Der April ist fast vorbei, morgen ist ein Feiertag und wenn das Wetter passt ein idealer Zeitpunkt um sich mit einem Buch in die Sonne zu setzen. Was man da lesen könnte (und was nicht) möchte ich wie üblich in meiner monatlichen Buchbesprechung empfehlen. Ich habe viel gelesen; zwei Bücher will ich gerne etwas ausführlicher vorstelle. Ein leider sehr schlechtes Buch über Astronomie und ein sehr gutes über Anthropologie und die Bibel!
Flirten mit den Sternen
“Flirten mit den Sternen”, also eine “Annäherung” an das Universum ist das Thema des neuen Buchs von Werner Gruber. Thematisch bietet es einen klassischen Überblick über die Grundlagen der Astronomie. Es beginnt mit dem, was man am Himmel sehen kann: Sterne, Planeten, Kometen, Asteroiden, den Mond und die Galaxien. Dann wird die Auswahl ein wenig planloser: Es geht um Dämmerungszeiten, um die Frage warum der Himmel blau ist, die Nacht dunkel und der Mond rot werden kann. Danach folgen Erklärungen zu den astronomischen Grundlagen von Ostern und Weihnachten. Die allgemeine Relativitätstheorie taucht kurz auf; die Frage nach der Existenz von Aliens wird erläutert und dann folgt ein langer Teil in dem erklärt wird, wie man mit einer Sternenkarte Objekte am Himmel finden kann. Am Ende werden sehr kurz vier noch ungelöste Probleme der Astronomie vorgestellt (dunkle Materie, dunkle Energie, Ursache des Urknalls, Halbwertszeit von Neutronen) und ebenso kurz eine ziemlich zufällig erscheinende Auswahl an Fragen beantwortet. Die Themen wirken ein wenig durcheinander gewürfelt, sind aber prinzipiell durchaus geeignet die Grundlage für ein spannendes Buch über Astronomie zu bilden.
“Flirten mit den Sternen” ist kein spannendes Buch über die Astronomie. Es ist ein schlechtes und ärgerliches Buch über Astronomie. Ich war ziemlich enttäuscht, als ich es zu Ende gelesen hatte. Der Verlag in dem es erschienen ist war auch der Verlag in dem ich mein erstes Buch (“Krawumm – Ein Plädoyer für den Weltuntergang”) veröffentlicht habe. Und der Autor ist nicht nur der Direktor des Wiener Planetariums, also jemand dessen Beruf es ist der Öffentlichkeit die Astronomie zu erklären, sondern jemand mit dem ich früher auch einmal bei der Wissenschaftskommunikation zusammengearbeitet habe. Um so mehr war ich schockiert über die enorm geringe Qualität des Buches. Es ist schlecht geschrieben, schlecht lektoriert und steckt voller fachlicher Fehler.
Zum Beispiel beim aktuellen Thema der schwarzen Löcher. Dafür, dass das erste Bild eines schwarzen Lochs erst nach der Fertigstellung des Buches veröffentlicht worden ist, kann der Autor nichts. Aber dass dieses Bild Ende 2018/Anfang 2019 veröffentlich werden wird, ist schon lange bekannt. Wenn Gruber also schreibt, dass bis zum direkten Nachweis eines schwarzen Lochs “noch einiges” fehlt, zeugt das nicht gerade von einer guten Übersicht über die aktuellen Entwicklungen in der Astronomie. Ebenso die Aussage, dass bis jetzt noch nie jemand ein Objekt als schwarzes Loch identifizieren konnte oder dass es bis jetzt noch nicht möglich gewesen wäre, durch Beobachtung schwarze Löcher von Neutronensternen zu unterscheiden. Dass es in den Zentren großer Galaxien schwarze Löcher gibt, ist schon seit Jahrzehnten klar (siehe zum Beispiel hier für eine der Möglichkeiten mit denen so etwas nachgewiesen worden ist). Der direkte Nachweis von Gravitationswellen im Jahr 2017 war ebenfalls ein Beleg für die Existenz schwarzer Löcher; ebenso wie jede Menge andere Beobachtungen im Laufe der letzten Jahre. Das erste Bild eines schwarzen Lochs war revolutionär weil es das erste BILD war und nicht, weil es die Existenz schwarzer Löcher beweist. Das war schon lange vorher klar. Schwarze Löcher sind auch nicht wirklich “punktförmig”, wie Gruber zweimal im Buch schreibt. Dass ist nur eine Konsequenz der Theorien die wir zur Beschreibung schwarzer Löcher verwenden, von denen wir aber wissen, dass sie hier nicht funktionieren.
Fehler findet man fast überall im Buch. Castor ist nicht das Sternensystem mit den meisten Sternen. Das steht zwar so in der deutschsprachigen Wikipedia, ist aber trotzdem falsch. Nu Scorpii besteht ebenso wie AR Cassiopeia aus 7 Sternen, Castor nur aus 6. Die Erde besteht nicht aus einer einer fünf Kilometer dicken Gesteinskruste unterhalb der alles geschmolzen ist. Es wurden nicht “Uranus, Neptun und auch Pluto” aufgrund von Abweichungen bei der Beobachtungen von Planetenbahnen entdeckt; das stimmt nur für Neptun und mit etwas gutem Willen vielleicht auch bei Pluto (obwohl das dort eher Zufall war, weil sich die angenommene Abweichung später als nichtexistent heraus gestellt hat). Asteroiden müssen nicht kleiner als 100 Kilometer sein. ALLE dauerhaft an die Sonne gebundenen Himmelskörper bewegen sich auf elliptischen Bahnen; dass das auch die Asteroiden des Kuipergürtels tun war also kein “Problem”, wie Gruber behauptet und hat nichts mit der Frage nach der Definition von Planeten zu tun. Das Problem bei der Beschreibung der Bewegung von Merkur durch die Newtonsche Gravitation war nicht die Existenz der sogenannten Periheldrehung – die findet man bei den Bahnen aller Himmelskörper – sondern ihr Ausmaß, das in der Form nicht erklärt werden konnte. Bei Planet 9 kann es sich nicht “nur um einen Asteroiden” handeln. Nicht “die meisten” sondern ALLE Himmelskörper drehen sich um ihre Achse (anders ist es physikalisch gar nicht möglich”. Der Begriff “Milchstraße” geht nicht auf Galileo Galilei zurück, der hat sie nur als erster mit dem Teleskop beobachtet. Infrarotastronomie kann auch mit Teleskopen vom Erdboden aus betrieben werden. Die Frage ob Neutrinos eine Masse haben oder nicht ist schon längst beantwortet (zu diesem Thema gab es 2015 den Nobelpreis für Physik); nur der Wert der Masse ist unbekannt. Die Quarks in den Neutronen sind keine “anderen” als in den Protonen; es sind die gleichen Quarkarten, nur in jeweils unterschiedlicher Anzahl. Die kosmologische Hintergrundstrahlung hat 380.000 Jahre nach dem Urknall nicht deswegen begonnen sich auszubreiten, weil der “Abstand zwischen den Atomen” groß genug geworden ist, sondern weil das Licht nicht mehr an freien Elektronen gestreut wurde. Die Jahreszeiten der Erde entstehen nicht nur durch den unterschiedlichen Einfallswinkel des Sonnenlichts im Laufe eines Jahres sondern auch weil die Sonne zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr unterschiedlich lange am Himmel steht. Planeten können auch in Doppelsternen problemlos existieren. Die Drake-Gleichung trifft keine exakten Aussagen über die Anzahl von Alien-Zivilisationen. Sternnamen wie “Alpha Centauri” etc gehen nicht auf die “alten Griechen” zurück sondern auf Johann Bayer aus dem 17. Jahrhundert. Der “Frühlingspunkt” ist nicht der “Zeitpunkt” an dem der Frühling beginnt. Man kann bei NASA, ESA, ESO und Co nicht einfach per Email und gegen Geld astronomische Beobachtungen ordern. Und so weiter… das waren bei weitem nicht alle fachlichen Fehler die im Buch zu finden sind und es ist unverständlich, wie es zu dieser großen Menge an fehlerhaften Aussagen kommen kann.
Ein fachliches Lektorat hätte mit Sicherheit geholfen. Aber auch da mangelt es am Buch an allen Ecken. Es klingt oft so, als wäre es diktiert und abgetippt worden; zumindest ist es sprachlich an manchen Stellen sehr wirr. Zum Beispiel steht da über die Andromedagalaxie: “Sie ist etwas kleiner als unsere Galaxie (nach neueren Daten bedeutend größer – mal sehen, wer von den Astronomen recht hat).” Was jetzt? Entweder es gibt neuere Daten, die besser sind als die alten oder nicht. Oder wenn es wirklich unklar ist, kann man das entsprechend formulieren (und sollte erklären, warum es unklar ist). Aber solche sich selbst widersprechende Aussagen finden sich immer wieder. Etwa über Apps zum Auffinden von Sternen: “Das ganze funktioniert nicht schlecht, aber manchmal ist es nur so lala.” Oder wenn es um die Beobachtung mit dem Teleskop geht: “Eines würde ich Ihnen dabei empfehlen: Sie könnten sich natürlich auch im Internet schon vorher schlaumachen, was Sie beim Blick durch das Teleskop erwartet. Bitte tun sie es nicht.” Solche sprachlichen Ungenauigkeiten müsste ein Lektorat eigentlich bemerken und korrigieren. Ebenso wirre Erklärungen wie die zur Auswirkung fehlender Schalttage auf den Kalender: “Damit wechseln die Jahreszeiten: Der Frühling ist schon im Winter, der neue Sommer ist im Frühling und so weiter.” oder zur Entstehung des Schweifs eines Kometen: “Der Sonnenwind – die Teilchen, welche die Sonne abgibt – prallt auf den Kometen und schlägt einzelne Atome heraus. Diese legen sich dann in den Schatten des Kometen.” Wenn man weiß, was gemeint ist, kann man das halbwegs entschlüsseln. Aber die Zielgruppe des Buches sind ja gerade Menschen, die NICHT wissen, worum es geht!
Und selbst wenn das Lektorat von Leuten durchgeführt wird, die keine Ahnung von Astronomie haben, muss einem mindestens bei solchen Sätzen etwas auffallen: “Als das Universum geschaffen wurde, gab es sehr viel Wasserstoff (75 Prozent Helium, etwas Lithium und ganz wenig Beryllium).”. Dass auf Seite 152 ein kompletter Absatz an einer völlig falschen Stelle steht und im letzten Teil des Buches die Inhalte angekündigt werden die schon im ersten Teil zu lesen waren (offensichtlich hat man irgendwann die Reihenfolge umgedreht ohne den Text zu ändern), passt da ins Bild.
Diese dramatisch hohe Fehlerquote macht das Buch als populärwissenschaftliche Informationsquelle eigentlich komplett unbrauchbar. Aber man hat während der Lektüre eigentlich sowieso ständig das Gefühl, dass der Autor keine große Lust hat, der Leserschaft etwas zu erklären. Mehrmals kann man “Das würde den Rahmen des Buches sprengen” o.ä. lesen, wenn auf weiterführende Erklärungen verzichtet wird und man kommt nicht umhin sich zu wünschen, dass der Rahmen des Buches, das mit 200 Seiten sowieso nicht sehr umfangreich ist, zumindest ein kleines bisschen gesprengt worden wäre. Denn ein Satz wie dieser hier hat in einem populärwissenschaftlichen Buch definitiv nichts zu suchen:
“Wenn Sie das gerade Gelesene nicht verstanden haben: kein Problem. Betrachten Sie es einfach als Tatsache.”
So etwas ist eigentliche eine Bankrotterklärung als Autor populärwissenschaftlicher Bücher! Wenn die Leser das Gelesene nicht verstehen, hat man als Autor seinen Job schlecht gemacht. Dann zu sagen “Glaubs halt einfach!” ist so ziemlich das Schlimmste, das man schreiben kann und es hat mit Wissensvermittlung nicht das geringste zu tun. In dem Fall geht es darum, dass Atome aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestehen. Klar, es ist kompliziert wenn man erklären will wie beim Urknall aus der freigewordenen Energie die Elementarteilchen entstehen; wie daraus die Atombausteine entstehen und so weiter. Da muss man sich mit Quantenfeldern beschäftigen und Teilchenphysik. Aber man kann es erklären, wenn man will. Halt nur nicht in ein paar kurzen Sätzen. Und wenn man keine Lust hat, das zu erklären, dann soll man es bleiben lassen und die Dinge so erklären, dass man dem Leser nicht jede Menge offene Fragen übrig lässt die dann nur mit “Glaubs mir halt!” kommentiert werde können.
Leider kommt genau das immer wieder im Buch vor: “Ein freies Neutron […] zerfällt nach rund 15 Minuten in ein Proton und ein Elektron. Warum? Ist so: Naturgesetz!”
“Ist so” auf die Frage nach dem “Warum” zu geben ist normalerweise der schnellste Weg den Menschen das Interesse an der Wissenschaft auszutreiben. So etwas in ein Buch zu schreiben, das von Menschen gelesen wird, die interessiert sind das Universum zu verstehen macht mich ziemlich ärgerlich. Ja, Quantenmechanik, radioaktiven Zerfall, etc so zu erklären dass es allgemeinverständlich ist, ist nicht einfach. Aber entweder man probiert es vernünftig zu tun. Dann muss man halt ein Buch schreiben, dass länger ist als 200 Seiten und sich zuvor entsprechend informieren (Übrigens: Entgegen dem was Gruber andeutet gibt es sowohl populärwissenschaftliche Bücher die sich mit der Frage beschäftigen, was vor dem Urknall war – jede Menge sogar – als auch jede Menge Bücher die einem erklären, wie man am Himmel Sterne und Sternbilder finden kann. Die findet man in jeder halbwegs brauchbaren Buchhandlung bzw. überall sonst wo es Bücher gibt (siehe weiter unten). Oder man lässt es bleiben und beschränkt sich auf die Themen, die man erklären kann.
Am meisten habe ich mich über das geärgert, was gleich zu Beginn des Buches zu lesen ist. Werner Gruber beschreibt seinen Arbeitsalltag als Direktor des Wiener Planetariums. Er schreibt von der großen Zahl von Emails die er jeden Tag bekommt und der vielen Zeit, die er für ihre Beantwortung benötigen würde. Und erklärt, dass man ihm zwar Emails schreiben könne, er sie aber sowieso nicht lesen würde (“Wenn Sie möchten: werner.gruber@vhs.at. Viel Spaß, die E-Mail wird nicht gelesen […]”). Man könne ihn aber telefonisch erreichen…
Da fehlen mir echt die Worte. Wenn Werner Gruber – wie er schreibt – tatsächlich jeden Tag 300 E-Mails bekommt, dann ist es eigentlich unverantwortlich damit auf diese Weise umzugehen. 300 E-Mails, also 300 astronomische Fragen/Kommentare aus der Bevölkerung und das pro Tag: Das wäre eine enorme Menge an Interesse an der Wissenschaft! Und dieses Interesse mit “Viel Spaß, die E-Mail wird nicht gelesen” zu kommentieren und dann zu ignorieren ist eigentlich ungeheuerlich für jemanden, dessen Job die Vermittlung von Wissenschaft an die Öffentlichkeit ist!
Es ist schade, dass “Flirten mit den Sternen” ein so schlechtes Buch geworden ist. Die Astronomie ist ein Thema, das so viele Menschen interessiert und mit dem man so viel Gutes für die Wissenschaftskommunikation erreichen kann. Es ist schade, dass jemand der sich so lange mit der Wissensvermittlung beschäftigt hat wie Werner Gruber so ein schlechtes Buch verfasst hat. Es ist vor allem schade für all die vielen Menschen die daran interessiert sind etwas über den Kosmos zu lernen. Das Universum ist so groß und vielfältig; es gibt so viele spannende und schöne Geschichten zu erzählen. Die Astronomie ist viel zu faszinierend um auf diese Weise dargestellt zu werden. Wer so mit den Sternen flirtet wie der Autor in diesem Buch, hat es verdient, von ihnen einen Korb zu bekommen.
Alternativen gibt es glücklicherweise genug. Wer sich am Sternenhimmel auskennen möchte, der ist mit Klassikern wie dem “Kosmos Himmelsjahr”, “Sterne finden ganz einfach” oder den Büchern “Welches Sternbild ist das?” bzw. “Welcher Stern ist das?” gut beraten (vom letzten Buch wird im Juni 2019 auch eine Neuauflage erscheinen). Grundlegende und wirklich gut verständliche Bücher über das Universum, Relativitätstheorie, Quantenmechanik etc sind zum Beispiel “Das All und das Nichts: Von der Schönheit des Universums” von Stefan Klein, “Sieben kurze Lektionen über Physik” von Carlo Rovelli, “Das Universum und ich” von Sybille Anderl, die Bücher von Stephen Hawking und die vielen anderen Bücher die ich im Laufe der Jahre besprochen und empfohlen habe..
Das Tagebuch der Menschheit
Sehr viel erfreulicher war die Lektüre von
“Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät” von Carel van Schaik und Kai Michel. Wer sich an meine sehr ausführliche Besprechung des Buches zur Himmelsscheibe von Nebra erinnert, wird auch an Kai Michel erinnern. Schon vor der Arbeit an der Himmelsscheibe hat er mit einem anderen Wissenschaftler zusammen gearbeitet und ein ebenfalls extrem lebenswertes Buch geschrieben. Damals war sein Kollege der Evolutionsbiologe und Anthropologe Carel van Schaik und das Thema die Bibel.
Über die Bibel sind im Laufe der Zeit ja mehr als ausreichend viele Bücher geschrieben worden. Aber kein Buch, dass so lesenswert ist wie das “Tagebuch der Menschheit”. Michel und van Schaik sind nicht an einer theologischen oder religiösen Deutung interessiert, auch nicht an einer historischen oder archäologischen Interpretation; zumindest nicht vorrangig. Die beiden Autoren haben sich eine simpel erscheinende Frage gestellt: Warum steht das in der Bibel, was dort steht? Ignoriert man die ganzen religiösen Implikationen und den theologischen Anspruch, dass dort das Wort Gottes verkündet wird, dann hat man ein Buch vor sich, in dem jede Menge Geschichten stehen. Es muss einen Grund haben, warum sich in der Bibel genau die Erzählungen finden, die man dort lesen kann und diese Gründe haben van Schaik und Michel gesucht.
Ihrer Ansicht nach ist die Bibel ein “Tagebuch” der Menschheit, ein Resultat der kulturellen Evolution unserer Spezies. Die Geschichten dort sind die, die sich die Menschen ausgedacht und erzählt haben, um mit den Umwälzungen auf dem Weg zum modernen Menschen klar zu kommen. Die Bibel beziehungsweise die Religion ist für sie das Resultat von “mismatch”-Problemen. Also dem, was passiert, wenn wir unserer “ersten Natur” zuwieder handeln müssen. Mit der “ersten Natur” meinen die Autoren das, was uns natürlich und intuitiv erscheint; was wir im Laufe der Evolution zutiefst verinnerlicht haben. Die “zweite Natur” ist das, was wir erst lernen müssen, die gesellschaftlichen Konventionen und Bräuche. Und die “dritte Natur” ist das, was einer rationalen Betrachtung und Analyse der Welt entspringt. Das Beispiel im Buch ist recht eingängig: Wer sich verliebt, hört auf die erste Natur. Ist man verliebt, dann ist der Wunsch, dem Partner treu zu sein bzw einen treuen Partner zu haben ein Resultat der zweiten Natur. Und die dritte Natur ist die, die uns dazu bringt uns Gedanken darüber zu machen, was so eine Beziehung alles mit sich bringen könnte (Kosten für einen Scheidungsanwalt, Alimente, Hypotheken für eine gemeinsame Wohnung, und so weiter). Die dritte Natur steht hier der ersten Natur entgegen und das kommt immer wieder vor. Genau das sind die “mismatch”-Phänomene um die es im Buch geht.
Als Jäger und Sammler war Eigentum etwas, das kaum eine Rolle gespielt hatte. Alles gehörte der (Klein)Gruppe und niemand kam auf die Idee, etwas – wie die Früchte eines Baums – für sich selbst zu beanspruchen und als Eigentum zu bezeichnen. Als die Menschen dann aber vor 12.000 Jahren seßhaft wurde, hat sich das geändert. Wenn die Menschen nicht mehr herumziehen, sondern alle am gleichen Ort bleiben und ihre Nahrung dort landwirtschaftlich anbauen anstatt sie zu sammeln, dauert es nicht lange bis die ersten Zäune und Mauern auftauchen. Auf einmal leben die Menschen in einer Welt, die ihrer ersten Natur widerspricht. Das Resultat: Geschichten wie die Genesis in der Bibel, in der erzählt wird, welche dramatischen Folgen ein Diebstahl (der Früchte vom Baum der Erkenntnis) haben kann und jede Menge Regeln. Regeln gibt es in der Bibel jede Menge und Michel und van Schaik bezeichnen sie als “kulturelles Schutzsystem”, vor allem gegen Krankheiten und Katastrophen. Mit der Seßhaftwerdung der Menschen kamen auch Krankheiten und Seuchen (durch das enge Zusammenleben mit den Tieren). Ausgeklügelte Hygenie-Vorschriften waren die Folge, all die Geschichten darüber wer wann wie und wie lange Kontakt mit Aussätzigen haben darf, und so weiter. Gleiches gilt für die Entwicklung von Clan-Gesellschaften mit Patriarchen die mehrere Frauen haben hin zu monogamen Beziehungen. Es braucht Regelungen wer mit wem verheiratet werden kann, wer erbt, und so weiter. Und es entstanden jede Menge Geschichten über Familienstreitigkeiten (Jakob und Esau, Josef und seine Brüder, Abraham und seine Frauen und Kinder, usw).
Und dann waren da die Katastrophen. Als die Menschheit noch vorrangig an Ahnen und Geister glaubte, war die Welt simpel. Gute Dinge waren guten Geistern zuzuschreiben, die bösen Dinge stammen von bösen Geistern. Mit entsprechenden Ritualen kann man sich schützen bzw. das gute einfordern. Aber wenn da auf einmal nur noch ein einziger Gott ist, wird es schwierig. Dann muss auch die Katastrophe von ihm stammen und es braucht einen Grund, warum das so ist. Deswegen ist der Gott des alten Testaments auch so ein brutaler Gott und deswegen gibt es so viele Regeln. Wenn eine Regel gebrochen wird, dann straft Gott und er straft gnadenlos. Nicht nur die, die gefehlt haben, sondern auch deren Volk, Familie und Nachkommen. Und deswegen kann es auch Leute treffen, die – laut Bibel – absolut sündenfrei waren. Deswegen kann eine Katastrophe ein ganzes Volk treffen; es reicht wenn ein schwarzes Schaf dabei ist. Genau diese Geschichten findet man in der Bibel.
Michel und van Schaik gehen die Bibel Buch für Buch durch (nicht komplett, aber die wesentlichen Teile) und finden darin die fundamentalen Schritte der Menschheit auf dem Weg in die Moderne. Die Probleme, die uns heute betreffen waren auch damals schon relevant und sie haben sich in den Geschichten der Bibel niedergeschlagen. Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Krieg, Katastrophen: All das hat die Leute auch damals beschäftigt und die Texte der Bibel zeigen, wie sie damit umgegangen sind.
Ich kann das Buch nur ausdrücklich empfehlen. Es ist eine faszinierende Lektüre. Und es ist auch völlig egal, ob man gläubig ist oder nicht. Den Christinnen und den Christen sei das Buch empfohlen, weil es einen äußerst interessanten Einblick in die Lebenswelt der Menschen bietet, die den Text geschaffen haben aus dem heute eine der mächtigsten Religionen erwachsen ist. Und die Atheistinnen und Atheisten sollen das Buch erst recht lesen! In der religionskritischen Szene ist es ja üblich, die Bibel als Buch zu lesen, dass voll mit widersprüchlichen und lächerlichen Geschichten ist; voll mit Erzählungen eines absurd grausamen Gottes, der wahllos Menschen und Völker abschlachtet. Darauf hinzuweisen ist legitim, aber wer dort stehen bleibt übersieht, dass all diese Grausamkeiten und Widersprüche einen ganz konkreten Sinn erfüllt haben und nicht ohne Grund in der Bibel auftauchen. Sie beschreiben die Schwierigkeiten, die die Menschheit hatte, das zu werden was sie heute ist und demonstrieren die Lösungsstrategien die man mangels Wissenschaft entwickeln musste.
Apropos Wissenschaft: Besonders spannend fand ich die Erklärung, wie gerade die Wissenschaft den “lieben Gott” des modernen Christentums hervor gerufen hat. “Jahwe”, der Gott des alten Testaments war kein “lieber Gott”. Er war – ursprünglich – ein Kriegs- und Wettergott; der Staatsgott der israelischen Königreiche. Von ihm kamen die Katastrophen als Strafe; er schickte Seuchen, Erdbeben und Hungersnöte. Aber je mehr dieser Phänomene als natürlich erkannt wurden und je mehr man erkannte, dass die Einhaltung der Regeln keine Auswirkung auf die Häufigkeit der Katastrophen hatte, desto geringer wurde der Einflussbereich von Jahwe. Er musste sich zu einem persönlichen Gott wandeln, dem “himmlischen Vater”, eben dem “lieben Gott”, den wir heute kennen.
Das “Tagebuch der Menschheit” ist genau das: Ein Protokoll dessen, was unsere Spezies in den letzten Jahrtausenden durchmachen musste, erzählt anhand der bekannten Geschichten der Bibel. Ein wirklich großartiges Buch! Lest es!
Was ich sonst noch gelesen habe
Neben dem Astronomie-Flop und dem Anthropologie-Hit habe ich noch einige andere Bücher gelesen. In diesem Fall allesamt sehr (bzw. bedingt) zu empfehlen:
- “Auswandertag” und “Landuntergang” von Klaus Oppitz: Österreich, in naher Zukunft. Der Bundeskanzler ist von der extrem rechten Partei, das Land ist aus der EU ausgetreten, der Euro wurde abgeschafft und das Land liegt wirtschaftlich Boden. Wer nicht der Parteilinie folgt kriegt Probleme und wer ins Ausland will, ebenso. Trotzdem entscheidet sich eine Familie dazu, auszuwandern. Ihr Ziel ist die Türkei, die nach dem Sturz von Erdogan und dem EU-Beitritt zum wirtschaftlich stärksten Land der Union geworden ist. Die Österreicher müssen dabei all das erdulden, was in der Realität diejenigen erdulden müssen, die heute nach Österreich oder Deutschland flüchten. Die Satire funktioniert natürlich durch die Umkehrung der Verhältnisse und ist durchaus lustig, auch wenn man sich ab und zu wünscht, dass sie ein bisschen origineller gewesen wäre. Das ist sie dann aber im zweiten Teil – dort erfährt man, was in Österreich unter der Herrschaft der Rechten wirklich passiert… Die Bücher bewegen sich gerade an der spannenden Grenze zwischen “Das kann doch niemals passieren” und “Wenn das hier bei uns alles so weiter geht wie jetzt, dann…”. Lesenswert.
- “Das Leben ist eins der Härtesten” von Giulia Becker: Dieses Buch habe ich sehr gerne gelesen. Es lässt sich schwer beschreiben wovon der Roman handelt. Der Titel trifft es eigentlich ganz gut: Die Protagonisten haben allesamt ein Leben, das man nur als hart bezeichnen kann. Sie sind zum Teil selbstverschuldet dort gelandet, zum Teil hatten sie einfach nur Pech. Sie sind gerade noch nicht so unsympathisch, das man kein Mitleid mehr mit ihnen hat und die Geschichten sind gerade noch nicht so skurill, dass sie unglaubhaft wirken würden (wie es zB oft in ähnlichen Romanen wie etwa denen von Heinz Strunk der Fall ist). Ich hab das Buch in einem Zug durchgelesen und kann allen nur raten, das ebenfalls zu tun.
- “An absolutely remarkable thing” (auf deutsch:
- “Ein wirklich erstaunliches Ding”) von Hank Green: Das war vermutlich eines der originellsten Science-Fiction-Bücher die ich 2019 gelesen habe. Ein Roboter taucht auf, mitten in New York. Zuerst halten es alle für ein Kunstprojekt, dann passieren aber schnell seltsame Dinge. Und es ist klar: Das Ding kommt nicht von der Erde. Die junge Frau, die das Ding als erste entdeckt wird über Nacht zur medialen Expertin, obwohl sie eigentlich auch keine Ahnung hat, was da abgeht. Eine weltweite Schnitzeljagd beginnt, um das Geheimnis des Roboters zu entschlüsseln… Das besondere an diese Buch ist nicht nur die originelle Idee, sondern auch die sehr realistische Inklusion der medialen Prozesse. Zur Abwechslung wird das “Alien-Invasion”-Thema einmal nicht aus Sicht von Politik, Wissenschaft, Geheimndienst und Militär erzählt, sondern aus Sicht der sozialen Medien und der “normalen” Menschen.
- “Wildlife Gardening: Die Kunst, im eigenen Garten die Welt zu retten” (im Original: “The Garden Jungle: or Gardening to Save the Planet”) von Dave Goulson: Wie großartige die Bücher von Goulson sind, habe ich ja früher schon erzählt. Sein aktuelles Buch ist ganz besonders hervorragend. Es geht um das, was man mit seinem Garten anstellen kann, um die Welt zu retten. Natürlich lassen sich nicht ALLE Probleme mit ein bisschen Gartenarbeit lösen. Aber man könnte schon einiges erreichne, wenn man nur wollte. Und wer das nicht glaubt, der soll Goulsons Buch lesen. Anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit sehr viel praktischer Erfahrung im Garten zeigt Goulson, was alles möglich wäre. Ich habe enorm viel gelernt: Zum Beispiel wie schädlich der Besuch im Gartenmarkt sein kann und welche negativen Auswirkungen die Verwendung von torfhaltiger Erde auf das Klima hat. Wie kurzsichtig es ist, bei der Debatte um Herbizide wie Glyphosat nur zu erklären, dass es für Menschen eh nicht schädlich ist (wie das von “Skeptiker”-Seite oft geschieht) sondern das man immer die gesamte Ökologie im Blick behalten muss: Der Einsatz von Pestiziden führt dazu, dass am Ende immer mehr Pestizide verwendet werden müssen, weil all die natürlichen Schädlingsbekämpfer ebenfalls ausgerottet werden müssen. Und am meisten überrascht war ich, welche Mengen an Lebensmitteln in simplen Schrebergärten erzeugt werden können bzw. könnten (mehr als in der monokulturellen Landwirtschaft). Neben der Weltrettung gibt es in Goulsons Buch noch viel ganz konkrete Tipps für den eigenen Garten und egal ob man einen hat oder nicht: Nach der Lektüre ist der Drang, den Spaten in den Boden zu stoßen und ein wenig umzugraben kaum mehr zu ignorieren. Lest das Buch!
- “Rocket Billionaires: Elon Musk, Jeff Bezos, and the New Space Race” von Tim Fernholz: Ein interessantes Buch, wenn auch ein wenig trocken. Es geht um die Leute, die derzeit probieren das zu erreichen, was die staatlichen Raumfahrtagenturen nicht erreichen können. Man kriegt einen guten Überblick, wie und warum Elon Musk & Co in den Weltraum wollen und was sie dabei anders machen als die klassischen Weltraumagenturen. Zum Glück fehlt die Heldenverehrung; es ist ein durchaus objektiver Überblick, der – wie schon gesagt – gerne ein klein wenig packender geschrieben sein hätte können.
- “Space Oddities: Our Strange Attempts to Explain the Universe” von S.D. Tucker: Über dieses Buch habe ich mich anfangs wirklich sehr gefreut. Tucker beschreibt darin all den Quatsch, den wir im Laufe der Zeit über den Weltraum geglaubt haben – ohne jedesmal zu realisieren dass es Quatsch ist. Das Buch ist voll mit absurden und skurillen Geschichten, aber je weiter man in der chronologischen Darstellung von der Antike in die Gegenwart kommt, desto mehr dominiert ein Thema: UFOs! Und so interessant es anfangs noch ist, all die seltsamen Erzählingen von UFO-Freaks zu lesen, irgendwann wird es öde. UFO-Bücher gibt es nun wirklich genug. Als Quellensammlung ist Tuckers Buch hier zwar durchaus brauchbar; als spannende Lektüre ist es dann allerdings nur dann geeignet, wenn man wirklich sehr auf UFOs steht.
- “Regiomontanus. Wegbereiter des neuen Weltbildes” von Rudolf Mett: Das Buch möchte ich nur denjenigen empfehlen, die ein intensives Interesse an Wissenschaftsgeschichte haben. Es geht um Regiomontanus, einen deutschen Astronom des 15. Jahrhunderts. Wir neigen ja dazu, bei der Geschichte der Astronomie zuerst auf die griechische Antike zu blicken, die quasi nahtlos in die wissenschaftliche Rennaissance der Neuzeit übergeht. Dazwischen schauen wir vielleicht noch kurz auf das goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaft, aber im Europa des Mittelalters stellen wir uns nur von der Kirche verordneten Stillstand vor, der erst von Kopernikus, Galilei, Kepler & Co durchbrochen wurde. Aber natürlich hat auch deren Arbeit eine Grundlage und die stammt unter anderem von Regiomontanus. Gemeinsam mit Johannes von Gmunden und Georg von Peuerbach gehört er zur “Wiener astronomischen Schule” die im Spätmittelalter die Forschung anstieß, die später den vorhin erwähnten und wesentlich berühmteren Wissenschaftlern ihre Revolutionen ermöglichte. Vor allem die genauen Beobachtungen und Berechnungen von Regiomontanus und seine Skepsis was das “Wissen der Alten” anging, waren hier relevant. Es ist schade, dass es von ihm (und seinen Kollegen) keine brauchbaren und gut lesbaren populärwissenschaftliche Biografien gibt. So muss man mit diesem Werk vorlieb nehmen, das zwar sehr informativ ist, aber halt auch so trocken geschrieben ist, wie das geschichtswissenschaftliche Fachbücher nunmal sind (außerdem ist es leider nur mehr sehr teuer erhältlich).
Das war’s für den April und es war eigentlich ziemlich viel! Ich war selbst überrascht, was sich da am Ende des Monats wieder angesammelt hat. Der Mai wird mit Sicherheit wieder jede Menge Bücher mit sich bringen und ich bin schon gespannt, was ich euch in einem Monat erzählen und empfehlen kann. Bis dann!
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