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“Dem Volk aufs Maul schauen…”
von Epikouros
Der Titel dieser kleinen Abhandlung mag bei dem einen oder anderen Leser Stirnrunzeln ausgelöst haben: Wird hier etwa dem Populismus das Wort geredet? Hat Scienceblogs denn noch kein Löschteam? Muß jetzt “Correctiv” eingreifen?
Gemach. Mir ist es hier keineswegs um einen Beitrag zur aktuellen Wahldebattenschlacht zu tun und die Frage was und wie böse der Populismus eigentlich sei wollen wir für diesmal – Wahljahr hin oder her – auf sich beruhen lassen. Dieser Blogbeitrag verfolgt eigentlich nur zwei Ziele: 1. zu erklären wo das im Titel zitierte geflügelte Wort eigentlich herkommt und 2. daran noch ein paar ganz nebensächliche aber nicht uninteressante Betrachtungen anzuschließen.
Diese Zielsetzung erscheint unspektakulär, und das ist sie auch. Aber wer Internetpräsenzen wie scienceblogs.de besucht der verfügt zum ersten über einige freie Zeit und zum zweiten über eine gute Portion gesunde Neugier. Letztere hoffe ich hiermit geweckt zu haben… 😉
Es ist hinlänglich bekannt, daß viele “geflügelte Worte”, auch und gerade jene, die sich prononciert volkstümlich geben, ihren Ursprung in der sogenannt hohen Literatur haben, oder doch zumindest auf diesem Wege eigentlich erst popularisiert worden sind. Der ungeschlagene Champion in dieser Disziplin ist (im deutschen Sprachraum) Schiller. Die Axt im Hause, welche den Zimmermann erspart; die hohle Gasse, durch die einer kommen muß; der Mann, dem geholfen werden kann; nicht minder auch die Weiber, welche da zu Hyänen werden; desweiteren seine Pappenheimer, die einer zu kennen meint – sie gehen alle auf das Konto des Autors des “Tell”, der “Räuber”, der “Glocke”, des “Wallenstein”. Des “Pudels Kern”, die “Gretchenfrage” sowie die Feststellung, der Name sei Schall und Rauch hingegen hat uns Goethe beschert, alle drei im “Faust”.
Die Liste ließe sich fortsetzen, wenn mir die fraglos noch zahlreich vorhandenen Beispiele nur gerade einfielen… Darum rasch zurück zur Ausgangsfrage: Wer riet uns denn nun als erster, “dem Volk aufs Maul zu schauen”?
Auch das war natürlich ein “Promi” der deutschen Literaturgeschichte und kein geringerer als der Reformator Martin Luther (womit wir beiläufig doch noch einen Bezug zum laufenden Jahre 2017 hergestellt hätten…)
Besagte Aufforderung erging im Jahre des Herrn 1530, in einer Postille betitelt “Ein sendbrieff D.M. Lutthers. Von Dolmetzschenn” und lautet dort wie folgt:
“[…] den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deutsch reden / wie diese esel thun / sondern / man mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / vnd den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden / vnd darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / vnd mercken / das man Deutsch mit jn redet.”
“Die Kinder auf der Gasse”? Der “gemeine Mann” gar? Sollte hier nicht am Ende doch so etwas wie Populismus avant la lettre im Spiel sein…?
Ach iwo. Der eigentliche Hintergrund ist ein ganz anderer, und hier wird es jetzt interessant. Luther hatte bekanntlich schon 1522, fünf Jahre nach den 95 Thesen, acht Jahre vor dem “Sendbrief”, seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments veröffentlicht, das sogenannte “Septembertestament”. Das war zwar nicht, wie immer noch oft kolportiert wird, die erste deutsche Bibelübersetzung, sollte aber für Jahrhunderte die einflußreichste ihrer Art werden.
Wirkung entfaltete das Septembertestament sowohl direkt, wie auch auf eine eher indirekte Weise. Die katholische – oder besser: die romtreue kirchliche Partei, denn eine protestantische Kirche gab es noch nicht und Luther war selbstverständlich Katholik, wenn auch aus Sicht des Römischen Stuhles ein ganz verflucht ketzerischer – fühlte sich nämlich durch Luthers Vorstoß in Zugzwang gesetzt und einer der romtreuen Landesfürsten, Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen-Meißen, hatte seinerseits bei Hieronymus Emser eine “unreformierte” deutsche Bibel in Auftrag gegeben.
Das Neue Testament von Emser erschien 1527, war indes keine wirklich eigenständige Übersetzungsleistung sondern eher eine Überarbeitung des Septembertestaments – in der Vorrede erklärte Emser gewunden, er habe den Text des NT “emendirt […] vnd widerumb zu recht gebracht”. Gleichzeitig warf Emser dem Verfasser seiner Vorlage vor, dieser habe nicht getreu der Vulgata (d.h. der als verbindlich geltenden lateinischen Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus) übersetzt und das auch sonst fehlerhaft.
In der Tat hatte Luther nicht die lateinische Vulgata als Vorlage genommen, sondern die griechisch-lateinische Ausgabe des Erasmus von 1516, welche damals textkritisch “state of the art” war. Das war aus moderner Sicht die richtige Entscheidung, mußte den Traditionalisten aber sauer aufstoßen. Was uns aber im Zusammenhang mit Volk und Mund interessiert ist der Vorwurf der Falschübersetzung, und hier genauer der “Fall” Römer 3,28: die Frage der Rechtfertigung des Christen durch den Glauben.
Diese Causa war in besonderem Maße delikat und zwar aus folgendem Grund: Luther hatte seit 1517 ein dogmatisches System ausgearbeitet, das auf drei Säulen ruhte. Sola scriptura (nur durch die [heilige] Schrift), sola gratia (nur durch die [göttliche] Gnade) sowie sola fide (nur durch den Glauben), so lehrte der doctor theologiae aus Wittenberg, konnte die göttliche Wahrheit erkannt bzw. der Christ “gerechtfertigt werden” (iustificari). Diese “Rechtfertigung” war für die Christen des Mittelalters und der frühen Neuzeit keine Kleinigkeit: hier ging es für die unsterbliche Seele um jenseitiges Heil oder Fegefeuer, wo nicht gar ewige Verdammnis – kurz gesagt: ums Ganze.
Luther lehrte nun, wie gesagt, daß die Rechtfertigung des Christen ganz alleine durch den Glauben an Christus bewirkt werde; gute Werke seien löblich, ja notwendig für den Erhalt der diesseitigen Welt – aber ohne jeden Einfluß auf das Seelenheil. Die “goldene Clubkarte”, welche den hochbegehrten Einlaß ins Paradies gewährte, die konnte man sich weder erkaufen noch erarbeiten. Heil war allein bei Gott und nur durch den Glauben allein zu erlangen.
In diesem Sinne hatte Luther denn auch Röm 3,28 übersetzt:
“So halten wyrs nu / das der mensch gerechtfertiget werde / On zuthun der werck des gesetzes / alleyn durch den glawben”
Und um das Maß voll zu machen hatte er dazu folgende eigene Randbemerkung gesetzt:
“Denn hie ligt darnyder aller werck verdienst und rhum […] vnd bleybt alleyn lautter [= nur] gottis gnad vnd ehre.”
Und das, nur um kurz darauf in einer Randglosse zu Röm 4,4 nochmals im gleichen Sinne nachzusetzen:
“Hie beweyset er mit zweyen exempel / das verdienst nichts sey / sondern alleyn gottis gnade.”
Das war freilich ein starkes Stück – und obendrein inhaltlich vollkommen daneben. Denn im Kontext des dritten Kapitels des Römerbriefes ging es lediglich um die Frage der Weitergeltung spezifisch jüdischer Gebote – wie der Beschneidung oder der Speisegesetze – für “Judenchristen” (also getaufte vormalige Juden), von denen etliche z.B. die Tischgemeinschaft mit “Heidenchristen” unter Hinweis auf jüdische Reinheitsgebote ablehnte. Gegen diese Auslegung bezieht Paulus hier Stellung, die jüdischen Religionsgesetze hatten für Christen keine Bedeutung, auch nicht für getaufte Juden. Weshalb in Röm 3 denn auch ausdrücklich von opera legis, bzw gut Griechisch érga nómou die Rede ist, von “Werken des [jüdischen Religions-]Gesetzes”.
Auch kommt wirklich in keiner erhaltenen Fassung, weder des griechischen noch des lateinischen Bibeltextes an diese Stelle das Wort “nur” oder “allein” (solus, mónos o.ä.) vor.
Beides hatte sich Luther von Emser und anderen sagen lassen müssen. Und man kann nicht behaupten, daß diese Kritik unberechtigt war.
Inzwischen aber schreiben wir das Jahr 1530; Emser war bereits 1527 gestorben, dennoch – oder vielleicht: deshalb – beschloß Luther, jetzt in der Angelegenheit Röm 3,28 nochmals nachzutreten. Er verfaßt zu diesem Zweck eine Art Responsum, vorgeblich in Beantwortung zweier an Luther gerichteter theologischer Fragen an einen Gesinnungsgenossen in Christo, Wenzeslaus Linck, gerichtet – doch von diesem umgehend der Öffentlichkeit gewissermaßen “über Bande” zugespielt (wie Luther es ihm in dem natürlich nicht veröffentlichten Begleitschreiben vorgeschlagen hatte). Passenderweise war der Gegenstand der ersten Frage just Luthers Übersetzung vom Röm 3,28, was diesem Gelegenheit zu einer Apologie in eigener Sache gab.
Wie ging Luther dabei zu Werke? Nun ja, ein wenig so wie Norman Lewis im fünften Kapitel von Tom Wolfes “Back to Blood”, nur einige Grade gröber; nicht ironisch scheinbar anbiedernd sondern immer feste druff. Seine rhetorische Strategie läßt sich auf zwei griffige Formeln bringen: 1. Angriff ist die beste Verteidigung und 2. rede über alles mögliche, nur möglichst wenig über die Sache selbst.
Und so geht er denn gleich zu Anfang in die Vollen: Er erklärt die “Papisten alle auff einen hauffen” für unfähig, die Bibel zu übersetze; erklärt dann weiter, er könne ja wohl seine eigene Übersetzung nach seinem eigenen Gusto gestalten und wem die nicht gefalle, der möge doch bitte seine eigene machen. Den Papisten aber stehe in der Sache ohnehin kein Urteil zu, da sie dazu “zu lange ohren” hätten und davon weniger verstünden “denn des Mülners [=Müllers] thier”, d.h. er erklärt seine Gegner kurzerhand zu Grautieren mit vier Buchstaben, um dem Leser gleich zu verstehen zu geben, daß sich damit eigentlich jede weitere Diskussion erübrigt.
Was aber nicht heißt, daß die Diskussion damit beendet ist. Luther beklagt wortreich, alle Welt wolle ihm dreinreden (“Wer am wege bawet / der hat viel meister”) ohne vom Übersetzen das mindeste zu verstehen, wie dies ja schon dem Kirchenvater Hieronymus widerfahren sei. Dann knöpft er sich den unlängst verstorbenen Emser vor und bezichtigt ihn nicht minder wortreich des Plagiats (ein Vorwurf an dem, wie wir gesehen haben, immerhin einiges dran war).
Dann kommt er doch kurz auf den eigentlichen Gegenstand, seine Wiedergabe von Röm 3,28, zu sprechen, geht aber auf den Streitpunkt gar nicht ein sondern erklärt vollmundig, er wolle es nunmal so haben und die Papisten seien halt alle Esel. Und er zitiert Juvenal. [1]
Darauf folgt dann noch ein reichlich hyperbolischer Katalog all der Bildungsgüter, über die er, Luther, “ein Doctor vber alle Doctor jm gantzen Bapstum” gebiete, ganz im Gegensatz zu “Doctor Schmidt / vnd doctor Rotzlöffel” und all den anderen papistischen – Sie ahnen es bereits: Eseln.
Was dem Kaiser Vespasian der Erlös aus der Toilettenbenutzungsgebühr, das war dem Doctor Luther offenbar das Eigenlob (in dem zumindest insofern ein Körnchen Wahrheit steckte, als Luther im Gegensatz zu den meisten Theologen seiner Zeit Griechisch und Hebräisch lesen und seine Übersetzung so mit dem Urtext abgleichen konnte) – sachliche Argumente scheint der Herr Doktor aber nicht wirklich zur Hand zu haben.
Doch halt! Diese ganze polemische Diatribe, welche alleine ein gutes Viertel des Gesamttextes ausmacht – sie enthielt, wie Luther zu Anfang kurz erwähnte und jetzt erneut betont, doch nur das, was seine getreuen Anhänger den “Papisten” entgegnen sollten (“wöllet solchen Eseln ja nicht anders noch mehr antworten auff yhr vnnütze geplerre vom wort Sola”): krude Beschimpfungen und Selbstlob nämlich. Seine romtreuen Gegner, das will der große Reformator in spe hier sagen, sind vernünftige Argumentation einfach nicht wert.
Nachdem er so der Herabwürdigung seiner Kontrahenten rhetorisch die Krone aufgesetzt hat – die Zeiten waren aufgeregt, der Einsatz um den gepokert wurde hoch und man schenkte sich nichts – kommt er aber doch noch auf den Punkt, auch wenn er vorgeblich nur zu seinen Anhängern spricht und will ihnen, und nur ihnen (“Euch aber vnd den vnsern wil ich anzeigen”) erklären warum er in Röm 3,28 das Wort “alleine” eingefügt hätte, obwohl es keine Entsprechung im Urtext habe.
Seine Argumentation läuft darauf hinaus, daß die Einfügung nötig sei, um den Sinn des griechischen bzw. lateinischen Textes angemessen wiederzugeben. Nun ist es in der Tat eine Binsenweisheit, daß eine wörtliche Übersetzung von einer Sprache in die andere den Sinn u.U. erheblich verfälschen kann. So bedeutet, um mal ein plakatives Beispiel aus der Gegenwartssprache herzunehmen, der englische Ausdruck “it’s a shame” heutzutage so gut wie nie “es ist eine Schande” sondern fast immer “das ist schade” (der ursprüngliche Sinn von shame hat sich in dieser Floskel abgeschliffen). Will man im Englischen unmißverständlich ausdrücken, daß etwas eine Schande sei, dann muß man schon “it’s a crying shame” sagen (oder “it’s a disgrace”), womit wir ein schönes Beispiel für einen Fall hätten, wie Luther ihn für sich bei Röm 3,28 reklamiert.
Sein eigenes Beispiel aber wirkt schon etwas weniger überzeugend:
“Das ist aber die art vnserer deutschen sprache / wenn sie ein rede begibt / von zweyen dingen / der man eins bekennet / vnd das ander verneinet / so braucht man des worts solum (allein) neben dem wort (nicht oder kein) Als wenn man sagt / Der Baür [=Bauer] bringt allein korn und kein geldt”
Also “der Bauer bringt Korn, kein Geld” sei kein gutes Deutsch, man müsse schon “der Bauer bringt nur Korn, kein Geld” sagen. Denn so sprächen nun mal die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse und der gemeine Mann auf dem Markt, denen man aufs Maul schauen müsse, wenn man gutes Deutsch schreiben wolle.
Ich kann nicht behaupten, in der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts hinlänglich bewandert zu sein um mir hierzu ein sicheres Urteil bilden zu können (und verweise hierzu und zu Luthers anderen Beispielen auf einen sehr lesenswerten Aufsatz von Hans-Wolfgang Schneiders[2], dem dieser Blogbeitrag auch sonst einiges verdankt).
Daß Luther seine Übersetzung damit angemessen verteidigt hätte wird man aber kaum behaupten können, umso mehr, als der eigentliche Skandal ja in den, wie wir sahen, sachlich in keiner Weise begründeten Randglossen seines “Septembertestaments” lag. Das dürfte auch Luther klar gewesen sein und so ergeht er sich in einer Fülle weiterer Beispiele, die man mit einigem guten Willen als Plädoyer für eine zieltextorientierte Übersetzungsmethodik lesen kann, welche aber im vorliegenden Kontext hauptsächlich der Ablenkung von dem eigentlichen Streitpunkt dienen. Denn da ist Luthers Argumentation wie wir sahen mehr als schwach.
So erweist sich sein “Sendbrief vom Dolmetschen” als ein geradezu sophistisches Meisterwerk manipulativer Rhetorik. Luther war eben – wie alle erfolgreichen Religionsstifter – einerseits fest, tief und ehrlich von seiner Sache überzeugt und zugleich bei der praktischen Durchsetzung derselben von wenig Skrupeln angekränkelt.
Das also ist des Pudels Kern, das steckt hinter Luthers Aufforderung, dem Volk aufs Maul zu schauen. Mir will im übrigen – dieser kleine Exkurs sei noch erlaubt – scheinen, daß sich in der Wahl des Beispiels “der Bauer bringt nur Korn und kein Brot” eine weitere versteckte Bosheit verbirgt. Denn diese Sentenz spricht genau ein wesentliches Hauptproblem an, mit dem die Feudalherren des Mittelalters und der frühen Neuzeit seit dem hohen MA zu kämpfen hatten: das liebe Geld.
Dieses hatte im frühen MA, als sich das Feudalsystem herauszubilden begann, wirtschaftlich noch eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Die Ökonomie war überwiegend lokal und auf Austausch von Sachgütern ausgerichtet, der ganze zivilisatorische Luxus des römischen Reiches weitgehend dahingeschwunden. Das Korn, das Gemüse, Milch, Fleisch und andere Lebensmittel, welche die abgabenpflichtigen Bauern den Feudalherrn liefern mußten, bildeten zusammen mit den Arbeitsverpflichtungen der Frohn eine hinreichende Grundlage für den Bestand vom weltlichen wie geistlichen Herrschaften.
Das änderte sich, als Europa seit der Zeit der Kreuzzüge sukzessive wieder mit jenen zivilisatorischen Errungenschaften des Römischen Reiches vertraut wurde, welche im Orient überlebt hatten. Exotische Gewürze, feine Gewandstoffe, kostbare Möbel und Geschirre und was dergleichen Luxusgüter sonst noch waren – das konnten die einfachen Bauern nicht liefern. Und als sich in Europa lansam eine Produktion von vielen dieser begehrten Güter herauszubilden begann, da entstand sie in den Städten, nicht auf dem Land, wo die fron- und abgabenpflichtigen Bauern lebten, auf deren Ausbeutung sich das Feudalsystem im wesentlichen stützte.
Und so entstand das klassische Dilemma des Feudalismus: die Kosten für den Repräsentationsaufwand auf den Burgen und später an den Höfen stiegen munter immer weiter an – man wollte und mußte ja zeigen wer man war; auch die Kriege wurden mit der Entwicklung der Waffentechnik tendentiell teurer. Fernhändler, städtische Handwerker und Söldner wollten Bares sehen – doch der Bauer brachte noch immer (bloß) Korn und kein Geld!
Die Ablaßkrämerei der Kirche die dagegen gerichtete Polemik von Luther sind natürlich in diesem Kontext zu sehen. Denn was brachte der Käufer von Ablaßbriefen? Richtig: Geld. Bares Geld. Klingende Münze. Und was war Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ganz ohne “Werkgerechtigkeit” denn anderes als – massive Schädigung des Geschäftes.
So war etwa der Ablaßprediger Tetzel, dessen Umtriebe einer der Anlässe für die 95 Thesen gewesen waren, nicht zuletzt für den Kardinal Albrecht von Mainz tätig. Dem hatte die Kurie nämlich großmütig gestattet, die Hälfte der Einnahmen aus dem Petersablaß einzubehalten, damit er den Fuggern jenen Kredit zurückzahlen konnte, mit welchem er den Kauf eben jener Mainzer Bischofswürde finanziert hatte… (was Luther damals aber wohl nicht wußte).
Und wenn die Durchsetzung eines “Kreuzzugsablasses” zur Finanzierung eines Abwehrkrieges gegen die von Südosten gegen Europa herandrängenden Türken 1518 gescheitert war, dann hatte das der Pabst nicht nur, aber eben auch, Luther zu verdanken. (Wesentlicher dürfte freilich das finanzielle Eigeninteresse der deutschen Fürsten gewesen sein, die von den Türken einstweilen nicht unmittelbar bedroht waren).
Und so reibt, so will mir scheinen, Luther mit dem Satz “Der Bauer bringt Korn und kein Geld” auch noch genüßlich Salz in die Wunden, die er dem Pabsttum geschlagen hatte.
Das also waren die eingangs versprochenen, ganz nebensächlichen Bemerkungen zu Volkes Mund und Luthers Sendschreiben. Ich hoffe sie waren nicht langweilig.
[1] “So will ich’s, so befehle ich, statt einer Begründung (gelte mein) Wille”.
[2] Hans-Wolfgang Schneiders, “Luthers Sendbrief vom Dolmetschen. Ein Beitrag zur Entmythologisierung”, trans-kom 5[2] (2012), S. 254 ff. https://www.trans-kom.eu/ihv_05_02_2012.html
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