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Thalidomid oder die Schattenseite der Chiralität
ein Artikel von Pterry
Ich bin Biochemikerin und habe kein eigenes Blog. Dafür mache ich jedes Jahr aus Spaß an der Freude hier beim Schreibwettbewerb mit. Ansonsten twittere ich unter moepern oder podcaste im Zellkultur-Podcast.
Diesmal schreibe ich über einen der größten Medikamentenskandale, den es jemals gab und dessen Folgen wir heute immer noch sehen können.
Ende der 50er bzw Anfang der 60er Jahre kam ein neues Medikament auf den Markt, das vielen Menschen mit Schlafstörungen Abhilfe versprach und unter dem Namen Contergan oder Softenon verkauft wurde. Zugrunde lag diesem Medikament das sogenannte Thalidomid (chemisch: α-Phthalimidoglutarimid).
Auch wenn dieser Artikel gerade noch in der Einleitung ist, muss ich an diesem Punkt eine Abschweifung zum Thema Arzneimittelzulassung einschieben. Für lange Zeit war die Medikamentenherstellung im wesentlichen unreguliert. Wenn Pflanzen, Pilzen oder ähnliches verabreicht wurden, schwankten die Wirkstoffkonzentrationen stark und wenn Zusätze, welche die Applikation der Wirkstoffe erleichtern sollten, verwendet wurden, gab es keine Tests auf etwaige Neben- oder Wechselwirkungen. Alle einschneidenden Ereignisse zur Änderung dieser Praktiken fanden im zwischen 1937 und 1972 statt und eines davon war der Contergan-Skandal. Sie führten dazu, dass es nun einen Zulassungsprozess gibt, bei dem sowohl Wirkstoffe als auch Zusätze getestet werden um ihre Sicherheit bzw Unbedenklichkeit zu gewährleisten. 1961, zum Zeitpunkt des Contergan-Skandals gab es zwar gerade die Erstversion des deutschen Arzneimittelgesetzes (AMG), allerdings sah dieses lediglich eine Registrierung von Arzneimitteln vor. Eine Prüfung zur Sicherheit und Wirksamkeit war darin noch nicht vorgesehen. Da Contergan schon seit 1957 [1] in Deutschland erhältlich war, hatten da bereits etliche Schwangere auf Empfehlung ihres Arztes nichtsahnend dieses Beruhigungsmittel genommen, da es auch gegen die Morgenübelkeit half. Das hatte zur Folge, dass bis zu zehntausend Neugeborene mit schweren Fehlbildungen zur Welt kamen.
Doch was bedeutet Chiralität und was hat sie damit zu tun? Chiralität wird mit Händigkeit übersetzt, [2] weil Hände wie ein Spiegelbild funktionieren. Man kann eine Hand nicht so drehen, dass sie genau über der anderen liegt. Genauso sind chirale Moleküle spiegelbildliche Ausgaben derselben Struktur. Sie unterscheiden sich darin, dass sogenannte funktionelle Gruppen des Moleküls in der räumlichen Anordnung spiegelbildlich verteilt sind. Dadurch wird die Ebene des linear polarisierten Lichts gedreht, entweder nach rechts oder links. Rechts- und linksdrehend ist den meisten, die schon mal im Supermarkt vor einem Joghurtregal standen wahrscheinlich ein Begriff. Da wird von rechts- und linksdrehenden Kulturen gesprochen, aber eigentlich ist damit gemeint, dass die zur Herstellung verwendeten Lactobacillen D(rechtsdrehende)- oder L(linksdrehende)-Milchsäure produzieren. Eine zeitlang wurde die D-Milchsäure als gesundheitsfördernd propagiert, doch diese Zuschreibung lässt sich angesichts der wissenschaftlichen Daten nicht halten. Tatsächlich ist es allerdings so, dass die Zucker, die in unserem Körper vorkommen alle die D-Konfiguration aufweisen, während es bei den Aminosäuren, aus denen unsere Proteine aufgebaut sind, immer die L-Konfiguration ist. Dementsprechend erkennen unsere Enzyme auch immer nur die eine Variante. Einige Organismen haben sich das zu Nutze gemacht und produzieren z.B. Antibiotika mit D-Aminosäuren, die dann nicht abgebaut und somit unschädlich gemacht werden können.
Normalerweise unterscheiden sich die beiden Varianten im Prinzip nur in der optischen Aktivität. Beim Thalidomid kommt jedoch hinzu, dass die jeweiligen Varianten unterschiedliche Wirkungen haben, nämlich die eine als Schlaf- und Beruhigungsmittel fungieren kann, während die andere Fehlbildungen bei Embryonen oder Feten hervorruft. Dabei hat der Zeitpunkt der Einnahme während der Schwangerschaft oder genauer der Entwicklungsstand des Embryos oder Fetus entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung der Fehlbildungen, so dass man hier auch ein wenig die Embryonalentwicklung des Menschen nachgezeichnet sieht. Viele der Geschädigten hatten fehlgebildete oder komplett fehlende Gliedmaßen. Auch dass nicht alle Organe vorhanden waren, konnte vorkommen. Wieviele Fehlgeburten es aufgrund nicht lebensfähiger Embryonen gab, lässt sich wohl heutzutage nicht mehr abschätzen. Mittlerweile ist der Wirkmechanismus von Thalidomid aufgeklärt, und zwar verursacht es den Abbau von Steuerproteinen im Zellstoffwechsel. Dadurch kann das ursprüngliche Programm nicht abgespult werden kann, was massive Folgen nach sich zieht.
Natürlich versuchten einige der damaligen Contergan-Geschädigten zu klagen, aber der Firma Grünenthal, die Hersteller des Mittels, konnte kein wissentliches Fehlverhalten nachgewiesen werden, wodurch das Gerichtsverfahren auf einen Vergleich hinauslief (hier mehr Informationen). Ein Vorwurf blieb allerdings: die abwartende Haltung und der Weitervertrieb von Contergan, nachdem schon einige wissenschaftliche Publikationen zu dessen fruchtschädigender Wirkung veröffentlicht worden waren. Erst etwa 50 Jahre später gelangen die Anfänge eines Dialogs.
Mit der Entdeckung weiterer Wirkungen von Thalidomid wurde das zunächst vom Markt genommene Medikament wieder eingesetzt. Zuerst wurde festgestellt, dass es bei fortgeschrittener Lepra eine Rückbildung der Geschwüre verursacht. Außerdem wird es mittlerweile als Anti-Krebsmittel und bei Entzündungskrankheiten verabreicht. Das hatte trotz entsprechender Kennzeichnung eine zweite Welle an fehlgebildeten Neugeborenen zur Folge. Mangels Alternativen wird es trotzdem weiterverwendet.
Abschließend ist zu sagen, dass sich mittlerweile die Praxis der Arzneimitteltestung stark geändert hat und zugelassene Arzneimittlel ständiger Beobachtung unterliegen. Das macht einen ähnlichen Medikamentenskandal wie bei Contergan wohl heutzutage nicht mehr möglich oder jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.
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