr den Jupiter beobachten? Wie bewegt sich der Mars und wo wird er sein, wenn unsere Raumsonde bei ihm ankommt? Wann wird der Mond die Sonne verdunkeln? Und so weiter – egal was man wissen will: Die Astronomie weiß es lange vorher!
Vorhersagen sind aber nicht nur in der Wissenschaft interessant, sondern auch im Sport. Besonders beim Laufen wollen viele Läuferinnen und Läufer gerne schon am Start wissen, mit welcher Zeit sie im Ziel ungefähr rechnen können. Wer sich und seinen Trainingszustand gut kennt, kann das meistens halbwegs gut abschätzen. Aber wer bis jetzt nur kürzere Strecken gelaufen ist kann vielleicht nicht so gut einschätzen wie der erste Marathonlauf enden wird. Deswegen gibt es im Internet jede Menge Laufzeitberechner – zum Beispiel hier.
Man gibt die Zeit ein, die man auf einer bestimmten Strecke erreicht hat und daraus wird dann die Zeit berechnet, die man auf einer anderen Strecke schaffen. Meine Bestzeit auf 10 Kilometer liegt zum Beispiel bei 40 Minuten. Lasse ich mir daraus meine potentielle Marathonbestzeit berechnen, dann sind das 3 Stunden und 6 Minuten. Beim Halbmarathon liegt meine Bestzeit bei 1 Stunde und 31 Minuten (die ich allerdings nur bei einem Trainingslauf erreicht habe) und daraus würde sich eine Marathonbestzeit von 3 Stunden 11 Minuten ergeben. Also sollte ich bei meinem nächsten Marathon mit einer Zeit von circa knapp unter 3h10m rechnen.
Nun, mein nächster Marathon wird am Sonntag in Linz stattfinden und ich weiß, dass eine Zeit von 3h10m definitiv außerhalb meiner Reichweite liegt. Dass der Laufzeitrechner hier daneben liegt, hat aber nicht nur mit meiner Form zu tun, sondern auch mit der Formel die dort zur Vorhersage verwendet wird. So gut wie alle diese Rechner benutzen eine Formel, die im Jahr 1977 von Peter Riegel entwickelt wurde:
T1 ist die Zeit die man auf einer Strecke der Distanz D1 gelaufen ist und T2 die Zeit die auf der zu laufenden Distanz D2 zu erwarten ist. Die hängt vor allem von Exponenten k ab, den Peter Riegel zu 1,06 bestimmt hat. Es ist klar, dass k größer als 1 sein muss, denn bei k=1 müsste man die gesamte lange Strecke mit der gleichen Geschwindigkeit laufen die man auch die kurze Strecke gelaufen ist und das ist unwahrscheinlich. Je länger die Strecke, desto langsamer die Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich kann einen Marathon nicht mit der gleichen Geschwindigkeit laufen, die ich bei meiner 10km-Bestzeit gelaufen bin (bzw. könnte ich es, dann heißt das, dass ich mich beim 10km-Lauf nicht angestrengt habe und weit über meinen Möglichkeiten geblieben bin). Der Wert von k gibt an, um wie viel wir langsamer werden wenn die Laufstrecke länger wird. Und das ist natürlich bei jedem von uns unterschiedlich.
Eliteläufer können einen Marathon fast in der selben Geschwindigkeit laufen wie einen Halbmarathon; ihr k-Wert liegt nur knapp über 1 (bei circa 1,02). Wenn ich meine Marathonbestzeit (3h27) und meine Halbmarathonbestzeit (1h31) vergleiche, komme ich auf ein k von circa 1,19. Bei Vergleich mit der 10km-Bestzeit lande ich bei einem k von circa 1,14. In beiden Fällen deutlich mehr als 1,06 – was so viel bedeutet das ich auf langen Strecken mehr Geschwindigkeit verliere als es die Formel von Peter Riegel vorsieht. Oder, wenn man es anders formulieren will: Ich bin nicht so fit, wie Riegel es angenommen hat.
Das geht aber nicht nur mir so, sondern auch vielen anderen Freizeitsportlern. Ian Williams, der beim Guardian den “Running Blog” schreibt, hat diese Tatsache kürzlich in einem Artikel aufgegriffen und genauer betrachtet. Aus einer Datenbank mit Ergebnissen von über 1000 Freizeitläufern hat er einen k-Wert von 1,15 errechnet mit dem sich die Zeiten von Hobbyläufern wesentlich besser vorhersagen lassen (und es wird noch genauer wenn man berücksichtigt, das Frauen auf längeren Strecken weniger Zeit verlieren als Männer).
Seine Laufzeitvorhersage kann man hier ausprobieren und wenn ich das mache, dann wird mir eine Marathonbestzeit von 3 Stunden und 23 Minuten vorhergesagt. Das ist eine gute Vorhersage – aber eben immer noch keine Vorhersage die so exakt ist wie in der Astronomie. Wenn wir hier eine Sonnenfinsternis prognostizieren, dann wird sie auch genau zum vorhergesagten Zeitpunkt stattfinden. Das liegt daran, dass wir alle Parameter kennen, die wir kennen müssen: Die Bewegung von Erde und Mond; den gravitativen Einfluss der anderen Himmelskörper; die Lichtbrechung in der Atmosphäre, und so weiter.
Beim Laufen ist das nicht so. Als ich im Jahr 2015 meinen vierten Marathon gelaufen bin, hatte ich mir eigentlich eine Zielzeit von 3h20m vorgenommen. Ich wusste, dass ich das schaffen kann; meine Trainingsläufe und die Rennen davor haben mir gezeigt, dass ich schnell und ausdauernd genug dafür bin (und die Zeit entspricht ja auch in etwa der oben erwähnten modifizierten Laufzeitvorhersage). Ich war fit, ich war vorbereitet, ich war ausgeschlafen und ich war motiviert. Aber geklappt hat es trotzdem nicht. Das Rennen war ein Punkt-zu-Punkt-Lauf, von einem Ende der Wachau in Österreich zum anderen. 42 Kilometer die Donau entlang, immer in eine Richtung. Und 42 Kilometer lang kam ein nicht zu vernachlässigender Gegenwind aus der anderen Richtung 🙁 Es war nicht viel, aber doch so viel dass jeder Kilometer ein klein wenig anstrengender war als geplant und nach 32 Kilometern war bei mir dann Schluss und ich konnte das geplante Tempo nicht mehr halten.
Gegenwind könnte man ja noch irgendwie in die Formel einbauen, aber so viele andere Dinge nicht. Vielleicht hat man schlecht geschlafen; schlecht gefrühstückt; ist schlecht gelaunt oder es passt sonst irgendwas einfach nicht. Oder aber es ist andersherum und man fühlt sich am Renntag vom Publikum ganz besonders motiviert; ist ganz besonders gut drauf und kommt viel schneller ins Ziel als erwartet. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung. Meine bisherige Marathonbestzeit habe ich bei einem Rennen erreicht bei dem ich spontan, ohne große Vorbereitung und spezielle Zielsetzung mitgemacht habe. Aber es lief an dem Tag eben alles überraschend optimal.
Laufen ist eben nur bis zu einem gewissen Grad eine Wissenschaft. Und das ist auch gut so! Wenn man vorher schon genau wüsste, wie es ausgeht würde es ja auch keinen Spaß machen. Eines der vielen Dinge die die Teilnahme an einem Rennen so spannend machen ist ja gerade die Frage, welchen Tag man erwischt hat. Einen an dem man um jeden Kilometer kämpfen muss oder einer an dem alles wie von selbst läuft? Ich bin schon sehr gespannt wie es für mich am Sonntag aussehen wird. Als ich das letzte Mal in Linz gelaufen bin, war ich nach 3h31m im Ziel. Wenn ich die Zeiten die ich in den letzten Wochen im Training gelaufen bin entsprechend extrapoliere, dann komme ich ebenfalls auf eine Zielzeit von knapp 3h31m. Aber es kann auch immer anders kommen – ich habe ja erst kürzlich erlebt wie schnell die Fitness verschwinden kann und bin froh, dass ich sie halbwegs wieder gefunden habe.
Ich freue mich auf einen schönen Lauftag in einer schönen Stadt. Ich hoffe auf einen Lauf ohne Verletzung und wenn ich im Ziel angekommen bin, freue ich mich über jede Zeit die auf der Uhr steht. Ich wäre voll damit zufrieden zu sehen dass ich nach dem Formtief im Januar wieder fit genug bin um einen Marathon zu beenden. Und um die Bestzeiten kümmere ich mich dann in der Herbstsaison 😉
Falls jemand aus der Leserschaft am Sonntag in Linz ist könnt ihr ja im Ziel vorbei schauen und mit mir und einem Bier auf die zutreffende (oder danebenliegende) Vorhersage anstoßen: Start ist um 9:30 – wenn der Laufzeitrechner recht hat, dann sollte also um 13:01 über die Ziellinie laufen (bzw ein paar Minuten später, da ja die Eliteläufer immer als erste starten dürfen). Aber wann immer ich dann auch tatsächlich eintreffen werde: Das Bier trinke ich auf jeden Fall!
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