[Dieser Artikel entstammt der Recherche zu meinem Newton-Buch, haben dann aber aus verschiedensten Gründen keinen Platz mehr im fertigen Werk gefunden.]
Der morgendliche Blick in mein Email-Postfach ist wieder einmal erfreulich und ernüchternd zugleich. Einerseits haben sich viele Leserinnen und Leser gemeldet, die Fragen zu meinen letzten Artikeln haben oder einfach nur selbst ausdrücken wollen, wie faszinierend sie die Wissenschaft finden. Andererseits sind leider auch wieder die üblichen Beleidigungen darunter. Ganz in der Tradition von Keats sind sie erbost darüber, dass Forscher mehr über das Universum herausfinden.
Es ist eigentlich absurd, wenn es nicht auch gleichzeitig so traurig wäre: Genau die gleichen Erkenntnisse der Wissenschaft, die von diesen Leuten so vehement kritisiert und bekämpft werden, ermöglichen es ihnen erst, ihren Computer zu benutzen, mit dem sie mir ihre unfreundlichen Emails schicken. „Lieber Herr Florian Freistetter“, beginnt da zum Beispiel eine der Nachrichten noch recht höflich. Danach geht es aber direkt weiter: „Wer Esoterik und Pseudowissenschaft als Unsinn bezeichnet ist weltfremd und hat ein Brett vor dem Hirn! Oder besser gesagt sehr rückständig und primitiv.“ Nun ja. Zumindest sind heute keine Androhungen körperlicher Gewalt dabei.
Nach all dem Ärger über die unfreundlichen Briefe möchte ich nun erst Mal in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken, bevor ich mit der Arbeit anfange. Die Kaffeemaschine in der Küche ist keines dieser modernen Luxusgeräte aus der Fernsehwerbung, aber sie tut ihren Job. Früher habe ich mir ja aus irgendeinem Grund eingebildet, ich müsse den Kaffee unbedingt schwarz trinken. Aber diese Phase jugendlicher Effekthascherei ist zum Glück vorüber gegangen und bin mittlerweile darauf gekommen, dass er mir mit ein wenig Milch viel besser schmeckt. Vor allem aber sieht Kaffee mit Milch einfach viel schöner aus.
Ein kleiner Schluck weißer Milch in der heißen dunklen Flüssigkeit beginnt sofort zu verwirbeln und zeichnet komplizierte Muster in die Tasse. Muster, die ich allerdings schnell wieder zerstöre, da ich den Kaffee nicht nur mit Milch sondern auch mit Zucker trinke und das Ganze mit dem Löffel ordentlich durch rühre, bis alles eine gleichmäßige hellbraune Färbung angenommen hat.
Noch allerdings ist der Kaffee zu heiß um ihn zu trinken. Und ich habe ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, dass in dieser Tasse ein äußerst faszinierender Teil der modernen Physik zu finden ist. Die Vermischung von Milch und Kaffee illustriert das Scheitern, der Natur eine künstliche Ordnung aufzuzwingen. Die simple Tasse Kaffee, die vor mir auf dem Küchentisch steht, langsam abkühlt und dabei eigentlich völlig harmlos aussieht, zeigt uns ein völlig chaotisches und ungeordnetes Universum, das sich der Beschreibung der Wissenschaftler über Jahrhunderte hinweg widersetzt hat und es in gewisser Weise auch heute noch tut.
Dabei hat alles sehr unschuldig angefangen. Isaac Newton, und mit ihm die Generation der ersten Naturwissenschaftler im modernen Sinn, waren im 17. Jahrhundert von dem Wunsch getrieben, die Welt wissenschaftlich zu ordnen und die in ihr auftretenden Phänomene das erste Mal einheitlich und vernünftig zu beschreiben. Eines dieser Phänomene war die Temperatur der Dinge. Heute erscheint es uns völlig normal, wenn wir im Wetterbericht die Temperatur in Grad Celsius zu hören bekommen oder am Herd einen entsprechenden Knopf drehen. Das Wasser im Kochtopf beginnt selbstverständlich bei 100 Grad zu kochen und im Eisfach des Kühlschranks gefriert es ebenso selbstverständlich bei 0 Grad. Aber wie so oft in der Wissenschaft war es zu Beginn bei weitem nicht so einfach.
Die Temperatur der Dinge zu bestimmen und vor allem zu definieren, ist schwieriger, als man auf den ersten Blick denken möchte. Schon in der Antike war den Naturphilosophen bekannt, dass sich bestimmte Substanzen ausdehnen, wenn sie warm sind und sich bei Kälte zusammen ziehen. Das gilt vor allem für die Luft: Wenn man sie in einer Röhre mit ein wenig Wasser einschließt, sorgt ihre Kompression oder Expansion dafür, dass sich die Höhe des Wasserspiegels ändert. Solche simplen „Thermoskope“ waren schon vor über 2000 Jahren bekannt, aber die ersten halbwegs genauen „Thermometer“ entstanden erst im 17. Jahrhundert. Der Unterschied zwischen einem Thermoskop und einem Thermometer steckt in der Skala. Ein Thermoskop zeigt einem nur an, ob etwas wärmer oder kälter wird, aber nicht, um wie viel. Um das messen zu können, muss man eine Temperaturskala entwerfen und das stellte sich als kompliziertes Problem heraus.
Damit ein Thermometer so funktioniert, wie wir es gewohnt sind, muss es kalibriert werden. Man muss einen Zustand definieren, bei dem die Flüssigkeit in einem Thermometer immer exakt den gleichen Zustand einnimmt, so dass die Messungen auch immer das gleiche Ergebnis liefern, egal wo und von wem das Gerät benutzt wird. Einer der ersten, der sich daran machte, genau so eine Skala zu entwickeln, war Isaac Newton. Obwohl das, was er im Jahr 1701 unter dem lateinischen Titel „Scala graduum caloris“ publizierte, auf den ersten Blick nicht unbedingt nach einer einfachen und wissenschaftlichen exakten Definition einer Temperaturskala klingt.
Zeigt Newtons Thermometer zum Beispiel 1 Grad an, dann ist es nach seiner Definition so kalt wie „die Luft im Winter“, 6 Grad dagegen entsprechen „der Hitze, die mittags irgendwann im Juli herrscht“. 12 Grad dagegen herrschen, wenn das Gerät beim Kontakt mit dem menschlichen Körper den maximalen Wert anzeigt. Und Wasser ist 17 Grad warm, wenn man seine Hände gerade noch so hinein halten kann ohne sich zu verbrennen, vorausgesetzt man hält sie still und hat sie vorher in Eiswasser getaucht. Das klingt alles ein wenig vage und und wahllos zusammengewürfelt. Aber bei näherer Betrachtung hat Newton sich sehr große Mühe für eine exakte Messung gegeben.
Man kann ihm auch keinen echten Vorwurf ob seiner obskuren Definitionen machen. Also man kann schon, aber man muss es nicht. Denn damals gab es eben noch keine vorgegebenen Referenzen und fertig kalibrierten Instrumente, nach denen man sich richten konnte. Newton und seine Kollegen mussten alles von Grund auf neu definieren. Das Wasser spielte dabei natürlich eine fundamentale Rolle und bildet auch bei Newton zwei der wichtigsten Fixpunkte: Eine Temperatur von 0 Grad herrschte, wenn Wasser gefriert. Das klingt simpel, ist aber in der Realität gar nicht so einfach zu messen. Wie erwischt man genau den Punkt, an dem Wasser vom flüssigen in den festen Zustand übergeht? Newton gab an, dass man dazu die Temperatur messen sollte, die Schnee hat, der gerade zu schmelzen beginnt. Am anderen Ende der Skala hat man das gleiche Problem: Kochendes Wasser hat laut Newton 34 Grad. Aber wann genau ist dieser Punkt erreicht? Laut Newton dann, wenn es richtig heftig brodelt.
Heute wissen wir, dass die Sache noch viel komplizierter ist. Ob Wasser fest ist, flüssig oder zu kochen beginnt, hängt nicht nur von der Temperatur ab, sondern auch vom Luftdruck der gerade herrscht. In großer Höhe, zum Beispiel am Gipfel eines hohen Berges, kann Wasser schon bei Temperaturen von unter 100 Grad Celsius kochen. Auf dem 2962 Meter hohen Gipfel der Zugspitze zum Beispiel bei etwa 90 Grad Celsius. Wer sich hier sein Frühstück zubereitet, muss die Koch- und Garzeiten entsprechend verlängern. Hoher Druck dagegen kann dazu führen, dass Wasser auch bei Temperaturen von über 0 Grad Celsius fest bleibt. Am Grund eines tiefen Ozeans aus Wasser könnte der Druck beispielsweise so hoch sein, dass dort „Heißes Eis“ bei Temperaturen von mehreren 100 Grad Celsius existiert. In den Ozeanen der Erde kann das nicht passieren, da hier der Druck auch an den tiefsten Stellen zu gering ist. Aber auf den Planeten anderer Sterne vermuten Astronomen wesentlich tiefere Ozeane und dort könnte auch dieses seltsame Eis existieren.
Von den chemischen Details und dem atomaren Aufbau der Materie, die für dieses Verhalten der Wassermoleküle verantwortlich sind, wusste Newton allerdings noch nichts und musste sich mit seinen notgedrungen nicht absolut exakten Definitionen behelfen. Er ging aber bei der Festlegung seiner Temperaturskala noch einen Schritt weiter und machte sich auch Gedanken, wie man wesentlich höhere Temperaturen als die des kochenden Wasser messen und definieren kann. Das ist gar nicht so einfach, denn man braucht dazu eine passende Methode. Nicht jedes Thermometer kann jede Temperatur messen. Das einzige Instrument beispielsweise, dass ich für die Temperaturmessung besitze ist ein digitales Fieberthermometer und das zeigt mir nur eine Fehlermeldung an, wenn ich es in meinen Kaffee stecke. Er hat also schweres Fieber und ist offensichtlich noch weit über 40 Grad Celsius heiß; eine Temperatur die zu messen das für die menschliche Körpertemperatur ausgelegte Instrument nicht in der Lage ist.
Newton stand vor dem gleichen Problem. Um das gefrierende und kochende Wasser und die verschiedenen Referenzpunkt dazwischen zu messen, hat er ein Glasthermometer verwendet, das mit Leinsamenöl gefüllt war. Es bleibt auch noch bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius flüssig und beginnt erst bei weit über 300 Grad Celsius zu kochen. Aber was, wenn man noch höhere Temperaturen messen möchte? Dann bekommt man Schwierigkeiten, denn das Thermometer zerspringt, wenn das Öl zu kochen beginnt und gasförmig wird und bei noch höheren Temperaturen schmilzt dann sogar das Glas.
Isaac Newton fand eine intelligente Lösung für dieses Problem. Anstatt zu messen, wie sehr sich eine Flüssigkeit in Abhängig von der Temperatur ausdehnt, begann er, die Zeit zu messen, die feste Stoffe brauchen um zu schmelzen und dann wieder fest zu werden. Dazu erhitzte er ein großes Stück Eisen, bis es rot glühte und platzierte darauf verschiedene Metalle. Sie schmolzen und während sich das Eisen abkühlte, wurden sie wieder fest. Die dafür benötigte Zeit bildete die Grundlage für die weiteren Fixpunkte von Newtons Skala: Blei schmolz zum Beispiel bei einer Newton-Temperatur von 96 Grad; Bismuth bei 84 Grad. Denn Schmelzpunkt von Zinn konnte Newton sowohl mit seinem heißen Eisenblock als auch mit dem Leinsamenöl-Thermometer messen und die beiden Methoden so aufeinander abstimmen.
Damit er aus der Beobachtung der schmelzenden Metalle Werte für seine Temperaturskala angeben konnte, ging Newton von einer simplen Gesetzmäßigkeit aus: Die Geschwindigkeit mit der ein Körper Wärme verliert ist um so größer, je größer der Temperaturunterschied zwischen dem Körper und seiner Umgebung ist. Dieser Zusammenhang wird auch heute noch das „Newtonsche Abkühlungsgesetz“ genannt.
Auch mein Kaffee kühlt in der Zwischenzeit immer weiter ab. Allerdings nicht so, wie Newton sich das vorgestellt hat; zumindest nicht ganz. Das Gesetz das er zur Beschreibung seiner Temperaturskala aufgestellt hat, gibt nur ein sehr vereinfachtes Bild der Realität wieder. Wie kompliziert die Sache wirklich ist, haben Wissenschaftler erst lange nach Newton festgestellt – und ist Thema des zweiten Teils des Artikels der morgen erscheint.
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