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Ein Universum ohne Dunkle Materie
von Oliver Müller
Als letzter Astronom der Universität Basel beschäftige ich mich mit Kosmologie auf (astronomisch) kleinen Skalen und blogge gelegentlich auf dem Blog Prosa der Physik.
Ein Universum ohne Dunkle Materie, ist das möglich? “Ja!”, zeigte der israelische Physiker Mordehai Milgrom im Jahre 1983 und löste damit eine Debatte aus, die sich bis heute hartnäckig in der Wissenschaft hält. Mit einer einfachen Modifizierung von Newtons Gravitationsgesetz wird die Dunkle Materie (fast) überflüssig.
Bevor wir uns tief in das Thema der Dunklen Materie stürzen, verschaffen wir uns kurz einen Überblick, warum wir sie überhaupt benötigen. Der erste Name der dabei fallen muss, ist der des streitlustigen Schweizer Astronomen Fritz Zwicky. Er erkannte in den vierziger Jahren, dass die sichtbare Masse in Galaxienhaufen – das sind Ansammlungen von tausenden von Galaxien – nicht reicht, um sie zusammenzuhalten. Die Galaxien müssten eigentlich innert kürzester Zeit aus den Galaxienhaufen geschleudert werden, es sei denn, die Galaxienhaufen enthalten eine Art unsichtbare Materie, die so stark gravitationell wirkt, dass die Galaxien dennoch zusammengehalten werden. Die Idee der Dunklen Materie war geboren. Eine kleine Anekdote über Fritz Zwicky besagt, er habe seine Studenten als “sphärische Bastarde” bezeichnet. “Egal von welcher Richtung aus man sie sich auch anschaut, sie bleiben die gleichen Bastarde”, ich glaube, das sagt viel über seinen Charakter aus.
In den späten siebziger Jahren kam ein Phänomen dazu, das endgültig den Beginn der Forschung über Dunklen Materie besiegelte: Vera Rubin und Albert Bosma studierten systematisch die Rotationskurven von Spiralgalaxien und erkannten, dass jede einzelne Spiralgalaxie eine flache Rotationskurve aufweist. Warum ist dies so spannend? Eigentlich müssten auch Spiralgalaxien den Gesetzen von Kepler und Newton folgen. So wie im Sonnensystem sollten Sterne, je weiter sie vom Zentrum der Galaxie entfernt sind, kleinere Rotationsgeschwindigkeiten aufweisen. Jedoch haben Rubin und Bosma nicht Keplers Gesetz gemessen, sondern haben gezeigt, dass ab einer gewissen Distanz die Geschwindigkeit konstant bleibt und nicht mehr abnimmt. Hier kann man wieder Zwickys Idee zur Hand nehmen und eine Art Dunkle Materie einfügen, die genau so verteilt ist, dass die Geschwindigkeit der Sterne gegen aussen konstant bleibt: Spiralgalaxien sind umgeben von einem riesigen Halo aus Dunkler Materie und was wir sehen, ist nur die Spitze des Eisberges. Diese Verteilung der Dunkle Materie so zu modelieren, dass sie jeweils zur gemessenen Rotationskurve passt, ist ein extrem rechenintensiver Prozess, den auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute noch beschäftigt.
Etwa zur gleichen Zeit hat der israelische Theoretiker Mordehai Milgrom eine alternative Betrachtungsweise für das Problem entwickelt. In dem er das Newtonsche Gravitationsgesetz bei kleinen Beschleunigungen modifiziert, werden die von Rubin und Bosma gemessenen Rotationskurven einfach erklärt. Dieses Gesetz nennt man heutzutage “modifizierte Newtonsche Dynamik” oder kurz MOND. Durch Einfügen einer neuen Naturkonstanten a0 wird die Rotationskurve unabhängig von der Distanz zum Zentrum und ist nur noch durch die Masse des Zentralkörpers definiert.
Die Beschleunigung, bei dem MOND zum Einsatz kommt, liegt bei etwa 10 hoch -10 (das sind 10 Nachkommastellen) Meter pro Quadratsekunde. Zur Erinnerung: auf der Erde herrscht eine Schwerebeschleunigung von 9.8 Meter pro Quadratsekunde. Das schöne an Milgroms Formel ist, dass nur das Licht der sichtbaren Materie gemessen werden muss, mit welcher dann schulbuchmässig die Rotationskurve ausgerechnet wird. Es ist keine mühsame Modelierung der Dunklen Materie von Nöten. Um es in technischen Worten auszudrücken, verknüpft MOND die Masse der sichtbaren Materie mit ihrer Kinematik.
Obwohl MOND sehr viele Vorhersagen gemacht hat, die (fast) alle später bestätigt wurden, fristet es in der Kosmologie ein Randdasein. Zu viele Forschende sind überzeugt, dass es die Dunkle Materie geben muss, und zwar so sehr, dass jegliche Alternative ausgeschlossen werden. “MOND ist nur ein Sandkastenmodell und Einstein hat die ultimative Antwort zum Universum bereits geliefert!”, hier kommt dann aber meine Frage auf, warum MOND denn so gut funktioniert, wenn es doch nur eine Spielzeugformel ist? Und das ist genau das Wahnsinnige daran: MOND hat eine fixe Formel und macht genaue Vorhersagen. Sie ist somit falsifizierbar. Man misst das sichtbare Licht und weiss, wie sich die Objekte bewegen, was völlig unmöglich im Standardmodell ist. Würde nur eine einzelne Abweichung der MOND Formel gemessen werden, z.B. eine Rotationskurve, die sich nicht an ihr Gesetz hält, wäre die Theorie widerlegt. Bisher gehorchen aber alle Galaxien den Gesetzen von MOND. In einem Dunklen-Materie-Szenario kann jedoch immer die Dunkle Materie so modelliert werden, dass sie mit den Beobachtungen übereinstimmt und hat quasi keine Vorhersagekraft. Das Szenario wird somit nie falsifiziert, egal, was gemessen wird. Ähnlichkeiten zu solchen Ansätzen gibt es in der Wissenschaft zuhauf, hier zwei berühmte Beispiele: 1. die alten Griechen haben darauf beharrt, dass die Planeten auf Kreisbahnen um die Erde wandern. Da die Planeten dies aber in Wirklichkeit nicht tun, mussten zusätzliche Kreisbahnen, die sogennanten Epizykeln, eingeführt werden, um das Kreisbahnmodell zu wahren und mit den am Himmel beobachteten Planetenbewegungen in Einklang zu bringen. Viel später erst konnten Galilei, Kepler und Newton zeigen, dass die Planeten nicht Epizykeln benötigen, sondern sich auf Ellipsen befinden und um die Sonne, nicht die Erde, kreisen. 2. wurde im 19. Jahrhundert der hypothetische Planet Vulkan eingeführt, um die Perihelbewegung von Merkur alleine mit Newtons Gesetzen restlos zu erklären. Hätte die Wissenschaft auf diesem Planeten und somit auf Newton beharrt, hätten wir heute nicht die Allgemeine Relativitätstheorie. Bei beiden Beobachtungen wurden “Hilfshypothesen” eingeführt, um die bestehende Theorie, die im Widerspruch zu Beobachtungen stand, beizubehalten.
Die Vorhersagen, die das Dunkle Materie-Modell lieferte, blieben bisher meist unbeobachtet und werden nur als interessante Anomolien der Kosmologie betrachtet. Sie haben heute stehende Namen, wie z.B. das Cusp-core-Problem, das Missing-satellite-Problem, das Planes-of-satellites-Problem, oder das Too-big-too-fail Problem. Philosophisch betrachtet kommen hier eine der vier Strategien des Konventionalismus zum Zug: Wir zweifeln an der Relevanz einer Beobachtung. Somit kann an einem Modell, dass durch ein Experiment widerlegt wurde, dennoch festgehalten werden.
Es gibt ein bekanntes und humoristisches Gesetz in der Kosmologie, das sogennante Frenk-Prinzip: “Falls das Dunkle Materie Standardmodell nicht mit den Beobachtungen übereinstimmt, dann muss es einen noch so bizarren physikalischen Prozess geben, welcher die Diskrepanz erklärt.”. Dieses kann auch zum starken Frenk-Prinzip erweitert werden kann: “Wenn es nicht möglich ist, einen geeigneten noch so bizarren physikalischen Prozess zu finden, der die Diskrepanz erklärt, müssen die Beobachtung falsch sein.”. Jedes neue Problem im Standardmodell erzeugt somit eine neue Epizykel, an der Theorie selbst wird festgehalten.
Vielfach wird der Bulletcluster als ultimatives Todesurteil für MOND in den Raum gestellt. Da aber der Bullet Cluster genauso problematisch für das Standardmodell der Kosmologie ist (Stichwort: Missing-baryon Problem), müsste mit der gleichen Logik auch die Dunkle Materie begraben werden. Warum werden dann also nicht die gleichen Schlussfolgerungen für die Dunkle Materie gemacht? Provokant gesagt leidet die Wissenschaft an einer Kognitiven Dissonanz Störung. Professor David Merritt vom Rochester Institute of Technology hat über die Wissenschaftsphilosophie und die Krise, in der die moderne Kosmologie liegt, einen wundervollen Artikel geschrieben, der hier auf Englisch zu lesen ist.
Warum ist es aber so wichtig, ob wir das Universum nach den Gesetzen der Dunklen Materie oder nach MOND beschreiben? Der Unterschied der beiden Szenarien is gewaltig, so werden z.B. im Standardmodell zuerst Zwerggalaxien geformt, die verschmelzen und immer grössere Galaxien formen, währenddem in MOND zuerst Milchstrassen-förmige Galaxien entstehen, die erst bei Interaktionen mit Nachbargalaxien Zwerggalaxien formen. Das Erstere wäre somit ein Bottom-up-Szenario, das Letztere ein Top-down-Szenario. Ausführlicher nachzulesen ist dies auf meinem Blog. Unser ganzes Verständnis der Strukturbildung des Universums steht somit auf dem Spiel.
Ob die Dunkle Materie Theorie doch richtig liegt, wäre eigentlich einfach gezeigt, es müsste nur ein Dunkle Materie-Teilchen gefunden werden.
Hier in der Schweiz am CERN werden gewaltige Experimente durchgeführt, um dieses Teilchen zu finden. Sie scheiterten jedoch alle. Als heisseste Kandidaten wurden bislang die supersymmetrischen Teilchen gehandelt, von denen wir keinerlei Indiz gefunden haben, dass sie auch tatsächlich existieren. Dennoch sind die meisten Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde fest davon überzeugt, dass sie früher oder später die Nadel im Heuhaufen finden werden. Blöd nur, wenn es keine Nadel im Heuhaufen gibt.
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