Stellt euch vor, ihr steht in einem brennenden Haus. Ihr seid allein, niemand kommt euch zu Hilfe, und ihr habt nur noch Zeit für eine einzige Aktion. Ihr könnt das kleine Kind retten, das mit euch im brennenden Haus ist. Oder aber das extrem wertvolle Gemälde von Picasso, das an der Wand hängt. Was tun? Wenn ihr das Kind rettet, dann habt ihr ein Kind gerettet! Wenn ihr das Kind verbrennen lasst und stattdessen das Gemälde in Sicherheit bringt, könntet ihr es aber für viel Geld verkaufen. Und mit diesem Geld dann zum Beispiel jede Menge Moskitonetze für Afrika organisieren und so tausenden Kinder das Leben retten. Wäre es nicht rationaler, das Gemälde zu retten und dafür zu sorgen, dass tausende Kinder weiterleben können und nicht nur eines?
Behaltet dieses Gedankenexperiment (das ich aus diesem BBC-Artikel (WebCite) entnommen habe) bitte im Hinterkopf. Ich werde später darauf zurück kommen. Zuerst möchte ich aber ein paar Gedanken zu einem anderen Thema aufschreiben: Der Irrationalität!
Menschen sind irrational. Das gehört dazu und das geht auch nicht weg. Und es ist gut so, dass es so ist! Die Irrationalität soll nicht weggehen! Wir Menschen brauchen die Fantasiewelten in unseren Köpfen. Wir brauchen unsere unlogischen Entscheidungen. Wir müssen wirr sein und ungeplant; wir brauchen unsere spontane Kreativität wenn wir unser volles Potential als Menschen entfalten wollen!
Wir sind keine rationalen Maschinen. Das waren wir nie und das werden wir nie sein können. Und noch einmal: Das ist gut so! Wir brauchen die Unvernunft. Das heißt aber nicht, dass wir die Vernunft nicht ebenso dringend brauchen!
So viel von dem was wir tun und bei dem wir Menschen großartig sind, entspringt der Irrationalität. Unser Forscherdrang, unsere Kreativität, unsere spontanen Eingebungen, unsere Entdeckungen… Der Wunsch beispielsweise, zum Mond zu fliegen, entspringt Jahrhunderten von Träumen, Visionen und Fantasien. Es war irrational, so enorm viel Geld auszugeben, nur um ein paar Menschen ein paar Tage lang auf einem leblosen Himmelskörper herumspazieren zu lassen. Geld, dass damals auf der Erde auch anders eingesetzt werden hätte können. Aber wir sind eben irrationale Wesen und die Möglichkeit unsere Fantasie real werden zu lassen, treibt uns an. Natürlich können wir (durchaus zu Recht), Vorhaben wie den Flug zum Mond im nach hinein rationalisieren (müssen das aber eigentlich nicht tun). Wir können erklären, wie viel neue Technik dadurch geschaffen wurde; wie viel Geld und wie viel Arbeitsplätze dadurch entstanden; wie stark der wissenschaftliche Fortschritt dadurch gewachsen ist.
Das stimmt ja alles auch. Aber niemand käme auf die Idee, nur deswegen zum Mond zu fliegen, weil wir neue Technik und mehr Arbeitsplätze haben wollen. Wir sind zum Mond geflogen, weil wir Träumer sind. Weil wir irrational sind. Weil wir Menschen sind. Und weil wir das alles sind, sind wir auch in der Lage solch großartige Dinge zu tun!
Aber weil wir Träumer und irrationale Menschen sind, sind wir ebenso auch in der Lage, grauenhafte Dinge zu tun. Die Irrationalität hat uns dazu gebracht, uns millionenfach gegenseitig umzubringen, uns zu versklaven und uns immer wieder schreckliche Dinge anzutun. Sie bringt uns dazu, die Umwelt zu zerstören oder Menschen mit anderer Hautfarbe, anderem Geschlecht oder anderer Religion zu verachten.
Und genau deswegen brauchen wir eben auch die Vernunft; unsere Fähigkeit objektive Erkenntnisse über die Welt zu erlangen: Um die Fehler auszugleichen die wir unserer Unvernunft verdanken. All die Probleme die wir uns in der Vergangenheit selbst geschaffen haben – Umweltverschmutzung, Klimawandel, Überbevölkerung, Armut, Krieg, etc – können wir in der Zukunft nur durch den gezielten Einsatz vernünftiger Strategien lösen. Und es ist daher umso wichtiger, die kommenden Generationen nicht der Irrationalität von Esoterik und Pseudowissenschaft zu überlassen!
Wir brauchen die Vernunft, um uns beständig selbst zu kontrollieren. Und mit “uns” meine ich jeden einzelnen von uns!
Wir sind alle irrational! Glaubt nicht, ihr wärt es nicht! Wir alle haben unsere irrationalen Seiten, dazu muss man nicht unbedingt an Homöopathie, Chemtrails oder Gott glauben. Das Irrationale steckt tief in uns drin und man kann es nicht heraus holen. Aber man kann sich dessen bewusst sein. Außerdem sind wir nicht komplett irrational. Wir haben uns eine kollektive Rationalität erschaffen, die wir den Auswirkungen unserer gemeinschaftlichen Irrationalität entgegenstellen können. Diese kollektive Rationalität ist die Wissenschaft.
Als einzelne Menschen sind wir immer irrational. Als Gemeinschaft können wir noch viel irrationaler sein. Aber wir haben es geschafft, die wissenschaftliche Methode zu entwickeln. Der Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis beginnt oft (aber nicht immer) mit unserer typisch menschlichen wirren, irren und obskuren Kreativität: August Kekulé sieht im Schlaf eine Schlange die sich in den eigenen Schwanz beißt, und entschlüsselt die Struktur von Kohlenstoffverbindungen. Der Lehrer Konstanin Ziolokowski träumt in der russischen Provinz von den Science-Fiction-Welten des Jules Verne und entwickelt die mathematischen Gleichungen die Reisen ins Sonnensystem aus dem Reich der Fantasie in die Realität holen. Srinivasa Ramanujans mathematische Erkenntnisse hat ihm die Hindu-Göttin Namagiri in Visionen nahe gebracht. Und so weiter… Wir Menschen sind in der Lage, so gut wie alles als Inspiration für unsere Fantasie zu verwenden. Aber um diese Fantasie real werden zu lassen, brauchen wir die strenge Kontrolle der Wissenschaft. Sie lenkt unsere Irrationalität in die richtige Bahn; sie hämmert so lange mit der ganzen Wucht der Realität auf unsere Fantasie bis am Ende nur das Rationale übrig bleibt. Sie lässt Träume Wirklichkeit werden und zeigt uns, wo das, was wir als Wirklichkeit ansehen, nur Wunschdenken ist.
Die wissenschaftliche Methode ist unsere größte Errungenschaft. Sie erlaubt es uns, die irrationalen Menschen sein zu können, die wir sein müssen um weiterhin Menschen zu bleiben. Womit wir wieder beim Problem vom Anfang wären. Was sollen wir retten? Das Kind oder das Gemälde?
Rational wäre es, das Bild aus dem Haus zu holen und dann dafür zu sorgen, dass daraus möglichst viel Gutes entsteht. Rational wäre es, ein einzelnes Kind zu opfern um tausende Kinder zu retten. Es wäre rational – aber es wäre nicht mehr menschlich!
Ich persönlich kann den Gedankengang durchaus nachvollziehen und auf einer abstrakten Ebene verstehen, dass es einen Unterschied zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl von Vielen gibt. Ich persönlich muss aber auch keine Sekunde lang nachdenken, welche Entscheidung ich in so einem Fall treffen würde. Ich würde mich immer und sofort dafür entscheiden, das Kind zu retten, egal wie rational die Alternative begründet ist.
Wir Menschen sind irrational. Und wären wir es nicht, dann wären wir keine Menschen mehr. Eine Welt, in der alle nur noch rational entscheiden, wäre eine unmenschliche Welt. Es wäre eine Welt, in der das Dilemma vom Anfang dieses Texts kein Dilemma wäre. Niemand würde darüber nachdenken, ob man ein Kind für das Wohl der Gemeinschaft sterben lassen sollte. Die Frage würde sich gar nicht erst stellen. Wenn der Tod des Kindes die rationale Option ist, dann stirbt das Kind. So eine Welt fände ich schrecklich. Es wäre keine Welt in der ich leben wollen würde. Es wäre eben eine unmenschliche Welt, wobei das “unmenschlich” hier ganz wertfrei gemeint ist. Menschen sind irrational. Wer auch immer eine Welt bewohnt in der es keine Irrationalität mehr gibt, muss etwas anderes sein, aber kein Mensch.
Die Irrationalität macht uns zu Menschen. Und die Wissenschaft erlaubt es uns, großartige Menschen zu sein!
Kommentare (176)