Wir alle haben ein Problem! Noch schlimmer: Die meisten von euch werden gar nicht wissen, dass ihr ein Problem habt. Aber ihr habt es: Ihr wisst alle nicht, wie Lentikular-Galaxien entstehen! Ihr nicht und die Astronomen ebenfalls nicht. Und wehe es kommt jetzt jemand und behauptet, das wäre kein Problem. Es mag euch bis jetzt vielleicht noch nicht beschäftigt haben. Und die Frage der Entstehung von Lentikular-Galaxien mag zugegebenermaßen tatsächlich nicht im Zentrum des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses stehen. Aber auch die offenen Fragen abseits des spektakulären Maintstreams verdienen Aufmerksamkeit!
Was bitte sind Lentikular-Galaxien?
Eine Galaxie ist eine große Ansammlung von Sternen. So wie unsere Milchstraße zum Beispiel, die neben unserer Sonne aus noch ein paar hundert Milliarden weiterer Sterne besteht. Oder die Andromedagalaxie, die mit einer Entfernung von 2,5 Millionen Lichtjahre unsere nächste große Nachbargalaxie im Kosmos ist. Galaxien sind die Orte, wo die interessanten Dinge im Universum passieren. Dort findet man die Sterne, die Planeten und so gut wie alles andere. Zwischen den Galaxien ist nur sehr viel sehr großes Nichts.
Man unterscheidet die Galaxien nach ihrer Form. Es gibt elliptische Galaxien, mehr oder weniger kugelförmige, gigantische Haufen aus Milliarden von Sternen. Es gibt Spiralgalaxien, in denen sich die Sterne scheibenförmig um eine zentrale Verdickung aus Sternen anordnen und sich in Spiralarmen organisieren. Unsere Milchstraße ist genau so eine Spiralgalaxie. Es gibt irreguläre Galaxien die, wie der Name andeutet, halt irgendwie aussehen. Und es gibt die Lentikular-Galaxien, die auch lentikuläre Galaxien oder Linsengalaxien genannt werden.
In ihnen haben sich die Sterne in einer Scheibe angeordnet. In der Scheibe gibt es aber keine Spiralarme. Von ihrer Form her stehen sie damit zwischen den elliptischen und den Spiralgalaxien. Warum sie so aussehen wie sie aussehen ist nun aber genau das Problem um das es geht.
Warum sollte mich das interessieren?
Erstens sollte man sich immer für Galaxien interessieren. Wir wohnen in einer Galaxie. So gut wie alles, was im Universum passiert, passiert in einer Galaxie (weil sich außerhalb von Galaxien viel zu wenig Zeug befindet, dem etwas passieren könnte). Galaxien sind der Grund, warum es überhaupt so etwas wie Sterne, Planeten oder Bewohner von Planeten gibt. Hätte sich die Materie nach dem Urknall einfach gleichmäßig im Universum verteilt, dann gäb es heute nichts außer jeder Menge Wasserstoff- und Heliumatome. Die Materie hat sich aber verdichtet; hat sich zu großen Klumpen angesammelt in und aus denen Galaxien entstanden sind. Die gravitative Wechselwirkung zwischen den Galaxien führt dazu, dass dort aus Wasserstoff- und Heliumwolken immer wieder neue Sterne entstehen. Wenn ein Stern sein Leben beendet, dann schleudert er die in seinem Inneren durch Kernfusion entstandenen chemischen Elemente durch die Gegend. Täte er das nur für sich alleine irgendwo isoliert im Kosmos, wäre damit niemand geholen. In einer Galaxie aber sammeln sich die neuen Elemente in den Wasserstoffwolken an und wenn dann daraus neue Sterne entstehen ist genug Material vorhanden, aus dem man Planeten (oder Bewohner von Planeten) machen kann, was mit Wasserstoff alleine nicht wirklich gut geht.
Wenn Galaxien einander nahe kommen, beeinflussen sie sich gegenseitig mit ihrer Gravitationskraft. Das kann dazu führen, dass kurzfristig in ihnen deutlich mehr Sterne entstehen als zuvor. Das kann aber auch dazu führen, dass das ganze Gas aus dem Sterne entstehen aus den Galaxien entfernt wird. Kurz gesagt: Wenn wir im großen Maßstab verstehen wollen, wie das Universum so geworden ist, wie es wurde und warum dort die Dinge passieren, die passieren, dann müssen wir uns früher oder später damit beschäftigen, was die Galaxien treiben, wie sie einander beeinlussen, wie sie entstehen und wie sich unterschiedliche Galaxien voneinander unterscheiden. Wir müssen wissen, welche Bedingungen dort herrschen und welchen Einfluss diese Bedingungen auf die Entstehung und Entwicklung von Sternen und Planeten haben. Oder anders gesagt: Die Beschäftigung mit Galaxien dient der Beantwortung der fundamentalen Frage, warum alles so ist wie es ist und nicht anders 😉
Und deswegen ist es nervig, wenn da eine prominente Gruppe von Galaxien existiert bei der wir nicht wissen, wie sie entstanden ist!
Aber ein bisschen was weiß man doch?
Wir wissen dass Galaxien nicht gleichmäßig über das Universum verteilt sind. Viele von ihnen haben sich durch die wechselseitige Anziehungskraft zu Galaxienhaufen versammelt. Je näher man ins Zentrum der Haufen kommt, desto mehr Galaxien findet man dort. Interessanterweise findet man umso weniger Spiralgalaxien und umso mehr Lentikular-Galaxien, je weiter man der Zentralregion eines Galaxienhaufens kommt. Und: Je näher die Galaxien uns sind, desto mehr Lentikular-Galaxien findet man. Oder anders formuliert: Galaxien deren Licht so lange bis zu uns braucht, das wir sie so sehen, wie sie vor langer Zeit in der Frühphase des Universums waren, sind deutlich seltener Lentikulare-Galaxien als die, mit denen wir uns die Gegenwart des Kosmos teilen.
Wir wissen außerdem, das die Entstehung von Lentikular-Galaxien etwas mit der Menge an Sternen zu tun haben muss, die in einer Galaxie entstehen. Die Spiralarme einer Spiralgalaxie sind keine “festen” Strukturen wie etwa die Speichen eines Rades. Die Spiralarme sind die Regionen einer Galaxie, in der sich jede Menge frische, junge und helle Sterne befinden. Diese Sterne werden irgendwann alt und dunkler, aber dafür entstehen wieder neue junge Sterne. Wie sich Spiralarme im Detail verhalten ist komplex (und auch noch nicht völlig verstanden). Aber sehr vereinfacht gesagt sind es die Regionen, in denen die Bedingungen Sternentstehung forcieren und jedesmal wenn sich interstellare Gaswolken in diese Gegend hineinbewegen, entstehen daraus neue Sterne.
In einer Lentikular-Galaxien aber nicht mehr. Beziehungsweise nicht mehr so oft. Hier ist die Sternentstehung mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Und es gibt keine Spiralarme mehr sondern nur noch eine große Scheibe voller Sterne und ohne Struktur.
Und was weiß man nicht?
Es ist schwer zu sagen, was daraus jetzt genau folgt. Eine Lentikular-Galaxie könnte einfach eine “ausgeblichene” Spiralgalaxie sein. Also eine Spiralgalaxie, die einfach immer älter wurde bis kaum noch neue Sterne entstehen und die Spiralarme nicht mehr sichtbar sind. Das würde auch erklären, warum man die Dinger in der Frühzeit des Universums weniger oft sieht als in der Gegenwart. Damals waren alle Galaxien noch jung und frisch mit schönen Spiralarmen und erst nach langer Zeit haben sie sich zu den Lentikular-Galaxien entwickelt die wir jetzt sehen.
Lentikular-Galaxien müssen aber nicht unbedingt solche kosmischen Rentner mit Spiralarmausfall sein. Es könnten auch junge wilde Galaxien sein, die miteinander kollidieren und sich durch die dabei wirkende gravitative Wechselwirkung extrem verändern. Wenn sich zwei Galaxien nahe kommen, dann wirken starke Gezeitenkräfte. Die können Spiralarme aufdröseln oder das interstellare Gas zwischen den Stern quasi rausreißen und so für ein frühzeitiges Ende der Sternentstehung sorgen. Das Resultat so einer Wechselwirkung: Eine Lentikular-Galaxie. Dafür spricht die Beobachtung, dass man Lentikular-Galaxien eher in den Zentren von Galaxienhaufen findet als außerhalb. Wer sich mitten ins Gedränge stürzt kracht halt eher mit anderen zusammen!
Oder vielleicht entstehen Lentikular-Galaxien auch ganz anders. Das genau ist es, was wir nicht wissen. Und das, was wir wissen wollen. Es wäre schön, wenn man sehen könnte, was so einer Galaxie in der Vergangenheit alles zugstoßen ist. Aber wie soll man das machen?
Galaktische Anamnese
Wenn wir eine Lentikular-Galaxie beobachten, dann ist das, was sie dazu gemacht hat, schon passiert. Und die Zeit zurück drehen ist leider schwer. Was als tun? Man sucht sich etwas, dass man jetzt beobachten kann, aber einem Informationen liefern kann, was früher in der Galaxie abgelaufen ist. Wenn man zum Beispiel die Vergangeheit eines Autos untersuchen will, dann lohnt es sich, eine genaue Analyse aller Dellen, Beulen, Blechschäden, Roststellen, etc durchzuführen. Daraus kann man dann ziemlich gut ableiten, wie oft es irgendwo gegen ne Wand bzw. ein anderes Auto gefahren ist bzw. wie lange es draußen im Regen rumstand. Und die Blechschäden der Lentikular-Galaxien sind Kugelsternhaufen.
Ein Kugelsternhaufen ist – wenig überraschend – ein kugelförmiger Haufen voller Sterne. Kleiner als ein Galaxie, typischerweise mit ein paar zehntausend bis hundertausend Sternen. Die Dinger sind im Allgemeinen sehr alt und man findet sie in den äußeren Bereichen einer Galaxie. Das ist praktisch: Denn weil sie alt sind, ist ihnen alles passiert, was der Galaxie passiert. Aus einer Analyse ihrer Eigenschaften kann man also – wie bei den Blechschäden am Auto – schließen, wie die Vergangenheit der Galaxie war. Und weil sie in den äußeren Bereichen einer Galaxie zu finden sind, kann man sie auch gut beobachten. In der Zentralregion drängen sich zu viele Sterne als das man vernünftige Details sehen könnte. Normalerweise würden Astronomen ja große Wasserstoffwolken benutzen, um die Außenbereiche einer Galaxie zu untersuchen. Die Wasserstoffmoleküle geben Radiowellen ab die sich sehr gut beobachten lassen. Aber gerade diese interstellaren Wasserstoffwolken fehlen den Lentikular-Galaxien ja. Deswegen also: Kugelsternhaufen!
Wer stört die Haufen?
Mit so einem Kugelsternhaufen kann man einiges anfangen. Man kann schauen, wie schnell er sich bewegt und wohin. Man kann vor allem schauen, wie diese Eigenschaften von seiner Position in der Galaxie abhängen. Verhalten sich Kugelsternhaufen näher am Zentrum der Galaxie anders als weiter außen und wenn ja, wie genau ist der Zusammenhang? Verhalten sich die Kugelsternhaufen anders, wenn man Galaxien in Galaxienhaufen betrachtet als bei Galaxien die sich außerhalb oder am Rand von Haufen befinden? All diese Fragen kann man durch entsprechende Beobachtungen beantworten. Und die Antworten sagen uns etwas über die Vergangenheit der Galaxie. Wenn sich zwei Galaxien begegenen und beeinflussen, dann werden – vereinfacht gesagt – auch die Kugelsternhaufen ein wenig durcheinander gewirbelt und verhalten sich anders, als in einer Galaxie, der das nicht passiert ist.
Und wie entstehen Lentikulare Galaxien jetzt?
Hat sich jetzt etwa jemand eine endgültige und simple Antwort erwartet? Ich hab zu Beginn ja geschrieben: “Wir haben ein Problem” und nicht “Wir hatten ein Problem”. Die Realität ist kompliziert und Lentikular-Galaxen erst recht. Astronomen haben jede Menge dieser Galaxien beobachtet und jede Menge Kugelsternhaufen analysiert. Und so wie es aussieht gibt es keine simple Antwort. Unterschiedliche Lentikular-Galaxien sind auf unterschiedlichen Wegen entstanden. Ob sich das ganze systematisieren lässt und ob man die Lentikular-Galaxien in ein vernünftiges Schema stecken kann; ob man vielleicht auch Wege finden kann, ihnen direkt anhand ihres Aussehens einen konkreten Lebensweg zuordnen zu können: Das werden – wenig überraschend – erst mehr Daten und mehr Beobachtungen zeigen können. Aber diese Beobachtungen wird es geben.
Für die Erforschung von Lentikular-Galaxien wird es keine Nobelpeise geben und auch keine großen Schlagzeilen in den Medien. Man wird mit ihnen nicht berühmt werden können. Die Lentikular-Galaxien werden Außenseiter und von der Mehrheit der Menschen ignoriert bleiben. Aber nicht von der kleinen Gruppe an Astronomen und Astronominnen die sich ganz diesen galaktischen Underdogs verschrieben haben. Die Lentikular-Galaxien sind ein Teil des Universums. Und damit Teil dessen, was die Astronomen verstehen wollen. Solange es noch offene Fragen gibt, werden sich Menschen finden, die eine Antwort danach suchen. Weil das Universum verstanden werden will. Inklusive Lentikular-Galaxien!
Auch bei der weltgrößten Astronomiekonferenz die derzeit gerade in Wien stattfindet, handelt die Mehrzahl der Vorträge nicht von Lentikular-Galaxien. Aber auch sie sind vertreten. Zum Beispiel durch Arianna Cortesi von der Universität Nottingham und ihrem Beitrag “The S0 road: a network of routes to create lenticular galaxies” der den Anstoß zu diesem Artikel gegeben hat (mehr Informationen zu diesem Thema gibt es auch in diesem Fachartikel). Mehr Artikel zur Astronomiekonferenz in Wien findet man hier.
Kommentare (15)