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Galoppierender Meeresspiegelanstieg?
Von Herbert
Ungewöhnliche Phänomene in meinem Umfeld deuten darauf hin, dass der Meeresspiegel in den letzten Jahren möglicherweise bereits schneller angestiegen ist als in den Jahren zuvor. “Galoppierend“ bedeutet in diesem Zusammenhang einen sich selbst vervielfachenden/ verselbstständigen, evtl. ausser Kontrolle geratenen Prozess.
Vor nicht allzu langer Zeit wurde hier im Blog eine Serie zum Klimawandel veröffentlicht.
Es geht hier im Blog um Wissenschaft… dennoch möchte ich gerade genau das Gegenteil tun – anekdotische Empirie!
Anekdotisch… weil ich nur meine Beobachtungen weitergeben möchte… warum ich das allerdings alles andere als anekdotisch finde, möchte ich euch selbst überlassen…
Ich lebe auf einer Insel mitten im Atlantik – und das bereits seit 15 Jahren… kenne die Insel allerdings bereits seit 1992 – also seit 25 Jahren. Es ist eine der Kanaren.
Man verbringt viel Zeit im und am Wasser – und mich interessiert natürlich auch und gerade der Anstieg des Meeresspiegels. Auf unserer Insel wohnt niemand so nah am Wasser, dass ein paar Meter mehr oder weniger irgendetwas ausmachen würden – aber für den Wassersport und unser tolles Ökosystem ist das natürlich weder unwichtig noch uninteressant.
In der Serie von Florian ist auch der Wikipediaartikel verlinkt, wonach der Meeresspiegel etwa alle 3 Jahre um einen Zentimeter ansteigt – 3,3 Millimeter pro Jahr. Allerdings sind die letzten Messungen schon ein paar Jahre her – offenbar hat man den Anstieg ab 2009 nicht mehr per Satellit verfolgt oder zumindest keine Daten veröffentlicht:
[Zitat] Seit den 1990er Jahren beschleunigte sich der Anstieg deutlich. Zwischen 1993 und 2007 konnte mit Hilfe von Satelliten ein durchschnittlicher jährlicher Anstieg um 2,9 ± 0,4 mm festgestellt werden. Nach Angaben der australischen CSIRO betrug der Anstieg von 1992 bis einschließlich 2009 durchschnittlich 3,3mm pro Jahr, etwa 50% mehr als noch im gesamten 20.Jahrhundert gemessen wurden. (Wiki)
Wir haben eine unbefestigte Strasse im Norden der Insel (sog. North-Shore), die die West- mit der Ostküste verbindet, dem Küstenverlauf folgt und häufig sehr dicht am Wasser entlang verläuft.
Oder eben mittlerweile durchs Wasser!
Es gab, solange ich mich erinnern kann, schon immer eine, danach zwei Stellen, an denen der Atlantik gelegentlich die Strasse berührte. Dazu bedarf es allerdings besonderer Bedingungen: einen besonders grossen Tidenhub (tiderange) und eine besonders grosse Dünung (swell).
Der Tidenhub bezeichnet die Differenz zwischen dem Punkt des niedrigsten Wasserstandes und dem des höchsten. Florian hat das Prinzip der Gezeiten einmal detailliert beschrieben.
Letztlich kann man sagen, dass der Mond etwa 2/3tel der Gezeiten (tides) hervorruft und die Sonne das ihrige 1/3tel dazu beiträgt. Weder der Mond ist immer gleich weit von der Erde entfernt (363.000 – 405.000 km) – noch sind Erde und Mond immer gleich weit von der Sonne entfernt
(147 Mio. – 152 Mio. km). Und je nach Stellung des Mondes zur Sonne, also abhängig von der Mondphase (Vollmond, abnehmender Halbmond, Neumond, zunehmender Halbmond – full moon, waning gibbous, new moon, waxing gibbous – gelegentlich werden die Halbmonde auch als first und third/ last quarter bezeichnet) variiert auch der Tidenhub – auf den Kanaren etwa zwischen 0,6 Metern im Minimum und 2,8 Metern beim Maximum.
Im monatlichen Rhythmus gibt es also immer wieder wöchentlich sehr flache Verlaufskurven und ausgeprägte Verlaufskurven – der Wasserstand bewegt sich zu den Vollmond- und Neumondphasen besonders stark und zu den jeweiligen Halbmondphasen besonders wenig. Dazu kommt dann noch der jahreszeitliche Einfluss – im Frühjahr und im Herbst sind Erde-Mond besonders nah an der Sonne, was ihren Einfluss auf die Gezeiten und den Tidenhub steigert und die Gezeiten entsprechend kräftiger ausfallen lässt.
Funfact: Wer sich schon immer gewundert hat, wo denn die Spring-Flut hin springt: Das ist der englische Begriff für den Frühling (spring). Und zum Vollmond im Frühling war bzw. ist die Tide mit dem höchsten Wasserstand zum Vollmond, also hat man dafür einen eigenen Begriff kreiert. Mittlerweile bezeichnet die Springtide allerdings nicht mehr das Jahresmaximum sondern das Monatsmaximum – der entsprechende Gegenpart heisst Nipptide (neap-tide) und das Jahresmaximum trägt mittlerweile den Begriff “king-tide”.
Ob und dass unsere Strasse unter Wasser steht hat also wesentlich mit der Mondphase und der Jahreszeit zu tun – und den Schwankungen der Entfernung von Mond und Sonne zur Erde.
Der zweite Faktor sind die Wellen – die allerdings tatsächlich den unwesentlicheren Einfluss auf die Überspülungen haben.
Richtig ist, dass selbst bei einem extremen Tidenhub kleine Wellen die Strasse nicht unter Wasser setzen – und genauso wenig setzten Riesenwellen die Strasse bei einem kleinen Tidenhub unter Wasser – dazu bedarf es beides: extremer Hochstand und extrem hohe Wellen. Gelegentlich kommen bei uns Wellen mit einer Höhe von vorne mit bis zu 15 Metern an – als Massstab.
Sind die Wellen allerdings so gross, brechen sie schon sehr weit vor der Küste, so dass ihr Einfluss auf den Wasserstand an der Küstenline, also am Strand, nur mittelbar ist.
Auch der sogenannte Brandungsstau kommt hier nicht mehr wirklich zum Tragen. Der Brandungsstau bezeichnet das Aufstauen des Wassers während eine Gruppe von Wellen (sets) an der Küste bricht (surf) und das Wasser, das den Strand hinauf gespült wird, so lange am Ablaufen hindert, bis das einbrandende Wasser an Kraft verliert und das aufgelaufene Wasser wieder ablaufen kann.
Funfact: Dass und warum sich Wellen zu Gruppen zusammen schliessen… können – führt hier zu weit. Aber – und das muss man etwas sacken lassen – es ist eine etwas verstörende Tatsache, dass die Wellengruppe schneller über den Ozean reist als die in ihr enthaltene einzelne Welle!
Was hat das Ganze nun mit dem Klimawandel zu tun?
Innerhalb der letzten 3-4 Jahre sind aus den zwei Überflutungs-Stellen fünf (5) geworden! Und die Stellen, die bereits existierten, werden immer weiter und massiver überspült als noch vor 5 Jahren.
Bis 2009 wurde der durchschnittliche jährliche Meeresspiegelanstieg mit 3,3 Millimetern pro Jahr angegeben.
Nun kann man ganz viele Faktoren ins Spiel bringen, die diesen Effekt hervorrufen können – mehrere davon habe ich ja explizit erwähnt.
Vielleicht versinkt unsere Insel. Vielleicht nutzt sich die – unbefestigte – Strasse immer mehr ab. Vielleicht waren einfach nur zufällig besondere Tiden und besonders grosse Wellen mit besonders zufälligem Brandungsstau in besonders zufälliger Kombination die Ursache. Wind kann den Wasserstand entscheidend beeinflussen (z.B. in Hamburg bringt ein Sturm bei auflandigem Wind bis zu 1 Meter höheren Wasserstand mit sich!)
Vielleicht reichen ja auch die 2 cm mehr (2009-2016), um die drei neuen Überflutungsstellen zu erklären.
Oder aber der Meeresspiegel ist innerhalb der letzten 3-5 Jahre deutlich mehr angestiegen als die zuletzt dokumentierten 3,3 Millimeter.
Letztlich sind die beiden “Originalstellen” mittlerweile – wenn sie denn überflutet werden – massiv stärker unter Wasser – und wenn die Strasse überflutet wurde, dann mittlerweile immer an allen fünf Stellen.
Auf den Kanaren bewirken ein paar Meter Meeresspiegelanstieg nicht besonders viel für den Menschen – aber die Politik sollte sich langsam Gedanken machen, was mit Bangladesch (163 Mio. Einwohner), den Malediven (350.000 Einwohner), Dutzenden anderen Atollen (Kiribati 110.000 Einwohner) in naher Zukunft – und schliesslich ganz vielen an der Küste gelegenen Millionenstädten (u.a. New York – 8 Mio. Einwohner) in den kommenden Jahren passieren wird und ihren Einwohnern … die dann irgendwohin müssen!
Nichts, was man auf die lange Bank schieben sollte. Es wird langsam eng.
Und vielleicht bereits enger als man glaubt!
Wie sagt Holger Klein immer so schön: wir brauchen mehr Wissenschaft!!
Und die schnell.
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