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Die Karte des Piri Reis – das mysteriöse Meisterwerk
von Dampier
Ich bin Grafiker und Hobby-Historiker. Meine Schwerpunkte sind das Zeitalter der Entdeckungsreisen, Wissenschaftsgeschichte und Kartografie. Besonders liebe ich Südamerika, wo ich als Jugendlicher eine Weile gelebt habe, und wo ich viel und gern gereist bin. Nicht zuletzt durch diesen Wettbewerb habe ich meine Lust am Schreiben wiederentdeckt. Demnächst werde ich mich auch an einem eigenen Blog versuchen (Dampierblog.de).
Die Karte des Piri Reis ist ein besonders spannendes Stück Wissenschaftsgeschichte. Sie ist von vielen Rätseln umgeben und hat immer wieder zu Spekulationen und Theorien inspiriert – von seriös bis hanebüchen ist alles dabei. Hier erzähle ich von den vielen spannenden Geschichten, die sich um diese alte Weltkarte ranken, und von meinen Erkenntnissen aus den letzten Monaten, in denen ich mich mit ihr beschäftigt habe.
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Vor einiger Zeit entdeckte ich die Karte des Piri Reis wieder. Ich kenne sie aus meiner Kindheit, nämlich aus Erich von Dänikens Bestseller Erinnerungen an die Zukunft, welchen ich als Zehnjähriger verschlang. Diese wundersame Karte sei, so Däniken, “absolut exakt”, und könne nur auf eine jahrtausendealte Luftaufnahme aus großer Höhe zurückgehen.
Damals hatte von Däniken leichtes Spiel mit mir; ich war gefesselt von seiner Vorstellung, unsere Erde sei in grauer Vorzeit von Außerirdischen besucht worden, die, als Götter angesehen, unsere gesamte Zivilisation beeinflusst hätten. Und ich war sauer über die Ignoranz “der Wissenschaft”, welche der Autor wortreich beklagte.
Obwohl ich seitdem natürlich dazugelernt habe, und Ockhams Rasiermesser zu benutzen weiß, hat sich die Magie, die ich damals verspürte, erstaunlicherweise erhalten. Bis heute bin ich sehr interessiert daran, was aus den alten Däniken-Geschichten geworden ist. Selbst wenn man sie – wie es sich gehört – ergebnisoffen erforscht, bleiben es fesselnde Geschichten, von denen ich nicht genug bekommen kann.
So fand ich vor einiger Zeit ein aktuelles Buch über die Piri-Reis-Karte und freute mich darauf, mich nach Jahrzehnten mal wieder eingehend damit zu befassen. Für eine geplante Buchkritik begann ich, die Forschungsgeschichte der Karte zu recherchieren. Dies uferte bald derart aus, dass es Material für mehrere Artikel hergibt. An dieser Stelle möchte ich, auch um meine Gedanken zu ordnen, eine erste Zusammenfassung versuchen.
Wenn man sich in die Geschichte dieser Karte und ihrer Deutungen vertieft, gerät man unweigerlich in einen Dschungel von abenteuerlichen Spekulationen und steilen Thesen, mit unzähligen Verästelungen und Querverbindungen, so dass es schwer fällt, die Karte in ihrer Zeit angemessen einzuordnen. Durch dieses Gestrüpp habe ich mir in den letzten Wochen zumindest einen kleinen Trampelpfad geschlagen. Von all den Merkwürdigkeiten, den Forschern, Spinnern und Gelehrten und einigen der wundersamen historischen Blüten, die mir auf diesem Weg begegnet sind, möchte ich hier berichten.
Die Piri-Reis-Karte ist sicher eine der schönsten Karten aus dem Zeitalter der Entdeckungsreisen, das Kartenbild mit seinen klaren Linien erinnert schon an heutige Atlanten; die Details sind längst nicht so steif und unbeholfen dargestellt, wie es sonst in jener Zeit oft noch der Fall war. Hier ist eindeutig ein Meister seines Fachs am Werk gewesen.
Die Entdeckung Amerikas lag gerade zwanzig Jahre zurück. Das wenige, was über die neue Welt bekannt war, wurde von den Spaniern und Portugiesen eifersüchtig geheimgehalten. Deshalb ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet auf dieser osmanischen Karte die Küste Südamerikas schon bis weit nach Süden dargestellt ist – Jahre bevor Magellan in diese Gegenden vorstieß. Welche Quellen Piri Reis hierfür zur Verfügung hatte, gibt bis heute Rätsel auf.
Aufgrund dieser und einiger anderer Besonderheiten bot die Piri-Reis-Karte seit jeher eine dankbare Projektionsfläche für Crackpots aller Art. Ich möchte hier aufzeigen, dass sie viel mehr ist als nur eine Spielwiese für Pseudowissenschaftler und dass es sich wirklich lohnt, sich mit ihr zu beschäftigen, da sie uns viele erstaunliche Erkenntnisse über ihre Zeit zu vermitteln vermag.
Dieser Artikel ist in drei Kapitel aufgeteilt. Zunächst werde ich eine Beschreibung der Karte geben, danach einen chronologischen Überblick über einige Forscher und ihre mehr oder weniger seriösen Theorien, um am Ende nochmal einige Detailfragen zu beleuchten.
1.) Beschreibung der Karte
Die Karte des Piri Reis wurde 1929 im Topkapi-Palast zu Istanbul entdeckt. Es handelt sich offenbar um den westlichen Teil einer Weltkarte, auf Pergament gezeichnet; das erhaltene Fragment misst ca. 90 × 60 cm. Die angenommene gesamte Weltkarte könnte also wenigstens 2 × 1 Meter gemessen haben.
Erstellt wurde sie um 1513 von Piri Reis, Admiral der Osmanischen Flotte, Seeräuber und Kartograf. Vorbildlicherweise hat er auf der Karte selbst seine Quellen vermerkt, demnach hat er sie aus einer großen Anzahl einzelner Vorlagen zu einer Weltkarte kompiliert: ptolemäischen, arabischen, portugiesischen – und einer Karte, die direkt auf Kolumbus zurückgehen soll.
Das kam so: Im Jahre 1501 kaperte Piris Onkel, Kemal Reis, ebenfalls Korsar und Admiral, im Mittelmeer eine Reihe von Schiffen in einem Scharmützel gegen die Republik Venedig. Unter seinen Gefangenen war ein Spanier, der von sich behauptete, mit Kolumbus gesegelt zu sein. Und er war im Besitz einer Seekarte, die angeblich vom großen Entdecker selbst stammte. Piri Reis erbte diese Karte später von seinem Onkel und integrierte sie in seine Weltkarte.
Für einen Überblick möchte ich die Karte in vier Teile gliedern:
1. Oben rechts (Nordosten)
Spanien und Westafrika
Diese Küstenlinien sind der genaueste Teil der Karte. Im Vergleich mit anderen zeitgenössischen und selbst heutigen Karten sind die Abweichungen nur gering, und viele Details lassen sich eindeutig zuordnen. Die Küstenlinie Westafrikas haben die Portugiesen schon lange vor Kolumbus recht genau kartiert, und trotz aller Versuche der Geheimhaltung gab es natürlich immer wieder Datenlecks, so dass dieser Teil des Atlantiks zu Piri Reis’ Zeiten schon recht gut bekannt war.
2. Oben links (Nordwesten)
Die Karibik
Dies ist der Teil, der auf die heute verschollene Originalkarte des Kolumbus zurückgeht. Dass hier alles ziemlich grob und ungenau wirkt, liegt vor allem am verschrobenen Weltbild von Kolumbus, der ja bis zuletzt sicher war, Asien erreicht zu haben. Außerdem soll er zwar ein guter Seemann aber ein ziemlich miserabler Geograf gewesen sein.
3. Unten links (Südwesten)
Die Küste Brasiliens
Die Darstellung ist sehr detailliert – was einige Forscher wohl gern mit Genauigkeit verwechseln. Auch wenn jeder, der seinen Weltatlas kennt, hier sofort Südamerika wiedererkennt, so wird es doch problematisch, sobald man ins Detail geht. Da geht kaum mehr etwas zusammen, und nur einzelne Abschnitte lassen sich mit viel gutem Willen zuordnen. Piri Reis beruft sich hier auf portugiesische Quellen.
4. Unten (Süden)
Patagonien / Antarktis?
Hier biegt die Küste Südamerikas weit nach Osten ab. Man sieht auf Anhieb, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dies ist der Teil, der laut von Däniken und anderen die Antarktis zeigen soll. Andere vermuten, dass der Zeichner der Karte einfach das teure Pergament bestmöglich ausnutzen wollte und deshalb die Küste Patagoniens kurzerhand abknickte. Einige Details Patagoniens (Halbinsel Valdez, Falklandinseln) könnten eventuell passen, aber Magellan- und Drakestraße fehlen komplett. Was genau Piri Reis sich dabei gedacht hat, wird wohl immer Gegenstand von Spekulationen bleiben, zumal auch seine Randbemerkung in dem Kartenteil keinen rechten Sinn ergibt (“Hier ist es sehr heiß”).
Binnenland
Die Darstellung des Landesinneren auf der Piri-Reis-Karte ist eher willkürlich. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Flussmündungen in Afrika zwar recht genau abgebildet sind, der Verlauf der Flüsse aber nicht viel mit der Realität zu tun hat. Hier hat sich Reis offenbar von den phantastischen Ausschmückungen der mittelalterlichen Mappae Mundi inspirieren lassen. Die Darstellung von Bergen, Tieren und Fabelwesen in Südamerika laden natürlich zu lebhaften Spekulationen ein – für Aussagen über die Genauigkeit der Karte sind aber letztlich die Küstenlinien relevant.
Texte
Die Sprache ist osmanisches Türkisch, die Schrift arabisch. Viele Inseln und Regionen sind mit Namen beschriftet, die eindeutig auf Spanische und portugiesische Quellen schließen lassen. Außerdem werden, wie auf den Karten jener Zeit üblich, überall kleine Geschichten erzählt, die auf ältere Reiseberichte und mittelalterliche Legenden zurückgehen. Der lange Text links unten enthält die Quellenangaben sowie eine Schilderung der ersten Reise des Kolumbus (“Qülümbü”), die auf die Erzählungen von Kemal Reis’ spanischem Gefangenen zurückgeht.
2.) Die Forscher und ihre Theorien
Paul Kahle: die Kolumbus-Karte (1933)
Paul Kahle war Orientalist und Theologe. Piri Reis war ihm bekannt als Autor des Kitab-ı Bahriye, eines Seefahrts-Handbuchs für das Mittelmeer, in welchem er seine Weltkarte erwähnte, sowie die Tatsache, dass ein Teil davon auf Kolumbus basiere. Das weckte die Neugier Kahles, da eine Karte von der Hand des Kolumbus zwar belegt, aber bis heute verschollen ist. Um 1930 stieß er im „Topkapi-Serail zu Stambul“ auf die Piri-Reis-Karte und ließ sich eine Kopie anfertigen.
In seinem 1933 erschienenen Werk Die verschollene Columbus-Karte von 1498 in einer türkischen Weltkarte von 1513 schildert er die Ergebnisse seiner Analysen. Seriöse Forscher, die mit der Materie befasst sind, bescheinigen ihm eine “ausgezeichnete” und “verdienstvolle” Arbeit. Kahle widmet sich in diesem Werk ausschließlich der Darstellung der Karibik.
Einem Kenner der Materie fällt sofort die große Ähnlichkeit mit der Toscanelli-Karte auf. Der Florentiner Kosmograf Paolo Toscanelli (1397-1482) unternahm als einer der ersten den Versuch, die Welt als Ganzes darzustellen, inklusive der noch unbekannten Regionen zwischen Westeuropa und Ostasien. Von der Existenz des amerikanischen Doppelkontinents konnte er noch nichts wissen, und so stellte er den Atlantik als direkte Verbindung nach Asien dar. Japan, damals Cipango genannt, verortete er in etwa dort, wo sich tatsächlich Mittelamerika befindet.
Das kam den Plänen des Kolumbus (der mit Toscanelli korrespondierte und von ihm eine Karte zugesandt bekam) natürlich entgegen. Nicht zuletzt aufgrund der Toscanelli-Karte gelang es ihm, die spanischen Majestäten von seinem Vorhaben zu überzeugen. Und man weiß, dass Kolumbus diese Karte auf seinen Reisen dabei hatte.
Um nun auch nachträglich keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass er einen Weg nach Asien – kürzer als um Afrika herum – gefunden hatte, passte er seine Entdeckungen kurzerhand der Toscanelli-Karte an. Das von ihm entdeckte Hispaniola (heute Haiti/Dominikanische Republik) setzte er mit Cipango gleich. Lage und Größe der Insel behielt er bei und passte nur die Küstenlinie ein wenig seinen neuen Entdeckungen an. Aus diesem Grunde behauptete er auch bis zuletzt, dass Kuba zum asiatischen Festland gehöre. Er verdonnerte sogar seine Leute bei Todesstrafe dazu, diese Behauptung um jeden Preis zu stützen!
All dies legt Paul Kahle detailliert und überzeugend dar. Und er weist nach, dass die Karte von Kemal Reis’ spanischem Gefangenen von 1501 echt gewesen sein muss, da die Namen auf der Piri-Reis-Karte eindeutig mit denen von Kolumbus’ Reiseberichten übereinstimmen. Diese Darstellung der Karibik ist also die früheste, die wir kennen (1495/96).
Arlington H. Mallery: Die Antarktis-Hypothese (1953)
1953 bekam der U. S. Navy-Kartograf und Amateurhistoriker Captain Arlington H. Mallery eine Kopie der Piri-Reis-Karte in die Hände. Nach „eingehender Untersuchung“ trat er mit der These an die Öffentlichkeit, der südliche Teil der Karte zeige die Antarktis – und zwar aus einer Zeit, als sie noch frei von Eis gewesen wäre!
Heute wissen wir, dass das seit Millionen von Jahren nicht der Fall gewesen ist. Das war in den 1950ern vielleicht noch nicht so klar. Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung – die auch lange für Spinnerei gehalten wurde – begann sich gerade erst durchzusetzen. Im Zuge dessen fühlten sich auch andere berufen, ähnliche Theorien aufzustellen. So vertrat der Historiker Charles H. Hapgood die These, die gesamte Erdkruste habe sich des öfteren auf einmal verschoben, zuletzt vor etwa sechs- bis neuntausend Jahren. Und so sei der antarktische Kontinent, der bis dahin weiter nördlich gelegen habe, erst vor relativ kurzer Zeit an den Südpol gerutscht und vereist.
Wie offen für neue Ideen die Geowissenschaften damals noch waren, zeigt sich zum Beispiel daran, dass Hapgood für ein wohlwollendes Vorwort seines Buches Earth’s Shifting Crust (1958) niemand geringeren als Albert Einstein gewinnen konnte.
Captain Mallery galt allerdings schon damals eher als Amateur.
Charles H. Hapgood: Die alten Seefahrer (1966)
Hapgood nahm die Hypothese Mallerys begierig auf und beschloss, selbst die Piri-Reis-Karte zu erforschen. Zusammen mit einer Gruppe von Studenten begann er eine eingehende Analyse, die sich über Jahre hinziehen sollte. Dabei nahm er auch die Hilfe der Kartografie-Abteilung der U. S. Navy sowie des MIT in Anspruch. Sein Buch Maps of the ancient sea kings von 1966 ist sehr ausführlich und detailliert, mit vielen mathematischen Exkursen. All das wirkt zunächst echt beeindruckend und – da es ist dem Laien kaum möglich ist, Hapgoods Vorgehensweise im Detail nachzuvollziehen – auch erstmal ziemlich überzeugend.
Hapgood behauptet, er und seine Studenten hätten einen Weg gefunden, das alte System der Rumbenlinien – sechzehnstrahlige Kompassrosen, die über die Karte verteilt sind, und deren Strahlen sich überall kreuzen – in ein modernes Koordinatensystem umzurechnen. Dabei ließ er sich von einem Mathematiker des MIT helfen. So hätten sie zum Beispiel – nach drei Jahren Rechnerei! – festgestellt, dass das (im fehlenden Teil des Kartenfragments liegende) Projektionszentrum der Karte in Kairo gelegen habe, und dass der Zeichner der Karte schon die sphärische Trigonometrie beherrscht haben müsse.
Beim Versuch, diese Berechnungen nachzuvollziehen, musste ich passen. Allerdings fiel mir ein, dass diese umständlichen Näherungsverfahren heute natürlich in kürzester Zeit mit einem Computer erledigt würden. Ich bin zwar ein lausiger Mathematiker, habe aber Hapgood etwas voraus: fast sechzig Jahre technologischen Vorsprung. Also warf ich mein Grafikprogramm an und überlagerte dort verschiedene alte und moderne Karten mit der Piri-Reis-Karte, was mir tatsächlich als brauchbarer Ansatz für eine Plausibilitätsprüfung erscheint. Im Detail würde das hier zu weit führen, nur soviel: einige zentrale Aussagen Hapgoods konnten einfach nicht hinkommen. Dafür entdeckte ich interessante Anhaltspunkte, die ich ohne weiteres zu einer eigenen Privattheorie ausbauen könnte. Dazu werde ich sicher noch mal was schreiben.
Das bestätigte meinen Eindruck, dass Hapgood vor allem eine Menge Tamtam um seine Berechnungsmethoden macht und den Leser mit einer Flut von Details erschlägt. Auch auf Karten, die auf den ersten Blick völlig verzerrt und unrealistisch aussehen, findet er noch “erstaunliche Genauigkeit” (eine seiner Lieblingsfloskeln). Er zerschneidet Küstenlinien, dreht und wendet die Einzelteile, um irgendwann seine angeblich mathematisch ermittelte Exaktheit zu postulieren.
Ich denke, man kann einen bestimmten Punkt auf einer alten Karte nicht beliebig genau bestimmen, wie Hapgood vorgibt. Das ist, als wolle man einem unscharfen Foto mehr Informationen entlocken, indem man es besonders hochauflösend einscannt. Es gibt einfach einen Unschärfebereich, den man nicht unterschreiten kann.
Letztlich fällt beim Lesen seines Buches auf, dass Hapgood immer wieder sehr willkürliche Grundannahmen trifft – und dass er von vornherein nicht ergebnisoffen forscht, sondern alles auf seine These hinbiegt, nämlich dass es Ausgangs der Jungsteinzeit eine hochentwickelte globale Zivilisation gegeben haben müsse, die schon sphärische Trigonometrie und exakte astronomische Ortsbestimmung beherrschte.
Bei all dem gibt Hapgood sich bescheiden, er müsse nicht unbedingt Recht haben etc. Auch diese Disclaimer können aber letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um Pseudowissenschaft handelt, wenn auch etwas freundlicher verpackt, als bei den beiden folgenden Experten.
Erich von Däniken: die Aliens (1968)
All das war natürlich ein gefundenes Fressen für Erich von Däniken, der Mallerys und Hapgoods Thesen – extrem verkürzt – in Erinnerungen an die Zukunft wiedergab und gleich noch einen draufsetzte, indem er die Piri-Reis-Karte statt einer prä-antiken Zivilisation seinen fotografierenden Astronautengöttern zuschrieb. Mehr muss ich zu dem Herrn hier glaube ich nicht sagen.
Gavin Menzies: die Chinesen (2002)
Gavin Menzies ist ein pensionierter U-Boot-Kommandant der Royal Navy, der in seinem Weltbestseller 1421 – Als China die Welt entdeckte behauptet, die gewaltigen Dschunkenflotten der Ming-Dynastie unter Admiral Zheng He hätten nicht nur – wie historisch unstrittig ist – Südostasien und den indischen Ozean erforscht, sondern gleich auch, siebzig Jahre vor Kolumbus, die Welt umrundet, Amerika, Australien, Neuseeland und die Antarktis entdeckt und sogar die Nordostpassage, also das nördliche Polarmeer um Sibirien herum, durchquert.
Auch die Piri-Reis-Karte muss für seine Theorien herhalten; ihre Darstellung Südamerikas soll auf die Chinesen zurückgehen. Die chinesische Wissenschaft des Mittelalters war hoch entwickelt und ich traue ihnen einiges zu. Wenn es um die Würdigung dieser Fähigkeiten geht, ist Menzies allerdings ein denkbar schlechter Anwalt.
Die Kritik der Fachwelt war absolut vernichtend. Einer schrieb, es gäbe in diesem Buch nicht eine Seite, auf der er nicht laut hätte loslachen müssen (Quelle finde ich grad nicht wieder). Tatsächlich habe ich mal stichprobenartig einigen Punkten hinterherrecherchiert und in praktisch jedem Fall haarsträubende Fehler und Verdrehungen gefunden.
Fuat Sezgin: die Araber (2006)
Die Argumentation des Islamwissenschaftlers Fuat Sezgin (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) ist im Prinzip ähnlich wie die von Menzies: Spanier und Portugiesen seien um 1500 nicht fähig gewesen, so genaue Karten wie die des Piri Reis zu zeichnen, zudem sei die Küste Patagoniens ihnen zu der Zeit noch gar nicht bekannt gewesen; also müsse die Piri-Reis-Karte einer anderen, früheren Quelle entstammen. Im Gegensatz zu Menzies ist Sezgin allerdings ein anerkannter Wissenschaftler, dessen siebzehnbändige Geschichte des Arabischen Schrifttums als absolutes Standardwerk gilt.
Sein Lebenswerk ist dem Nachweis gewidmet, dass die arabisch-islamische Wissenschaft des Mittelalters bis heute in ihrer Qualität und Tragweite sowie in ihrem Einfluss auf den Westen massiv unterschätzt wird. Nicht zuletzt ihm haben wir es zu verdanken, dass große Genies wie z. B. al-Bīrūnī und al-Chwārizmī heute langsam wieder – verdientermaßen – ins Bewusstsein der westlichen Welt rücken. Diese seine Agenda legt aber auch nahe, dass er in seiner Arbeit nicht völlig unvoreingenommen ist, was auch hier und da durchschimmert.
Auch Sezgin behauptet, Kolumbus sei nicht der erste gewesen. Er traut es den Arabern zu, schon viel früher Amerika erreicht zu haben. Obwohl auch er nur Indizien anführen kann, finde ich seine Argumentation bislang am überzeugendsten.
Das eingangs erwähnte Buch Die Karte des Piri Re’is: das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas von Susanne Billig (2017) ist eine Würdigung der Arbeit Fuat Sezgins. Das Buch war letztlich der Auslöser für meine Recherchen und diesen Artikel.
Gregory C. Mclntosh: Nothing special
Bei meinen Recherchen stieß ich immer wieder auf den Historiker Gregory C. Mclntosh. Seine Schriften zur Piri-Reis-Karte sind erfrischend rational und ein wohltuendes Gegengewicht zu den ganzen zuweilen entnervenden Verwirrungen, die sich bei diesem Thema unweigerlich einstellen. Deshalb möchte ich ihm hier im Forscherkapitel das letzte Wort in Form einiger ausgewählter Zitate überlassen.
Es gibt sechs Bezugsgrößen (aspects) der Erdkugel, die jeweils verzerrt oder erhalten werden können, wenn man sie auf eine flache Karte überträgt: Größen, Formen, Richtungen, Peilungen/Winkel, Entfernungen und Größenverhältnisse (sizes, shapes, directions, bearings, distances, and ratios). Die Piri-Reis-Karte, so wie alle flachen Karten, ist nicht in allen diesen Aspekten akkurat. Tatsache ist, dass die Piri-Reis-Karte, so wie die meisten Renaissancekarten, alle diese Aspekte verzerrt.
Heute sehen wir Landkarten als hochwissenschaftliche Abbildungen, aber vor fünfhundert Jahren kombinierten Weltkarten tatsächliche (actual) Geografie mit theoretischer Geografie. Nur weil eine Renaissancekarte eine Küstenlinie zeigt, muss das nicht heißen, dass irgendjemand diese Küste gesehen und vermessen hätte. Viel häufiger enthielten ferne Länder auf frühen Karten anschauliche Beschreibungen und Visualisierungen, die auf schriftlichen Schilderungen, Ideen und Glaubensinhalten basierten.
Die Piri-Reis-Karte ist nicht mehr oder weniger akkurat als jede andere Karte ihrer Zeit.
Was die Grenzwissenschaft mit “akkurat” meint, ist: “Hey, das sieht voll ähnlich aus!”
Zitiert aus: Mark Adams: “Meet me in Atlantis”, Seite 225 (eigene Übersetzung)
3.) Weitere Fragen
Wie wichtig war der Längengrad?
Eines der Hauptargumente fast aller der oben genannten Autoren gegen eine Urheberschaft europäischer Entdecker ist die Tatsache, dass im Westen die Bestimmung des Längengrades auf hoher See erst ab dem 18. Jahrhundert möglich war, während z. B. die Araber schon viel früher zumindest ein recht genaues Näherungsverfahren beherrschten. (Exkurs)
Ich halte das Argument für ein wenig irreführend. Denn für eine genaue Karte muss man den Längengrad nicht unbedingt auf hoher See bestimmen können. Für die Kartografie wäre es viel zielführender, einige Punkte an den Küsten und auf Inseln zu Land zu vermessen – was schon viel früher mithilfe von Mondfinsternissen möglich war. Auch wenn einige Entdecker mit diesem – zugegebenermaßen sehr aufwendigen – Verfahren teils eklatant daneben lagen, so war es doch prinzipiell möglich, und eine erfolgreiche Ortsbestimmung an einem einzigen wichtigen Punkt hätte die gesamte europäische Kartografie vorangebracht.
Wenn man z. B. frühe Karten, die die Küste Brasiliens zeigen, mit einer modernen Karte vergleicht, fällt ein Punkt besonders ins Auge: die Ostspitze Südamerikas (Recife, Brasilien). Sie liegt – bei allen sonstigen Unterschieden – praktisch immer an der richtigen Stelle. Das ist für mich ein Indiz, dass dieser Punkt möglicherweise schon sehr früh mithilfe einer Mondfinsternis zu Lande vermessen wurde und dieser eine Datenpunkt in die meisten Renaissancekarten einfloss. (Mir ist allerdings nicht bekannt, dass eine solche Messung irgendwo überliefert wäre. Vielleicht finde ich da ja noch was.)
Wer entdeckte Amerika?
Generell halte ich es für gut möglich, dass Kolumbus nicht der erste war, der Amerika erreichte (die Wikinger lassen wir hier mal außen vor). Ich halte es für vermessen, der gesamten Menschheit vor Kolumbus derartige seemännische Fähigkeiten grundsätzlich abzusprechen. Es gibt starke Indizien, dass unter anderem Phönizier, Karthager und Araber möglicherweise schon den Atlantik gen Westen überquert haben. Auch wenn belastbare Beweise dafür bislang fehlen, finde ich es wichtig, festzuhalten, dass die Annahme einer Entdeckung Amerikas vor Kolumbus eine Theorie nicht automatisch diskreditiert.
Wie genau ist “genau”?
Grundthese: Die Piri-Reis-Karte ist viel genauer, als sie zu ihrer Zeit eigentlich sein dürfte.
Hapgood: Die alten Seefahrer waren’s.
Däniken: Die Astronautengötter waren’s.
Menzies: Die Chinesen waren’s.
Sezgin: Die Araber waren’s.
Alle: Die europäischen Entdecker können das niemals gekonnt haben!!
McIntosh: Die Piri-Reis-Karte ist gar nicht so besonders genau.
Ich glaube, dass viele selbsternannte Experten oft Genauigkeit reklamieren, wo gar keine ist, und den Leser (und letztlich sich selbst) damit irreführen. So halte ich die Behauptung, man könne aus der Piri-Reis-Karte mit viel Rechnerei eine bestimmte Projektionsmethode herauslesen, oder gar auf die Anwendung der sphärischen Trigonometrie schließen, für unseriös. Wenn man McIntosh darin folgt, dass viele Küstenlinien nur auf Annahmen oder vagen Berichten beruhen – wobei es auch gute Zufallstreffer geben kann – sind die vermeintlichen Erklärungslücken gar nicht mehr so groß.
Auch wenn es tatsächlich sehr alte Karten gibt, die bis heute Rätsel aufgeben, die vermeintich noch unentdeckte Regionen zeigen und deren Exaktheit mehr als nur zufällig erscheint, so ist doch Ockham’s Razor Genüge getan ohne dass man vorgeschichtliche Wissenschafts-Cracks postulieren müsste.
Schlusswort
Die interessanteste Figur in dieser ganzen Geschichte ist für mich Piri Reis selbst. In den Begleittexten zu seiner Karte meint man seine Begeisterungsfähigkeit und seine Liebe zur Wissenschaft zu verspüren. Die Piri-Reis-Karte ist ein wundervolles Kunstwerk und eine „kulturelle Ikone“ (McIntosh) ihrer Zeit. Piri Reis führt hier die Erkenntnisse von Spaniern, Portugiesen, Italienern, Griechen, Türken und Arabern aus vielen Epochen der Menschheit zusammen. Dieses frühe Meisterwerk der Kartografie ist ein Vorbild für vorurteilsfreie interkulturelle Wissenschaft, ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte, an dem wir uns – auch und gerade in heutiger Zeit – immer noch gern ein Beispiel nehmen dürfen.
Literatur
Paul Kahle
Die verschollene Kolumbuskarte von 1498 in einer türkischen Weltkarte von 1513
de Gruyter, Berlin/Leipzig 1933
Susanne Billig
Die Karte des Piri Re’is
Das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas
C.H.Beck 2017
Charles H. Hapgood
Die Weltkarten der alten Seefahrer
Die Entdeckung der Antarktis vor 6000 Jahren und Amerikas vor Kolumbus.
Zweitausendeins Verlag
Gavin Menzies
1421
Als China die Welt entdeckte
Droemer Knaur 2002
Erich von Däniken
Erinnerungen an die Zukunft
Ungelöste Rätsel der Vergangenheit
Econ 1968
Webartikel
Fuat Sezgin
Die Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch muslimische Seefahrer vor Kolumbus
In: Geschichte des Arabischen Schrifttums. Band XIII (2006)
https://www.uni-frankfurt.de/59003140/Sezgin_deutsch.pdf
Gregory C. McIntosh
Christoph Kolumbus und die Piri-Re’is-Karte von 1513
In: Cartographica Helvetica – Fachzeitschrift für Kartengeschichte
Band (Jahr): 11-12 (1995) Heft 11
https://doi.org/10.5169/seals-7383
Übersetzung einiger Inschriften auf der Piri-Reis-Karte
https://www.sacred-texts.com/piri/pirikey.htm (englisch)
sowie auf Deutsch in oben genanntem Artikel von McIntosh.
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