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Street Epistemology oder wie man mit allen über alles reden kann.
von AndreasK
Ich bin Doktorand der Materialwissenschaften und beschäftige mich in meiner Arbeit mit hochverformten Kompositwerkstoffen. In meiner Freizeit lese ich Bücher, schaue Videos, höre Podcasts und unterhalte mich auf Twitter über alle möglichen Themen von Wissenschaft bis Religion.
Wie führt man ein Gespräch mit Personen, die eine diametral andere Meinung haben als man selbst? Führt man eine geregelte Debatte mit Argumenten und Gegenargumenten? Sagt man ihnen ins Gesicht, dass Sie falsch liegen und man selbst richtig? Zählt man alle Fakten auf, die zeigen, dass sie falsch liegen? All diese Methoden haben ihren Platz in der Kommunikation von Wissen und kritischem Denken, doch wie erfolgreich sind sie dabei, unsere Gesprächspartner zu überzeugen? Gibt es vielleicht eine Methode, die weniger aggressiv ist und Menschen dabei hilft, darüber nachzudenken und selbst herauszufinden, ob das, wovon sie überzeugt sind, wahr ist?
Was ist Street Epistemology?
Epistemologie oder Erkenntnistheorie ist die philosophische Lehre, die sich mit den Fragen nach den Voraussetzungen für Erkenntnis, dem Zustandekommen von Wissen und anderer Formen von Überzeugungen beschäftigt. [1]
Street Epistemology oder kurz SE wurde von Dr. Peter Boghossian, Professor für Philosophie an der Portland State University, entwickelt. Im Jahr 2013 veröffentlichte er sein Buch A Manual for Creating Atheists, in dem er darlegt, wie man den Diskurs über Erkenntnis und Wissenserwerb aus dem akademischen Umfeld in den Alltag bringen kann. [2]
SE ist ein dialektischer Ansatz, basierend auf der sokratischen Methode, bei dem durch gezielte Fragen Überzeugungen identifiziert, verstanden und hinterfragt werden und die Interviewpartner gemeinsam die Zuverlässigkeit der Methoden, mit denen wir Wissen, Erkenntnisse und Überzeugungen erlangen, eruieren. [2,3]
Das Ziel von SE ist, den Menschen dabei zu helfen, kritisch zu denken und dieses kritische Denken auch auf ihre eigenen Überzeugungen über die Welt anzuwenden.
Inspiriert von Peter Boghossians Buch gibt es heute einige Anwender von SE, die ausgerüstet mit einer Kamera in die Öffentlichkeit gehen, Gespräche initiieren und Videos auf Youtube hochladen. Dies ist natürlich keine Voraussetzung, um SE anzuwenden, aber diese Videos können selbst als Inspiration und Anleitung dienen, produktive Gespräche zu führen.
SE kann überall angewendet werden. Zuhause, in der Arbeit, im Supermarkt. Man kann ein Gespräch selbst initiieren oder auch auf beiläufig erwähnte Behauptungen reagieren.
Anthony Magnabosco war der Erste, der SE-Gespräche aufnahm und veröffentlichte, und auf seinem Youtube-Kanal finden sich Hunderte von hervorragenden Beispielen, wie solche Gespräche ablaufen können.
Dieses Video z.B. zeigt sehr gut, wie man ein produktives Gespräch über ein emotional aufgeladenes Thema führen kann.
Der Interviewer geht auf die geschilderten Überzeugungen ein und hinterfragt sie ohne zu verurteilen oder Gegenbehauptungen aufzustellen. Das Gespräch ist offen und ehrlich und beide Parteien fühlen sich wohl dabei, über das gewählte Thema zu sprechen.
Warum sollte man diese Technik anwenden?
Das Problem, das oft auftreten kann, wenn man Menschen mit Fakten konfrontiert, die ihrem Glauben widersprechen ist, dass es zu einem Widerstand gegen diese Fakten führen kann. Dieses als Backfire-Effekt bekanntes Verhalten kann die eigenen Ansichten, die in Konflikt mit den Fakten stehen, noch weiter verfestigen [4].
SE bietet die Möglichkeit den Backfire-Effekt zu umgehen, da die Interviewpartner nicht mit harten Fakten konfrontiert werden. Durch freundliche und ehrliche Fragen nach den Gründen für eine Überzeugung und den Methoden mit denen diese Überzeugungen erreicht wurden, kann man seinem Gegenüber dabei helfen, darüber nachzudenken, ob diese Gründe gerechtfertigt und die Methoden verlässlich sind.
Dieses Gespräch hier ist ein hervorragendes Beispiel wie SE ablaufen kann, nicht nur weil alle Gesprächspartner offen und produktiv am Gespräch teilgenommen haben, sondern auch, weil einer der beiden Befragten (Daniel) einige Zeit nach dem Gespräch seinen Glauben an Gott abgelegt hat und jetzt selbst Teil der SE-Community ist.
Wie kann man ein erfolgreiches Gespräch führen?
SE funktioniert am besten in einem persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht. So können beide Gesprächspartner ihre volle Aufmerksamkeit dem widmen, was der/die andere sagt. Aber auch andere Medien, wie zum Beispiel Videochat, Email oder Twitter können verwendet werden, auch wenn sie nicht so effektiv wie ein persönliches Gespräch sind.
Was sind nun die Schritte, die zu einem erfolgreichen Gespräch führen? [2]
1) Baut eine Verbindung mit euren Gesprächspartnern auf.
Über Dinge zu sprechen, von denen man stark überzeugt ist und die einem sehr wichtig sind, braucht ein gewisses Maß an Vertrauen, besonders mit Fremden. Macht euch mit euren Gesprächspartnern bekannt, erklärt was ihr vorhabt und seid offen und ehrlich über eure Absichten.
2) Identifiziert die Behauptung.
Findet heraus, was eure Gesprächspartner glauben. Entweder habt ihr gehört, wie sie etwas behauptet haben, oder ihr stoßt erst nach etwas small-talk auf ein interessantes Thema. Das kann eigentlich alles sein: Der Glaube an einen Gott, an Karma, Geister, Homöopathie, eine bestimmte politische Einstellung, usw.
3) Bestätigt die Behauptung.
Bestätigt, dass ihr die Behauptung verstanden habt, indem ihr sie zusammenfasst und wiederholt. Seid sicher, dass ihr beide das Thema klar verstanden habt, damit es zu keinen Missverständnissen kommt.
4) Klärt Definitionen.
Falls irgendwelche Worte gebraucht werden, die mehrdeutig oder unklar sind, stellt sicher, dass eure Interviewpartner sie klar definieren. Es ist wichtig, beide das Gleiche meinen, wenn Wörter wie “Gott” oder “Wahrheit” verwendet werden.
5) Ermittelt ein Vertrauenslevel.
Fragt eure Gesprächspartner, wie sicher sie sind, dass ihre Behauptung wahr ist. Versucht, dies an einer Zahl festzumachen, z.B.: “Wie sicher sind sie sich, auf einer Skala von 0 bis 100, das Gott real ist?” Dieser Teil ist optional und ihr solltet nicht zu sehr auf einer Zahl bestehen, um eurem Gegenüber nicht auf die Nerven zu gehen.
6) Ermittelt die Methode, mit der dieses Vertrauenslevel erreicht wurde.
Fragt euer Gegenüber, wie sie bestimmt haben, dass ihre Überzeugungen wahr sind, oder wie sie das zuvor bestimmte Level an Sicherheit erreicht haben. Wahrscheinlich werden sie mehrere Gründe haben. Versucht, euren Fokus auf einen oder zwei Gründe zu setzen, am besten jene, die für sie die Wichtigsten sind.
7) Stellt Fragen, die die Zuverlässigkeit der Methode ermitteln.
Eure wichtigsten Werkzeuge hier sind die Sokratische Methode [3], der sogenannte Outsider Test of Faith (1) und Fragen über die Falsifizierbarkeit ihrer Behauptungen. Stellt Fragen, die wenn ehrlich beantwortet, zu Widersprüchen in den Annahmen und Hypothesen eurer Gesprächspartner führen, und sie dazu zu bringen, über diese Widersprüche nachzudenken.
8) Zuhören, Zusammenfassen, Fragen, Beobachten, Wiederholen.
Hört eurem Gesprächspartner aufmerksam zu. Versucht zu verstehen, was sie euch sagen wollen ohne an der genauen Wortwahl festzuhängen.
Wiederholt, was ihr denkt euer Gesprächspartner sagen möchte und stellt sicher, dass ihr sie richtig verstanden habt. Es ist wichtig, dass sie sich verstanden fühlen. Das zeigt, dass ihr aufmerksam zuhört und ihre Überzeugungen ernst nehmt.
Stellt mehr sokratische Fragen, die sich direkt auf die Epistemologie beziehen, die sie benutzen.
Haltet Ausschau nach jenen speziellen Momenten, in denen eure Gesprächspartner angestrengt nachdenken und versuchen ihren Gedankengang zu sortieren, oft begleitet von einem Blick nach oben. Es ist wichtig, jene sogenannten Aporien [5] zu erkennen und diese Stille nicht zu unterbrechen, bis eure Gesprächspartner weitersprechen. Solche gedanklichen “Ausweglosigkeiten” sind das, was ihr erreichen wollt. Sie können sogar ein Zeichen dafür sein, das Gespräch zu beenden und euer Gegenüber erlauben, über diese Fragen alleine nachzudenken.
9) Schließt die Unterhaltung ab.
Wenn ihr am Anfang nach einem Vertrauenslevel gefragt habt, könnt ihr das jetzt noch einmal machen. Das kann euch dabei helfen, einzuschätzen ob euer Gespräch einen unmittelbaren Erfolg hatte. Seid auch bereit, eine Möglichkeit zur späteren Kontaktaufnahme wie z.B. eine Email-Adresse zu geben, um gegebenfalls das Gespräch fortzuführen oder auftauchende Fragen zu beantworten.
Das Gespräch war erfolgreich, wenn:
Euer Gesprächspartner das Gespräch als angenehm, positiv, wertvoll empfunden hat.
Ihr es geschafft habt, eine Aporie in eurem Gesprächspartner auszulösen.
Beide Parteien bereit sind, das Gespräch in Zukunft weiterzuführen.
Es zu einer Änderung in dem vom Gesprächspartner angegebenen Level an Überzeugung gekommen ist.
Das Gespräch war nicht erfolgreich, wenn
Es zu lauten Auseinandersetzungen und Debatten kommt.
Eine der Parteien frustriert ist.
Eine der Parteien sich ungehört oder missverstanden fühlt.
Eine der Parteien das Gespräch bereut.
Hier ist noch ein außergewöhnliches Beispiel, in dem der Interviewpartner während des Gesprächs erkennt, dass die Methode, auf der er seinen Glauben gründet, nicht verlässlich ist. Genau das ist das Ziel von SE, nur entwickelt sich diese Erkenntnis normalerweise erst später, wenn man Zeit hatte, über das Gespräch nachzudenken.
Zum Schluss möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass es nicht nötig ist mit Videokamera und Klemmbrett in die Öffentlichkeit zu gehen und Leute zu interviewen wie in den gezeigten Beispielen. SE kann genauso gut Zuhause mit Freunden und Familie oder mit Leuten, die ihre Behauptungen über Social Media verbreiten, verwendet werden.
Das Wichtigste ist in allen Fällen, offen für die Überzeugungen anderer zu sein und durch freundliches Fragen und aktives Zuhören gemeinsam zum Fundament dieser Überzeugungen vorzudringen und es auf seine Stabilität zu überprüfen.
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(1) Der Outsider Test of Faith stellt die Frage nach der Verlässlichkeit des Glaubens als Methode, die Wahrheit zu erkennen, basierend auf der Tatsache, dass so viele verschiedene Religionen, Dogmen und Glaubenssysteme diesen Glauben benutzen, um zu verschiedenen Schlussfolgerungen zu kommen. [6]
John W. Loftus hat den OTF in seinem gleichnamigen Buch ausführlich erklärt.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Erkenntnistheorie
[2] https://streetepistemology.com/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Sokratische_Methode
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Backfire-Effekt
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Aporie
[6] https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Outsider-Test%20of%20Faith
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