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Sternengeschichten Folge 395: Stellarstatistik, Eichfelder und die Polsequenz
Gut, der Titel der heutigen Folge klingt nicht sehr aufregend. Stellarstatisik klingt vor allem nach Statistik, unter einem “Eichfeld” kann man sich vermutlich gar nichts vorstellen und höchstens die Polsequenz klingt einigermaßen ungewöhnlich um ein bisschen Interesse hervorrufen zu können. Aber wenn das alles langweilig wäre, würde ich ja nichts darüber erzählen! Und es ist selbstverständlich auch nicht langweilig. Wir beschäftigen uns heute mit dem Fundament der Astronomie und wie spannend das sein kann, habe ich ja schon in Folge 370 erklärt, als es um Sternkataloge ging. Die spielen auch jetzt wieder eine wichtige Rolle, da sie die Grundlage der Stellarstatistik sind.
Und die Stellarstatistik ist nichts anderes als der Teil der Astronomie in dem man sich mit den Sternen, ihrer Bewegung und ihrer Verteilung im Raum beschäftigt. Also mit der Frage: Wo überall sind die Sterne, welche Eigenschaften haben sie und was treiben sie dort, wo sie sind? Das klingt erstmal nach einer simplen Sache: Wenn man die Antwort haben will, dann schaut man halt einfach hin und fertig. Sterne beobachten ist ja der Job der Astronomie. Das ist auch so – aber das Problem ist, dass es sehr, sehr, sehr viele Sterne gibt. Und man schlicht und einfach nicht alle davon beobachten kann und schon gar nicht so genau, um ihre Eigenschaften im Detail zu bestimmen.
Ich erkläre das vielleicht an einem einfachen Beispiel: Welche Form hat die Milchstraße? Also die Galaxie voller Sterne zu der auch die Sonne gehört. Sollte eigentlich leicht zu bestimmen sein, immerhin ist es ja unsere Galaxie und wir sind mitten drin. Wir müssen nur die Position all ihrer Sterne bestimmen, den Abstand zur Erde und das alles in eine dreidimensionale Karte eintragen: Und fertig ist unsere Karte der Milchstraße auf der wir ihre Form betrachten können.
Wie gesagt: Klingt einfach. Die Milchstraße besteht aber aus circa hundert Milliarden Sternen! Die beste und umfassendeste Vermessung der Sterne der Milchstraße hat man mit den Daten des GAIA-Weltraumteleskops gemacht und 2018 veröffentlicht. Dafür hat man 1,7 Milliarden Sterne vermessen, was enorm viele Sterne sind. Aber immer noch wenig mehr als 1 Prozent aller Sterne die da sind. Was macht man also, wenn man nicht alle Sterne beobachten kann? Genau: Stellarstatistik!
Der erste, der das in einer Form getan hat die dem heutigen Forschungsgebiet nahe kommt, war William Herschel. Den kennt man als den Entdecker des Planeten Uranus, er hat aber noch viel mehr getan als das. Als er im 18. Jahrhundert den Himmel beobachtet hat, war Herschel eigentlich nicht darauf aus einen neuen Planeten zu entdecken. Er wollte genau die Frage beantworten die ich vorhin gestellt habe, also die Form der Milchstraße bestimmen. Ihm war klar, dass er nicht alle Sterne beobachten konnte. Also hat er sich kleine Regionen des Himmels vorgenommen, immerhin mehr als 3000, gleichmäßig verteilt. In diesen Regionen hat er dann alle Sterne gezählt die er in seinem Teleskop sehen konnte. Außerdem hat er ihren Abstand bestimmt, oder zumindest probiert ihn zu schätzen. Exakte Messungen von Distanzen im All waren damals noch nicht möglich. Aber Herschel ging einfach mal davon aus, dass alle Sterne ungefähr gleich viel Energie ins All abgeben. Was nicht der Fall ist und ihm vermutlich durchaus klar war. Aber zumindest als ganz simple Näherung kann man es ja mal annehmen. Wenn das nämlich so wäre, dann würde die Helligkeit mit der uns ein Stern am Himmel erscheint einzig von seinem Abstand abhängen. Ein schwach leuchtender Stern ist weiter weg als ein Stern den wir hell am Himmel sehen. Wie gesagt: Das ist falsch, weil Sterne eben nicht alle gleich viel Energie abgeben. Aber mehr als dieser simple statistische Ansatz war Herschel nicht möglich. Und auch wenn er falsch ist, ist er auch nicht völlig falsch: Die scheinbare Helligkeit eines Sterns sinkt ja definitiv mit seinem Abstand, auch wenn es kompliziert wird wenn man vorher nicht weiß, wie viel Energie er tatsächlich abgibt. Auf jeden Fall hat Herschel seine Beobachtungskampagne durchgezogen, zwischendurch bei all der Sternenvermessung einen neuen Planeten des Sonnensystems entdeckt und danach all seine Daten zusammengetragen. Das Ergebnis: Die Milchstraße hat die Form einer großen, flachen Linse.
Womit er nicht falsch lag – aber auch jede Menge Details verpasst hatte. Er wusste nicht, wie groß die Milchstraße wirklich ist; wo genau darin sich die Sonne befindet, und so weiter. Aber er hatte quasi das Prinzip der “Eichfelder” erfunden. Anstatt alle Sterne zu untersuchen, was nicht geht, untersucht man nur einen kleinen Teil. Den aber so genau und vollständig wie möglich. Und man schaut, dass die Auswahl möglichst repräsentativ ist. Die Stellarstatistik läuft im Prinzip so wie bei einer Meinungsumfrage vor einer Wahl. Da fragt man ja auch nicht alle Menschen, sondern nur eine repräsentative Stichprobe und rechnet davon dann auf das gesamte Ergebnis hoch. Und da Sterne erstens nicht lügen können und zweitens ein bisschen vorhersagbarer sind als Menschen hat die Astronomie bei ihrer Stellarstatistik auch wesentlich öfter recht als die Meinungsumfrageinstitute bei ihre Wahlprognosen.
Einer, der die Sache mit den Eichfeldern im großen Maßstab betrieben hat, war der niederländische Astronom Jacobus Kapteyn. Auch er wollte wissen, wie die Milchstraße aussieht und weil man das im Jahr 1906 immer noch nicht wusste, rief er den “Plan der ausgewählten Bereiche” ins Leben. Beziehungsweise hieß das bei ihm auf englisch der “plan of selected areas”. Diese Selected Areas waren 252 über den Himmel verteilte Eichfelder. 206 davon waren gleichmäßig über den gesamten Himmel verteilt und 1,25 mal 1,25 Grad groß. Anders gesagt: Um eines dieser Felder zu überdecken hätte man circa vier Vollmondscheiben in einem Quadrat anordnen müssen. Die restlichen 46 Felder waren dort verteilt, wo man das Band der Milchstraße am Himmel sehen kann. Heute nennen wir diese Bereiche am Himmel die “Kapteynschen Eichfelder” und es war nicht Jacobus Kapteyn alleine, der sie untersucht hat, sondern Sternwarten überall auf der Welt. Man zählte die Sterne in allen Feldern, maß ihre Helligkeit, ihre Bewegung und ihren Abstand, was im frühen 20. Jahrhundert schon deutlich exakter funktionierte als damals bei Herschel. Am Ende hatte man knapp eine Viertelmillion Sterne untersucht und Kapteyn lebte noch lange genug um die ersten Ergebnisse seines Programms zu sehen, die ein paar Wochen vor seinem Tod im Jahr 1922 veröffentlicht wurden. Die Milchstraße, so das Resultat, ist eine Scheibe mit einem Durchmesser von ungefähr 40.000 Lichtjahre und die Sonne befindet sich nur 2000 Lichtjahre vom Zentrum der Scheibe entfernt.
Das war falsch, was aber erst nach Kapteyns Tod entdeckt wurde. Der ganze Staub zwischen den Sternen verfälscht die Daten und macht das Licht der Sterne dunkler als es eigentlich ist. Als man das korrigiert hatte, wuchs die Milchstraße auf einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahre und die Sonne rückte auf eine Position die 30.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt ist. Was im großen und ganzen auch noch den heutigen Kenntnissen entspricht, auch wenn wir es mittlerweile natürlich viel genauer wissen.
Ein ganz berühmtes Eichfeld der Stellarstatistik ist – und jetzt kommt sie endlich – die Polsequenz. Dabei geht es nicht um die Bestimmung der Form der Milchstraße sondern um die Messung von Sternhelligkeiten. Die hat man vor allem früher aus dem Vergleich mit sogenannten Standardsternen bestimmt. Soll heißen: Man schaut sich einen Stern an und bestimmt, um wie viel heller oder dunkler er als ein ganz bestimmter anderer Stern leuchtet. Das macht man natürlich nicht nur mit Augenmaß sondern mit entsprechenden Messinstrumten – zumindest hat man das ab dem Zeitpunkt so gemacht als die ersten dieser Geräte erfunden wurden (im 19. Jahrhundert), davor musste man tatsächlich noch mit freiem Auge hinschauen.
Die Polsequenz, oder auch Internationale Polsequenz oder auch Nordpolarsequenz ist nun eine Gruppe 96 Sternen die man, dem Namen entsprechend, in der Umgebung des Himmelsnordpols finden kann. Das ist ein guter Platz für so ein spezielles Eichfeld. Denn der Himmelsnordpol ist genau dort am Himmel, wo die nördliche Verlängerung der Erdachse hinzeigen würde. Das heißt, wenn die Sterne sich im Laufe einer Nacht einmal um die Erde drehen, scheinbar natürlich nur weil sich ja in Wahrheit die Erde um ihre Achse dreht, dann tun sie das um den Himmelsnordpol. Die Sterne in seiner unmittelbaren Nähe verschwinden daher auch nie hinter dem Horizont und von der nördlichen Halbkugel aus kann man sie die ganze Nacht über sehen (auf der Südhalbkugel muss man das ganze mit Sternen in der Nähe des südlichen Himmelspols machen). Egal wann man also die Helligkeit eines Sterns messen will: Mit der Polarsequenz ist immer sicher gestellt, dass ein passender Vergleichsstern sichtbar ist.
Heutzutage hat man andere und exaktere Möglichkeit die Helligkeit eines Sterns zu bestimmen als durch den Vergleich mit anderen Sternen. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Polsequenz noch ein sehr wichtiges Eichfeld und heute wird es immer noch von den Hobby-Astronominnen und -Astronomen benutzt.
Statistik mag langweilig klingen und Sterne zu zählen nicht so aufregend wie die Suche nach fremden Planeten oder die Erforschung schwarzer Löcher. Aber wenn sich nicht irgendwer um den ganzen Kram mit Katalogen, Eichfeldern und Positionsmessungen kümmern würde, könnte der ganze Rest der Astronomie nicht stattfinden. Ohne die Stellarstatistik wüssten wir nicht, wie die Milchstraße aussieht, wir würden unseren Platz im Universum nicht kennen und hätten keine Ahnung, wie es da draußen wirklich aussieht. Wenn wir Daten über Planeten, Sterne, Galaxien und so weiter gewinnen wollen, brauchen wir ein solides Fundament auf dem das alles beruhen und aus dem wir die ganzen Resultate ableiten können. Genau das ist die Stellarstatistik. Nicht so spektakulär wie die Hochglanzastronomie aber trotzdem spannend und auf jeden Fall enorm wichtig!
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