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Zwei vegetarische Wiener Kochbücher aus der Zeit um 1900
von Birgit Pack
Ich bin Historikerin und seit langem Vegetarierin. In meinem aktuellen Forschungsprojekt über die Wiener Vegetarier/innen-Bewegung von 1870-1938 kann ich beide Leidenschaften verbinden.
Vegetarisch – was kann man denn da noch essen? Diese Frage, Vegetarier/innen der Gegenwart sattsam bekannt, stellte sich Marie Schmall nach ihrer Heirat mit Josef Schmall im Jahr 1894. Ihr vegetarisch lebender Ehemann setzte voraus, dass Marie Schmall für ihn fleischlose Leckerbissen auf den Tisch brachte. Rückblickend erinnerte sie sich: “Obzwar mir dies im Anfange eine fast unmögliche Aufgabe schien […] gieng’s auch mit der neuen Küche bald besser, ja ich fand sehr bald vielen Gefallen daran und kam schon nach ganz kurzer Zeit mit Überraschungen, welch’ neue damals noch ganz unbekannte Speisen meinem Manne immer viele Freuden bereiteten und diese wieder meinen Eifer anfachten” (Schmall 1900: 53). Als das Ehepaar Schmall um 1895 im 8. Bezirk das erste Reformhaus Wiens eröffnete, gab Marie Schmall ihre Koch-Erfahrungen auf Flugblättern an ihre Kundinnen weiter. Das große Interesse an den Tipps und Rezepten veranlaßte sie, wenig später ein vegetarisches Kochbuch zu veröffentlichen. Die Zukunftsküche, 1900 erschienen, war dabei nicht das erste fleischlose Kochbuch Österreichs: Bereits im Jahr davor hatte Franz Kanitsár sein gebündeltes Wissen darüber, Wie die österreichischen Vegetarier kochen publiziert. Anhand dieser Kochbücher und ihren Autor/innen skizziere ich in diesem Blogbeitrag die Geschichte der Wiener vegetarischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts: Wer entschloß sich um die vorletzte Jahrhundertwende, fleischlos zu leben und welche Gründe gab es dafür? Wie verbreitet war ein vegetarischer Ernährungsstil und welche kulinarischen Alternativen fanden Vegetarier/innen in der Backhendl- und Schnitzelmetropole anno 1900?
Franz Kanitsár und der Wiener Vegetarierverein
Franz Kanitsár (ca. 1840-1937) war eines der aktivsten Mitglieder des Wiener Vegetariervereins und für einige Jahre dessen Vorsitzender. Der Verein war 1881 gegründet worden und versuchte vor allem über Vorträge, die Wiener/innen zum Vegetarismus zu bekehren (Vgl. dazu und zu anderen Angaben zur Wiener vegetarischen Bewegung die Beiträge auf dem Blog Vegetarisch in Wien um 1900).
Da keine Mitgliederverzeichnisse erhalten blieben, kann über die Vereinsangehörigen (deren Zahl sich meist im zweistelligen Bereich bewegte) keine statistische Aussage getroffen werden. Sieht man sich die Funktionäre und Vortragenden an, trifft jedoch der Befund, den Hans-Jürgen Teuteberg für den Deutschen Verein für naturgemäße Lebensweise für das Jahr 1884 erstellte, auch auf Wien zu: Der Großteil der deutschen Vereinsmitglieder gehörte dem Bürgertum und Kleinbürgertum an (Teuteberg: Sozialgeschichte 1994: 57). Als Eisenbahnbeamter entsprach Franz Kanitsár diesem Trend. Die Gründe dafür, dass die Vegetarier/innen-Bewegung ein bürgerliches Phänomen war, sind vor allem ökonomischer Natur: Für Arbeiter/innen stellte sich die Frage, ob sie regelmäßig Fleisch konsumieren wollten nicht, da sie sich das nicht leisten konnten. Die aktive Vereinsmitgliedschaft setzte außerdem Freizeit voraus (vor Einführung der 5-Tages-Woche mit 8-Stunden Arbeitstagen keine Selbstverständlichkeit) und finanzielle Ressourcen für gemeinsame Restaurantbesuche oder Beiträge für beispielsweise das Drucken von Flugblättern.
Die naturgemäße Lebensweise
Franz Kanitsár war in den 1870er Jahren über eine Krankheit zur vegetarischen Ernährung gekommen und ist auch damit repräsentativ für die erste Generation von Vegetarier/innen im 19. Jahrhundert. Für diese stand eine „reizarme“ Diät im Vordergrund, neben Fleisch mieden sie auch Gewürze, Alkohol und Tabak. Zusätzlich zu dem gesundheitlichen Hauptargument wurden ethische bzw. religiöse und ökonomische Gründe für den Fleischverzicht angeführt. Vegetarismus und Tierschutz wurden dabei oft als Maßnahme zur Steigerung der Moral betrachtet, wie Franz Kanitsár ausführte: „Alles Blutige soll vom Tische des Kindes verschwinden, damit seine Seele sich nicht belaste. Die Pflanzenkost macht den Menschen fähig, sich der Laster zu erwehren, welche überall auf ihn lauern“ (Kanitsár: Vegetarier 1899: 2).
Ähnlich puristisch wie die Moralvorstellungen waren auch die „Kochvorschriften“ (so der zeitgenössische Ausdruck für Rezept) in Wie die österreichischen Vegetarier kochen: Die einzelnen Gerichte bestanden aus wenigen Zutaten und waren kaum gewürzt. Verwendet wurden die damals in Ostösterreich verbreiteten Gemüse- und Getreidesorten wie Kraut, unterschiedliche Rübenarten, Grünkern oder Polenta sowie Hülsenfrüchte. Auffällig ist, dass Franz Kanitsár ebenso wie Marie Schmall Mehlspeisen großen Raum gibt. Süße Hauptgerichte oder Nachspeisen wie Grießschmarren mit Obst, Topfenstrudel oder Äpfel im Schlafrock waren aus der Wiener Küche nicht wegzudenken und die österreichischen vegetarischen Kochbüchern hoben sich dadurch deutlich von ihren deutschen Pendants ab. Trotz der internationalen Vernetzung mit Gleichgesinnten, die für die Vegetarier/innen im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte, waren die Rezepte der Wiener vegetarischen Kochbücher stärker an der lokalen Küche orientiert als an überregionalen lebensreformerischen Trends wie beispielsweise der Rohkost.
Marie Schmall: Frauen in der Lebensreformbewegung
Weniger karg als die Ernährungsstipp von Franz Kanitsár präsentierte Marie Schmall (1868-1943) ihr Kochbuch. Als (Mit-)Betreiberin eines Reformhauses und Kochbuchautorin zählte sie zu jenen wenigen Frauen der Lebensreformbewegung, die öffentlich sichtbar waren. Während heute Vegetarismus weiblich konnotiert ist, war der Großteil der (organisierten) Vegetarier/innen um die Jahrhundertwende Männer. Der Grund dafür harrt noch der Erforschung, möglicherweise liegt er im gesundheitlich-medizinischen Schwerpunkt der frühen Lebensreformer(innen) oder darin, dass der Verzicht auf Fleisch einen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen bedeutete, zu dem Frauen nicht so sehr in der Lage oder bereit waren. Zudem lag die Entscheidung, was in einem Haushalt gegessen wurde, meist beim männlichen Haushaltsvorstand. Für fortschrittliche und gesellschaftskritische Frauen dürfte die Vegetarier/innen-Bewegung auch wenig attraktiv gewesen sein, da konservative Geschlechterrollenbilder vorherrschten, wie das Zitat von Marie Schmall am Anfang dieses Beitrags zeigt: Auch jene Männer, die sich vorstellen konnten, von der Tradition des Fleischessens abzugehen, hielten es offensichtlich für undenkbar, sich die vegetarischen Speisen selbst zu zubereiten. Frauen wurden auch von jenen, die einen alternativen Lebensstil wählten, primär in der Küche verortet. Während sich unter Vortragenden zum Thema Vegetarismus selten Frauen fanden, ist ihr Anteil unter Wirt/innen oder Kochbuchautor/innen dementsprechend höher.
Diese Rollenverteilung ist auch in Die Zukunftsküche präsent: Ein theoretischer Abschnitt über den Vegetarismus wurde von Josef Schmall verfasst, den nachfolgenden praktischen Rezeptteil steuerte Marie Schmall bei. Sie hatte dabei den Anspruch, einen umfassenden Küchenratgeber zu liefern, indem sie beispielsweise auch Tipps zur Küchenausstattung gab. Die Rezepte sind, für heutige Leser/innen ungewohnt, aber durchaus nicht selten um 1900, nach dem Modulsystem aufgebaut: Es wurden nicht vollständige Gerichte mit einer Hauptspeise und Beilagen vorgestellt, sondern einzelne Komponenten, die beliebig kombiniert werden konnten, wozu Marie Schmall auch Empfehlungen abgab.
Reformwaren und Konsumgesellschaft
Die Reformhausbetreiberin Schmall führte in ihren Rezepten viele Markenprodukte überregionaler Firmen an. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden durch technische bzw. chemische Entwicklungen neue Produkte wie Haferflocken (für die Haferkörner gewalzt wurden) oder Kokosfett, das besonders für Vegetarier/innen eine wichtige Alternative zu dem in der Wiener Küche omnipräsenten Schmalz darstellte. Durch industrielle Produktionsverfahren waren diese Produkte auch für das (Klein-) Bürgertum und zumindest teilweise für (Fach-)Arbeiter/innen leistbar. In vielen Fällen wurden die Firmennamen der Hersteller zum Synonym für das von ihnen entwickelte Produkt, so wie in Marie Schmalls Rezept „Laureol“ für Kokosfett stand. Prominente Beispiele sind die Maggi Würzsauce oder Knorr Suppenwürfel, die beide im Jahr 1890 auf den Markt kamen und besonders in Vegetarier/innen-Kreisen beliebt waren.
Auch wenn Vegetarier/innen einzelne Entwicklungen am Ernährungssektor kritisierten (wie den Trend zum Weißbrot), bildeten viele Menschen, die sich fleischlos ernährten eine Konsument/innengruppe, die Innovationen am Lebensmittelmarkt positiv gegenüber stand und diese auch durch Empfehlungen bewarb – vorausgesetzt sie waren vegetarisch. Reformhäuser boomten um 1900 und sind, neben vegetarischen Restaurants die es um die Jahrhundertwende in jeder Großstadt gab, ein Beleg für die Verbreitung des Vegetarismus in dieser Zeit, die über die Mitglieder in Vegetarier/innen-Vereinen hinaus ging.
Ob sich Franz Kantisár und Marie Schmall kannten und häufig aufeinandertrafen, wissen wir nicht. Führten sie Streitgespräche über die Frage ‚Konsumverzicht – ja oder nein?‘ oder sahen sich beide als Vertreter/innen einer Bewegung, die auf unterschiedliche Art und Weise dasselbe Ziel (die Abkehr vom Fleischkonsum) hatten? Rückblickend kann man anhand ihrer Beispiele feststellen, dass es um 1900 unter den Vegetarier/innen vielfältige Vorstellungen zur Ernährung gab. Die theoretische Überzeugungsarbeit mittels Vorträgen und die praktische Werbung für den Vegetarismus durch das Angebot von fleischlosem Essen in Restaurants und Reformhäusern waren zwei Schienen, über die möglichst viele Wiener/innen von den gesundheitlichen und ethischen Vorteilen eines vegetarischen Lebensstils überzeugt werden sollten. Das Speisenangebot umfasste dabei traditionell fleischlose Gerichte ebenso wie Neuerungen im Lebensmittelbereich. Die Grundlage blieben Elemente der Wiener Küche des Bürgertums.
Literatur und Quellen:
Pack, Birgit: Vegetarisch in Wien um 1900. Blog zum Forschungsprojekt, abrufbar unter
Teuteberg, Hans-Jürgen: Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 33-65.
Kanitsár, Franz: Wie die österreichischen Vegetarier kochen. Liesing: Eigenverlag 1899.
Schmall, Josef / Schmall, Marie: Die Zukunftsküche. Letzter Rettungsanker zur Verhütung völliger Entartung der Menschheit. In zwei Theilen: 1. Ungeschminkte Worte zur rechtzeitigen Umkehr von Josef Schmall. 2. Praktische Unterweisungen in der Zukunftsküche von Marie Schmall. Wien: Eigenverlag 1900.
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