[Dieser Artikel entstammt der Recherche zu meinem Newton-Buch, haben dann aber aus verschiedensten Gründen keinen Platz mehr im fertigen Werk gefunden. Der erste Teil dieser Serie findet sich hier. Den zweiten Teil gibt es hier]
Die Mathematiker und Physiker haben das Chaos mittlerweile viel besser verstanden und erforscht. Sie haben Methoden entwickelt um chaotische Systeme zu beschreiben und dank der Computer die ihnen heute zu Verfügung stehen, können sie es auf eine Art und Weise analysieren, von der Edward Lorenz damals wohl nur träumen konnte. Man weiß heute sehr viel besser, wo das Chaos überall auftreten kann und kennt die vielfältige Art und Weise, in der es sich in allen möglichen natürlichen Vorgängen zeigt. Aber chaotisch und unvorhersagbar ist es trotz allem geblieben. Das Verhalten der Milch in meinem Kaffee lässt sich heute vielleicht besser verstehen als vor einem halben Jahrhundert. Aber trotzdem kann ich sein Verhalten ebenso wenig vorhersagen, wie damals Edward Lorenz das Wetter. Bis auf eine Vorhersage natürlich: Lässt man den Kaffee lange genug stehen, dann ist er irgendwann genau so kalt wie seine Umgebung. Newtons Abkühlungsgesetz mag zwar nicht völlig exakt sein und das Chaos ignorieren, aber kalter Kaffee ist am Ende dann doch immer noch kalter Kaffee.
Und da kalter Kaffee kein großes Vergnügen ist, trinke ich meine Tasse lieber schnell aus und spüle sie ab. Im Spülbecken zeigt sich das Chaos allerdings gleich ein weiteres Mal. Nein, ich meine damit nicht das schmutzige Geschirr, dass sich hier oft stapelt. Das ist nur ganz normale Unordnung, aber nicht das komplexe Chaos der Wissenschaft. Ich meine den Wasserstrahl, der aus dem Hahn in die Spüle fließt. Während das Wasser durch das Becken und um den Abfluss wirbelt verhält es sich dabei auf eine Art und Weise, die die Wissenschaftler seit Jahrzehnten vor ein Rätsel stellt. Die turbulenten Strömungen, die man im Wasser der Flüsse und Meere genau so findet wie in der Bewegung der Luft, die über die Tragflächen eines Flugzeug strömt oder der Atmosphäre der Erde, haben sich bisher erfolgreich einer umfassenden mathematischen Beschreibung entzogen.
Das Problem der turbulenten Strömungen gehört zu den großen ungelösten Fragen der Physik und der Mathematik. Es steht sogar auf der Liste der sogenannten „Millenium-Probleme“ für deren Lösung das Clay Mathematics Institute einen Preis von einer Million Dollar ausgelobt hat. Dabei geht es aber nicht nur einen abstrakten Erkenntnisgewinn. Ein besseres Verständnis der Turbulenz hilft dabei, Flugzeuge sicherer und energiesparender zu bauen. Es spielt eine Rolle beim Bau von Brücken, deren Fundamente von Wasser umströmt werden. Auch das Blut in unserem Körper fließt turbulent und das kann sowohl positive als auch negative Folgen haben. Überall in der Industrie und Wissenschaft müssen sich Forscher mit der Turbulenz beschäftigen und da sie keine umfassende mathematische Beschreibung zur Verfügung haben, sind sie dabei auf Computersimulationen angewiesen, in denen die Bewegung von Flüssigkeiten näherungsweise dargestellt wird.
Auch Isaac Newton war sich schon bewusst, dass nicht jede mathematische Gleichung exakt gelöst werden kann und hat ein Verfahren entwickelt, um sich einer Lösung zumindest annähern zu können. Sein „Newton-Verfahren“ findet heute immer noch Anwendung in der Wissenschaft, unter anderem auch bei der Simulation turbulenter Strömungen. Vereinfacht gesagt besteht das Verfahren darin, eine komplizierte Gleichung durch eine etwas einfachere Funktion zu ersetzen, die sich besser lösen lässt. Auf den ersten Blick mag das wie Schummelei aussehen. Wenn die Gleichung zu schwierig ist, muss man sich eben mehr anstrengen! Was soll es bringen, wenn man nicht die Gleichung löst, die man eigentlich lösen will sondern eine andere? Aber Newton war niemand der schummelt und schon gar niemand, der sich von schwieriger Mathematik abschrecken lässt (Immerhin hat er einen großen Teil der Mathematik, der heute allgemein als „schwierig“ verstanden wird, selbst erfunden!). Er hat sich bei dieser Methode also durchaus etwas gedacht.
Natürlich kann man die ursprüngliche Gleichung nicht durch irgendeine beliebige andere ersetzen. Aber durch eine, die der ursprünglichen Gleichung sehr ähnlich ist. Und wenn sich die Gleichungen ähnlich sind, dann müssen auch die Lösungen ähnlich sein, dachte Newton. Die Lösung die man so erhält ist zwar nicht exakt die, die man haben will, dient aber als Ausgangspunkt für eine neue Gleichung, die sich dann ebenso annähernd lösen lässt. Wiederholt man den Vorgang immer wieder, kommt die angenäherte Lösung der echten Lösung der Gleichung immer näher.
Das Newton-Verfahren gehört heute zu den Standardverfahren der Physiker, wenn sie es mit Gleichungen zu tun haben, die zu kompliziert sind um direkt berechnet zu werden. Zusammen mit vielen anderen ähnlichen Techniken macht es das Chaos ein klein wenig beherrschbar und verständlich. Aber überraschenderweise ist es selbst ebenfalls eine Quelle für absolute Unvorhersagbarkeit. In den 1980er Jahren beschäftigte sich der amerikanische Mathematiker John Hubbard mit Newtons Methode. Manche Gleichungen haben nicht nur eine einzige Lösung, sondern mehrere (Die Gleichung x² = 4 kann zum Beispiel sowohl durch x = 2 als auch durch x = -2 gelöst werden).
Welche Lösung gefunden wird, hängt davon ab, mit welchem Startwert man das Verfahren beginnt. Hubbard wollte wissen, wie die Methode von Newton die unterschiedlichen Lösungen findet. Anschaulich kann man sich den Prozess durch eine Ebene mit mehreren Löchern vorstellen, von denen jedes einer korrekten Lösung des Problems entspricht. Lässt man eine Murmel irgendwo auf dieser Ebene losrollen, wird sie dank Newtons Verfahren irgendwann in eines der Löcher fallen. Die Frage, die sich Hubbard stellte war: Gibt es eine Regel, die vorhersagen kann, in welches Loch eine Murmel fallen wird? Normalerweise würde man davon ausgehen, dass eine Kugel, die in der Nähe eines bestimmten Lochs losrollt, auch in diesem Loch landen wird und nicht in einem, das weiter entfernt ist. Und auf den ersten Blick ist das auch genau so. Aber Hubbard sah genauer hin und stellte fest, dass das Bild bei weitem nicht so klar ist. Er begann, Grenzen um die Einzugsbereiche der Löcher zu zeichnen. Aber das stellte sich als schwierig heraus, denn es gab einfach keine klare Trennlinie zwischen Startpunkten, die zu der einen oder der anderen Lösung führen. Im Einflussbereich des einen Lochs fand er immer Startpunkte die dann doch zum anderen Loch führten und umgekehrt. Und ein Ende war nicht in Sicht, es wurde immer nur chaotischer.
Hubbard betrachtete zum Beispiel eine äußerst simple Gleichung, die drei Lösungen hatte und stellte fest, dass es unmöglich war, zusammenhängende Einzugsbereiche für die Lösungen zu finden. Es gab Punkte, an denen die Kugel zum einen Loch rollte und Punkte, an denen sie in einem anderen Loch landete. Aber zwischen diesen beiden Punkten fand sich immer ein Punkt, bei dem die Murmel zur dritten Lösung rollte. Und zwischen diesem Punkt und den anderen Punkten ebenfalls Punkte, die zu anderen Lösungen führten. Und so weiter, bis in die Unendlichkeit.
Hubbard fand das gleiche komplexe Verhalten, das auch schon Lorenz bei der Untersuchung seines Wettermodells gefunden hatte. Es ließ sich nicht vorhersagen, bei welcher Lösung man am Ende landen würde; schon winzigste Änderungen des Startwerts konnten Newtons Verfahren dazu bringen, statt der einen die andere Lösung der Gleichung zu liefern und es gab keine Methode mit der sich vorhersagen ließ, welche Lösung das sein würde. Genau so konnten kleinste Änderungen in den Luftströmungen der Erdatmosphäre dafür sorgen, dass sich das Wetter völlig anders entwickelt. Gewisse Bereiche der Natur scheinen einfach keine klare Trennung zwischen „Ordnung“ und „Chaos“ zu kennen (was aber trotzdem keine Rechtfertigung ist, die Wohnung nicht aufzuräumen!). Wie sie sich entwickeln, lässt sich prinzipiell nicht vorhersagen und selbst wenn man die physikalischen Gleichungen kennt, die ihr Verhalten beschreiben, ist es nicht möglich, sie exakt zu lösen.
Isaac Newton wollte mit seinem Verfahren einen Weg aufzeigen, mit dem sich solche komplexe Gleichungen trotzdem noch lösen lassen. Aber dass dieses Verfahren selbst so komplex sein und das Chaos hervorbringen würde, das es bekämpfen sollte, hätte ihn vermutlich sehr überrascht. Newtons Welt war eine Welt der Ordnung in der prinzipiell alles berechnet und vorhergesagt werden konnte. Und wenn ein mathematisches Problem zu komplex war, um eine Lösung zu finden, dann war das die Schuld der Wissenschaftler (aus Newtons Sicht vermutlich: die Schuld der anderen Wissenschaftler, denn bei der Frage ob er selbst Fehler gemacht hatte oder jemand anderes war die Antwort für Newton immer sehr klar), die dafür einfach noch nicht die richtigen Instrumente gefunden hatten und nicht die der Natur selbst. Newtons Verfahren war als Hilfsmittel gedacht, diesen Zustand zu überbrücken, bis irgendwann eine exakte Lösung gefunden wurde. Für Chaos war in seinem Universum kein Platz. Aber Newtons Arbeit war nötig, um den Forschern späterer Generationen einen neuen Blick auf die Welt zu ermöglichen. Um das Chaos erkennen zu können, muss man zuerst die Ordnung im Kosmos identifizieren und Newton hat genau das getan. Newton hat den Menschen gezeigt, dass man die Welt verstehen kann und das gilt heute noch genau so wie damals, selbst wenn das Chaos sein bestes tut, um uns daran zu hindern.
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