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Creepypasta & ASMR : Die neuen Geschichtenerzähler im Netz
Das Geschichtenerzählen und die Tradition der mündlichen Überlieferung sind eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Besonders spannende, mahnende und gruselige Begebenheiten wurden stets weitergetragen, um zu unterhalten. Durch die Kombination aus ausschließlich online verbreiteten Kurzgeschichten und “Kopfkribbeln” hervorrufenden Audioaufnahmen hat sich das Horror-Genre auf seine Wurzeln zurückbesonnen.
von Samael Falkner
Samael Falkner arbeitet mit Text und Werbung, publiziert von Zeit zu Zeit politische Kolumnen und ist Autor zahlreicher Kurzgeschichten.
In einem Winkel des Internets tun Menschen Dinge vor und mit Mikrofonen. Eine junge Frau raschelt mit Bläschenfolie vor der Kamera, ein Mann schneidet mit einer Schere durch die Luft. Sie flüstern, machen Geräusche mit dem Mund, streicheln Perücken, klappern mit Kämmen und scharren mit den Füßen. Was witzig aussieht, gehört eigentlich auf die Ohren. ASMR, Autonomous Sensory Meridian Response, genannt, ist eine Form der Audiounterhaltung, bei der besonders intensive Geräusche zur Entspannung eingesetzt werden. Idealerweise hört man diese Videos auf hochwertigen Kopfhörern in ruhiger Umgebung. Sie erzeugen dann ein Raumambiente, in dem der dafür empfängliche Hörer die Berührungen tatsächlich spürt. So wie wir uns eine Bewegung oder Berührung plastisch genug vorstellen können, dass unser Gehirn sie tatsächlich nachempfindet, so spüren wir auch den Wind im Gesicht, wenn uns die Frau im Video, räumlich korrekt durch sensible Mikrofontechnik aufgenommen, anpustet. Das Phänomen der aktivierten Hirnregionen während der Zuordnung von Geräuschen ist, zumindest meines Wissens nach, noch nicht vollständig erforscht. Es scheint jedoch eine Art von Nutzern zu geben, für die ASMR funktioniert und eine, die über die Performances lediglich Tränen lacht – auch eine Art der körperlichen Reaktion.
In einer ganz anderen Ecke des Netzes findet sich die Community der Creepypasta-Autoren und Leser. Creepypasta lässt sich am ehesten als eine Art der Kurzgeschichte klassifizieren. Auf einer Länge von zumeist wenigen Seiten erzählen Nutzer anderen Nutzern eine gruselige Begebenheit. Meist ist die Geschichte so aufgebaut, als ob sie einem guten Freund erzählt würde. Der handelnde Ich-Erzähler benötigt Hilfe oder möchte sich etwas vom Herzen reden. Darum wendet er sich an ein Forum und erzählt seine (rein fiktive) Horror-Geschichte. Auch einige Hoaxes und Fake-News hatten ihren Ursprung in dieser Geschichtenform. Boulevardzeitungen und Blogs greifen immer wieder Gegenstände der Creepypasta als vermeintlich mysteriöse Fakten auf. Aber auch die Nutzer selbst versinken in Einzelfällen in den gut erzählten, durch tausende Nutzer immer weitergesponnenen, Geschichten. So wurde beispielsweise die moderne Legende des “Slenderman”, eines überlebensgroßen Mannes ohne Gesicht, der je nach Version Kinder selbst entführt oder vor Gewalt rettet, zu einem so massiven Onlinephänomen, dass er einen versuchten Mord im Jahr 2014 nach sich zog, als zwei 12-jährige Mädchen die fiktive Figur beschwören wollten. Bei einer der Angeklagten wurde im Verlauf der Ermittlungen eine Schizophrenie diagnostiziert. In der Regel ist den Lesern der fiktiven Geschichten – und auch den Journalisten, die sie für Sommerloch-Füllstoff ausschlachten – bewusst, dass es sich um ein literarisches Gespinst handelt.
Der Aufwand, den Autoren rund um Creepypasta betreiben, wird vor allem durch einige der Ausnahmen von der Ich-Perspektive klar, etwa bei den Geschichten verschiedener Horror-Universen wie dem “SCP Containment Breach”. In dieser fiktiven Welt werden durch eine Regierungsorganisation in verschiedenen Gebäuden rund um den Globus außerirdische, übernatürliche und unerklärliche Phänomene und Kreaturen gefangen genommen, um sie zu studieren und die Menschheit vor ihnen zu bewahren. Die Geschichten in, oft militärischer, Protokollform setzen da an, wo einer Kreatur ein Ausbruch gelingt, oder Wissenschaftler gefährdet sind. Die Besonderheit liegt darin, dass Nutzer, die selbst über SCP Zwischenfälle schreiben wollen, mit den meisten oder jeder einzelnen der vielen hundert SCP Berichte vertraut sein müssen, um die Geschichten logisch zu ergänzen und sich auf andere Vorfälle zu beziehen, während Creepypasta individuelle Fälle in in sich geschlossenen Geschichten beschreibt. Aber am Ende ist auch hier die schriftliche Form gewahrt und die Story sucht sich zunächst selbst ihren Leser, der zufällig über das frei zugängliche Material in Blogs, Tagebüchern und auf professionellen Websites, welche Creepypasta und Universen sammeln, moderieren und gruppieren, stolpert. Eine der größten dieser Communities für die gruseligen Kurzgeschichten ist das Creepypasta Wiki, die SCP-Community sammelt ihre eigenen Stories auf dem SCP Wiki.
Wenn Geräusche alle Sinne aktivieren
ASMR und Creepypasta Communities überschneiden sich seit einigen Jahren in einem Punkt, dem der YouTube Präsentation. Das Verlesen von Geschichten, Büchern, selbstverfassten Gedichten und neue Einsprechen von Hörbüchern findet in der Video-Community seit Start des Portals statt. Professionelle und Hobbysprecher finden hier ein dankbares Publikum, um ihre liebsten gemeinfreien und freigegebenen Werke szenisch einzulesen. Häufig betreiben sie dabei einen so hohen technischen Aufwand, dass neue professionelle Hörbücher mit musikalischer Untermalung und Ambiente entstehen. Hörbücher und ASMR haben eine Sache gemeinsam. In den meisten Fällen funktionieren sie theoretisch auch ohne Bild. Ein Umstand, der den Vorlesenden zugute kommt, die sich komplett auf ihre Stimme konzentrieren möchten und dem Hörer auch das Verfolgen langer Stücke ermöglicht. Wenn ASMR Sprecher, die es gewohnt sind, in das Mikrofon zu schmatzen, zu rascheln oder über die Oberfläche des Windfängers zu streichen, Geschichten einlesen, wird es bisweilen ein wenig chaotisch. Auf welchen Teil der Sprecher sich konzentriert, die gesenkte Stimme, die Geräusche, oder den Inhalt der Textes, das bleibt am Ende ihm überlassen. Und doch ist so eine ganz neue Gattung entstanden, die eine Art moderner Lagerfeuerstimmung erzeugt.
Wie muss man sich nun also eine leise und intensiv eingelesene Creepypasta Kurzgeschichte vorstellen und warum funktioniert sie für den Hörer? Zum einen handelt es sich bei Creepypasta häufig um klassische Horrorthemen. Ein vermeintlicher Nutzer, der die Geschichte online erzählt, tippt sie unter der Bettdecke in sein Handy, da an der Wand neben seinem Bett ein Monster lauert. Er erzählt, wie er in die Situation geraten ist und warnt die anderen, seinem Beispiel zu folgen. Ein Mann schreibt einen Brief an seine Schwester, in dem er erzählt, dass er zu Unrecht im Gefängnis sitzt und die Geschehnisse beschreibt, die zu seiner Verhaftung geführt haben. Eine gute Creepypasta Geschichte schafft es, dem Leser die Geschichte so plausibel vor Augen zu führen, dass er sie ohne das Wissen, dass es sich um Creepypasta handelt, für wahr halten könnte, trotz übernatürlicher Phänomene, Monster und Mordfälle, von denen er gehört haben müsste. Horror spricht für sich genommen eine Reihe von Nervenzentren an. Beim Lesen werden dabei jedoch andere Bereiche aktiviert, als durch das Sehen eines Horrorfilmes.
ASMR regt den Körper an, gehörte Informationen in Gefühle umzusetzen. Das Kämmen des Haares im Video muss mit geschlossenen Augen und gutem Surround-Sound für den Körper von den eigenen Haaren kommen. Das Geräusch liegt exakt an der Stelle räumlich an, wo das Kämmen stattfinden würde. Das Kämmen klingt realistisch und jeder von uns weiß, wie es klingt, wenn man sich die Haare kämmt. Das Greifen des Sprechers trifft ebenfalls auf die korrekten Punkte am Kopf. Der Körper versteht das Signal und wandelt es in die Empfindung um. Sehen wir einen Horrorfilm, geschieht eine Menge im Körper. Wir nehmen die Aufregung wahr und fiebern mit Opfern oder Tätern mit. Unsere Muskeln spannen sich in Erwartung einer Überraschung an, der Herzschlag erhöht sich, sogar die Atemfrequenz steigt an. Der Körper wechselt in einen Zustand permanenten Stresses und starker Anspannung. Bei schnell geschnittenen Horrorfilmen kann dieser Zustand den ganzen Film über anhalten. Das Stresshormon Cortisol wird ausgestoßen, der Körper ist sich nicht sicher, ob wir uns in Gefahr befinden oder auf Jagd auf unsere Opfer gehen, oder die Charaktere im Film. In spannenden Momenten kann das Adrenalin im Körper einen Höchststand erreichen, wie er sonst nur in lebensbedrohlichen Situationen vorkommt, in denen das Adrenalin uns hilft, instinktiv schneller, stärker und konzentrierter zu handeln. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht. Da wir psychisch dazu in der Lage sind, zumindest als neurotypische Personen, die Fiktion von der Realität zu unterscheiden, beruhigt sich unser Körper nach Ende des Filmes relativ schnell. Traumata werden durch Filme selten ausgelöst, wenn sie nicht durch PTBS Symptomatik vorangelegt sind und lediglich reaktiviert werden. In den Audioaufzeichnungen und Videos der ASMR Künstler die sich Creepypasta widmen, treffen diese beiden Effekte aufeinander und schaffen eine neue physische und psychische Wahrnehmung der Geschichten.
Wir lieben es, Angst zu haben
Warum sollte man sich diesem selbstgewählten Stress überhaupt aussetzen? Diese Frage dürften sich bereits eine Handvoll Urmenschen gestellt haben, wenn ihre Artgenossen um das Feuer herum saßen und sich spannende Geschichten erzählten. Sicher scheint, dass diese Art der Fiktion nicht auf jeden Menschen eine angenehme Wirkung hat, aber die Mehrheit der Menschen es liebt, sich zu fürchten, wenn sie dabei nicht tatsächlich in Gefahr ist. Unser Körper selbst mag den Zustand der Angst. Er reagiert so stark auf die vermeintlich gefährliche Situation, dass Hormone wie Dopamin und Adrenalin in großen Mengen ausgeschüttet werden und dem Körper auch zur Verfügung stehen. Wer Angst hat, ist wach. Wer Angst hat, lässt sein ganzes System auf Hochtouren laufen. Im Grunde produziert die “richtige” Angst das gleiche Gefühl und damit die Suchtgefahr einer Extremsportart. Wer einmal Angst empfunden hat und dabei nicht zu Schaden kam, möchte dieses Gefühl wieder erleben und in den Genuss der geschärften Sinne, angespannten Muskeln und des ansteigenden Hormonspiegels kommen.
Das schafft freilich nicht jeder Horror- oder Actionfilm. Die meisten Filme sind uns spätestens dann langweilig, wenn wir das klar erkennbare Muster durchschaut haben und abschätzen können, wie die nächste Szene verläuft. Ein Beispiel für Horror, vor dem sich nur die wenigsten Menschen tatsächlich fürchten, ist das Genre des “Teenie-Horror”. Filmklassiker wie die “Freitag Der 13te”-Reihe, aber auch neuere Produktionen wie “Jennifer’s Body”, der deutlich positiv aus der Masse heraussticht, zählen in dieses Genre. Die Geschichte ist immer gleich. Eine Gruppe von Jugendlichen unternimmt einen Ausflug, ein Monster oder Killer verfolgt sie und metzelt sie einen nach dem anderen ab. Am Ende überlebt maximal eines der Opfer, das sich als verbündet mit dem Killer herausstellt, oder selbst zu einem neuen Killer wird. Es gibt keine Überraschungen in Teenie-Horror Produktionen, lediglich “Jumpscares”, also gruselige, schnell geschnittene Szenen, die nur einen Augenblick lang aufregend sind. Der Horror-Roman dagegen lebt von der langsam aufgebauten Spannung und den detaillierten Beschreibungen. Mein persönlicher Lieblings-Horrorautor Richard Laymon (1947-2001) verstand es wie kein Zweiter, eine so simple Situation wie das Einschenken eines Getränkes in einer dunklen Küche mit so viel Leben zu erfüllen, dass der Mord davor und danach weniger gruselig wirkten. Seine Figuren harren in Bädern aus, flüchten viele Städte weit per Auto, beseitigen ihre Spuren ordentlich und finden sich doch immer wieder in der Situation, aus Versehen selbst zum Mörder zu werden, vor dem sie fliehen. Der Leser kann den nächsten Schritt nicht erraten. Das macht guten geschriebenen Horror aus. Aber funktioniert das auch als Kurzgeschichte auf einem Online-Board?
Creepypasta trifft auf Audiokünstler
Creepypasta lebt von der Situation des vermeintlichen Opfers, welches von der Begebenheit berichtet und ist damit aufgebaut wie die ursprüngliche Geschichte, die sich unsere Vorfahren bei Kerzenschein erzählten. Doch sie spielt dabei mit dem Echtzeitmedium Internet. Ein Forumsbeitrag kann die tatsächliche aktuell stattfindende Situation abbilden. Ein glänzendes Beispiel für eine Creepypasta in der diese Strategie voll aufgeht ist die Geschichte von “over-and-over-and-”, welche auf dem “/nosleep” Board des Reddit-Forums gepostet und weitergeführt wurde (5). Der Nutzer erzählt von einer Situation, in der er seit vielen Jahren gefangen ist, einem Loop aus dem er nicht ausbrechen kann, und befragt die anderen, was er dagegen tun könnte. Die Geschichte nimmt ein tragisches Ende und lebt von den Interaktionen des Nutzers. Geschichten wie diese vertont dann unter vielen anderen der Nutzer Echo Tempus ASMR (6) auf YouTube. Echo Tempus hat sich auf seinem Kanal auf szenisch eingelesenen Horror spezialisiert und greift fast ausschließlich Creepypasta auf. Über 100 der Geschichten hat er seit Dezember 2016 eingelesen und sich dabei stets sowohl als Sprecher als auch technisch verbessert. Die eingelesenen Geschichten entwickeln durch die Art in der Echo Tempus sie vorträgt einen neuen Charakter. Seine Stimme ist gesenkt, eindrücklich und betont ruhig. Auf die klassischen ASMR “Trigger” wie Rascheln, Schmatzen, Klappern und andere beruhigend wirkende Geräusche verzichtet er. Zwar entfaltet auch die ruhige, dunkle Stimme eine gewissen beruhigende Wirkung, doch nach einer Weile übernimmt die Stimmung der Horrors das Ruder. Der Körper fühlt sich in die Situation des Erzählers hinein. Je mehr die Geschichte an Fahrt aufnimmt, desto mehr begibt sich der Körper, so zumindest mein Empfinden als regelmäßiger Hörer, in die Stresssituation, die er auch während des Films empfindet. Das Geschichte wirkt anders und stärker als in schriftlicher Form.
Warum bezeichne ich diese Art des Vorlesens nun als Rückbesinnung auf die ursprüngliche Art des Geschichtenerzählens? Der ASMR Vorleser baut durch die Art wie er seine Stimme zum Erzeugen der Atmosphäre einsetzt eine andere Beziehung zu dem Hörer auf, als es bei einem Hörbuchsprecher geschieht. Das Hörbuch wird durch verstellte Stimmen, spannende Betonung und szenische Soundeffekte getragen. Der ASMR Sprecher dagegen verzichtet größtenteils auf diese Elemente. Er senkt die Stimme zudringlich und spricht den Zuhörer so deutlich an, dass dieser sich in die Geschichte hineinziehen lässt. Zum großen Finale der Geschichte, das oft nach über einer Stunde Lesezeit erfolgt, hat der Zuhörer eine Ahnung, was geschehen sein könnte, aber ist im Verlauf einer guten Creepypasta dennoch schockiert, aufgerüttelt und alles andere als entspannt. Gleichzeitig hat er sich jedoch durch das Zuhören selbst so weit entspannt, dass die starken Adrenalinausschüttungen und körperlichen Reaktionen ausbleiben. Die Geschichte geht praktisch direkt in das emotionale Empfinden über. Hört er, wie ich es mir zur Angewohnheit gemacht habe, die Geschichte beim Einschlafen, lässt ihn das plötzliche Abbrechen der Beziehungsebene mit dem vertraulich sprechenden Sprecher leicht desorientiert zurück. Die Geschichte endet plötzlich. Dem Erzähler ist entweder etwas zugestoßen, oder er hat dem offenen Ende der Kurzgeschichte nach das Ende nicht näher beschrieben. Auch aus diesem Grund, dem Herausgerissen werden, schließen einige ASMR Sprecher ihre Videos mit einer kurzen Abmoderation oder wünschen dem Zuhörer eine angenehme Nacht. Der Vergleich zu der klassischen, durch Eltern und Familienmitglieder vorgetragenen, Gute-Nacht-Geschichte liegt hier nahe.
Der Ursprung der Legendenbildung
Die Situation des ASMR-Creepypasta-Hörers gleicht im Großen und Ganzen der einer Lagerfeuererzählung. Alle, in diesem Fall der Sprecher und der Zuhörer, versammeln sich, freiwillig durch bewusstes Aufsuchen der Geschichte, um ein Feuer. Eine Story, die vorgibt, tatsächlich so geschehen zu sein, wird erzählt. Der Sprecher gibt vor, sie, ein Freund oder ein Verwandter habe sie erlebt, oder sie sei “vor langer Zeit” an diesem Ort geschehen. Am Ende der Geschichte gehen alle schlafen, jeder mit seinen Gedanken allein gelassen. Eine Auflösung, eine moralische Botschaft oder eine Erklärung bleiben aus. Ob durch diese Art der Bearbeitung der Creepypasta diese auch schneller zu einer Urbanen Legende wird, wie es in der Vergangenheit immer wieder mit online verbreiteten fiktivem Material geschehen ist, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass die Geschichte durch den Wechsel des Mediums ihre ursprüngliche Form wechselt. Sie wird zu einer erzählten Geschichte, zu einer möglichen Legende. Die Art der Übertragung ändert sich für den Hörer auch dann, wenn er sie weitererzählen möchte. Er wird sich an die Stimme des Erzählers und Momente der besonderen Betonung erinnern, anders als wenn er die Creepypasta in einem Forum gelesen hätte.
Beide Arten der Aufnahme der Geschichte durch den Leser stellen die Creepypasta jedoch als eigene Gattung heraus. Denn gerade der Effekt des Echtzeit-Erzählens mit der Möglichkeit über Reddit, 4chan oder ein anderes Board selbst in die Geschichte hinein zu kommentieren, oder zumindest das Gefühl vermittelt zu bekommen, man könne an der Geschichte live teilhaben, rückt sie bereits stärker in Richtung der mündlichen Überlieferung.
Fazit: Zurück zum Lagerfeuer?
Das Internet schafft durch seine weltweite Echtzeitverbindung verschiedener Nutzergruppen an dieser Stelle einen Spagat, der es trotz der individuellen Anonymität zu einem nahen Kontakt befähigt, der stärker auf den Empfänger einwirkt als eine professionelle Produktion. Was das für das Horror-Genre und die Art, wie wir in Zukunft Fiktion konsumieren, bedeutet, bleibt an dieser Stelle offen. Auf lange Sicht werden wir sehen, ob diese Art der Literatur, die dem Leser durch ihre offene Form, die Verbreitung über allerlei Medien und den (zurecht) fehlenden Hinweis, dass es sich um reine Fiktion handelt, einiges abverlangt, wirklich alle Alters- und Nutzergruppen erreicht. Die ASMR YouTube-Szene, die sich immer stärker auch dem klassischen Erzählen von Märchen, Gute-Nacht-Geschichten und eben jenen Horror-Stories zuwendet, erreicht je nach Account aktuell zwischen wenigen tausend und mehreren Millionen Nutzern.
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