Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
Mehr Informationen: [Podcast-Feed][iTunes][Bitlove][Facebook] [Twitter]
Wer den Podcast finanziell unterstützen möchte, kann das hier tun: Mit PayPal, Patreon oder Steady.
Über Bewertungen und Kommentare freue ich mich auf allen Kanälen.
————————————————–
Sternengeschichten Folge 503: Die Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842
Wenn sich der Mond vor die Sonne schiebt und den hellen Tag in plötzliche Dunkelheit taucht, ist das immer ein ganz besonderes Ereignis. Seit es Menschen gibt, werden sie solche Ereignisse mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet haben. Früher, als man noch nicht wusste, was da passiert und diese Finsternisse nicht vorhersagen konnte, natürlich ganz besonders. Aber auch später, als man schon verstanden hat, was da passiert und berechnen konnte, wann mit einer Finsternis zu rechnen ist, war es immer ein ganz besonderes Phänomen.
Jede Sonnenfinsternis ist besonders – aber heute soll es um eine ganz spezielle Finsternis gehen. Nämlich die vom 8. Juli 1842. Als erste Großstadt konnte Madrid früh am Morgen die komplette Verfinsterung der Sonne beobachten. Der Pfad der Totalität zog sich weiter nach Frankreich, wo man in Marseille ein paar Minuten später die dunkle Sonne sehen konnte. Drei Minuten nach Marseille war Venedig an der Reihe, nochmal vier Minuten später wurde es auch in Wien finster. Der Schatten des Mondes wanderte über Osteuropa nach Russland, wo man im Osten von Kasachstan mit einer Dauer von 4 Minuten und 5 Sekunden die längster Verfinsterung sehen konnte. Als letztes kamen die Menschen in China dazu, die Sonnenfinsternis zu beobachten und dann war das Ereignis wieder vorbei.
Eine Sonnenfinsternis an sich ist kein enorm seltenes Ereignis. Jedes Jahr finden mindestens zwei und maximal fünf Sonnenfinsternisse statt; im Durchschnitt sind es 2,4 Finsternisse. Aber das gilt für die Erde insgesamt und für jede Art von Finsternis. Also auch partielle Finsternisse, bei denen die Sonne nur zum Teil vom Mond bedeckt wird. Solche Ereignisse sind längst nicht so spektakulär; ohne optische Hilfmittel merkt man auch so gut wie gar nichts davon. Wenn man sich einen konkreten Ort auf der Erde aussucht und dort eine totale Sonnenfinsternis sehen will, dann muss man im Schnitt 375 Jahre warten, bis es so weit ist. Und wenn so eine Finsternis dann auch noch mitten über Europa stattfindet und jede Menge große Städte mit vielen Bewohnerinnen und Bewohnern das Ereignis sehen können, dann ist das definitiv außergewöhnlich. Genau das war 1842 der Fall.
Unzählige Menschen haben diese Finsternis beobachtet. Darunter waren natürlich auch jede Menge, die das aus wissenschaftlichen Gründen getan haben. Aber in Wien hat Adalbert Stifter die Finsternis beobachtet. Der kein Astronom war, sondern ein österreichischer Dichter und ganz besonders berühmt für seine Naturdarstellungen. Und wenn da schon so ein großer Schriftsteller diese Sonnenfinsternis beschrieben hat, dann werde ich gar nicht erst versuchen, dem etwas hinzuzufügen, sondern lese einfach das vor, was Stifter angesichts der sich verfinsternden Sonne zu Papier gebracht hat:
“Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien am 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wußte, um soundso viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg und die Erde schneide ein Stück seines kegelförmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, daß eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrigbleibt, und endlich auch die verschwindet – auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am andern Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zum vollen Tag anschwillt – dies alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis im voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen.
Aber, da sie nun wirklich eintraf, da ich auf einer Warte hoch über der ganzen Stadt stand und die Erscheinung mit eigenen Augen anblickte, da geschahen freilich ganz andere Dinge, an die ich weder wachend noch träumend gedacht hatte, an die keiner denkt, der das Wunder nicht gesehen.
Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten, es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden. Ich stieg von der Warte herab, wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte, verwirrten und betäubten Herzens.
Es war ein so einfach Ding. Ein Körper leuchtet einen andern an, und dieser wirft seinen Schatten auf einen dritten: aber die Körper stehen in solchen Abständen, daß wir in unserer Vorstellung kein Maß mehr dafür haben, sie sind so riesengroß, daß sie über alles, was wir groß heißen, hinausschwellen – ein solcher Komplex von Erscheinungen ist mit diesem einfachen Dinge verbunden, eine solche moralische Gewalt ist in diesen physischen Hergang gelegt, daß er sich unserem Herzen zum unbegreiflichen Wunder auftürmt.”
Stifter erzählt nun, wie er sich frühmorgens zu einem guten Beobachtungspunkt begeben hat, so wie viele anderen Menschen in Wien; sogar am Turm des Stephansdom standen sie und schauten zum Himmel. Und dann begann die Sonne sich zu verdunkeln.
“Endlich zur vorausgesagten Minute – gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel – empfing sie den sanften Todeskuß, ein feiner Streifen ihres Lichtes wich vor dem Hauche dieses Kusses zurück, der andere Rand wallte in dem Glase des Sternenrohres zart und golden fort – “es kommt”, riefen nun auch die, welche bloß mit dämpfenden Gläsern, aber sonst mit freien Augen hinaufschauten – “es kommt”, und mit Spannung blickte nun alles auf den Fortgang.
Die erste, seltsame, fremde Empfindung rieselte nun durch die Herzen, es war die, daß draußen in der Entfernung von Tausenden und Millionen Meilen, wohin nie ein Mensch gedrungen, an Körpern, deren Wesen nie ein Mensch erkannte, nun auf einmal etwas zur selben Sekunde geschehe, auf die es schon längst der Mensch auf Erden festgesetzt.”
“Indes nun alle schauten und man bald dieses, bald jenes Rohr rückte und stellte und sich auf dies und jenes aufmerksam machte, wuchs das unsichtbare Dunkel immer mehr und mehr in das schöne Licht der Sonne ein – alle harrten, die Spannung stieg; aber so gewaltig ist die Fülle dieses Lichtmeeres, das von dem Sonnenkörper niederregnet, daß man auf Erden keinen Mangel fühlte, die Wolken glänzten fort, das Band des Wassers schimmerte, die Vögel flogen und kreuzten lustig über den Dächern, die Stephanstürme warfen ruhig ihre Schatten gegen das funkelnde Dach, über die Brücke wimmelte das Fahren und Reiten wie sonst, sie ahneten nicht, daß indessen oben der Balsam des Lebens, Licht, heimlich versiege, dennoch draußen an dem Kahlengebirge und jenseits des Schlosses Belvedere war es schon, als schliche eine Finsternis oder vielmehr ein bleigraues Licht, wie ein wildes Tier heran – aber es konnte auch Täuschung sein, auf unserer Warte war es lieb und hell”
“Seltsam war es, daß dies unheimliche, klumpenhafte, tief schwarze, vorrückende Ding, das langsam die Sonne wegfraß, unser Mond sein sollte, der schöne sanfte Mond, der sonst die Nächte so florig silbern beglänzte; aber doch war er es, und im Sternenrohr erschienen auch seine Ränder mit Zacken und Wulsten besetzt, den furchtbaren Bergen, die sich auf dem uns so freundlich lächelnden Runde türmen.”
“Endlich wurden auch auf Erden die Wirkungen sichtbar und immer mehr, je schmäler die am Himmel glühende Sichel wurde; der Fluß schimmerte nicht mehr, sondern war ein taftgraues Band, matte Schatten lagen umher, die Schwalben wurden unruhig, der schöne sanfte Glanz des Himmels erlosch, als liefe er von einem Hauche matt an, ein kühles Lüftchen hob sich und stieß gegen uns, über die Auen starrte ein unbeschreiblich seltsames, aber bleischweres Licht, über den Wäldern war mit dem Lichterspiele die Beweglichkeit verschwunden, und Ruhe lag auf ihnen, aber nicht die des Schlummers, sondern die der Ohnmacht – und immer fahler goß sich’s über die Landschaft, und diese wurde immer starrer – die Schatten unserer Gestalten legten sich leer und inhaltslos gegen das Gemäuer, die Gesichter wurden aschgrau – – erschütternd war dieses allmähliche Sterben mitten in der noch vor wenigen Minuten herrschenden Frische des Morgens.”
“Wir hatten uns das Eindämmern wie etwa ein Abendwerden vorgestellt, nur ohne Abendröte; wie geisterhaft ein Abendwerden ohne Abendröte sei, hatten wir uns nicht vorgestellt, aber auch außerdem war dies Dämmern ein ganz anderes, es war ein lastend unheimliches Entfremden unserer Natur; gegen Südost lag eine fremde, gelbrote Finsternis, und die Berge und selbst das Belvedere wurden von ihr eingetrunken – die Stadt sank zu unsern Füßen immer tiefer, wie ein wesenloses Schattenspiel hinab, das Fahren und Gehen und Reiten über die Brücke geschah, als sähe man es in einem schwarzen Spiegel – die Spannung stieg aufs höchste – einen Blick tat ich noch in das Sternrohr, er war der letzte; so schmal wie mit der Schneide eines Federmessers in das Dunkel geritzt, stand nur mehr die glühende Sichel da, jeden Augenblick zum Erlöschen, und wie ich das freie Auge hob, sah ich auch, daß bereits alle andern die Sonnengläser weggetan und bloßen Auges hinaufschauten – sie hatten auch keines mehr nötig; denn nicht anders als wie der letzte Funke eines erlöschenden Dochtes schmolz eben auch der letzte Sonnenfunken weg, wahrscheinlich durch die Schlucht zwischen zwei Mondbergen zurück – es war ein überaus trauriger Augenblick – deckend stand nun Scheibe auf Scheibe – und dieser Moment war es eigentlich, der wahrhaft herzzermalmend wirkte – das hatte keiner geahnet – ein einstimmiges “Ah” aus aller Munde, und dann Totenstille, es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten.”
“Der Mond stand mitten in der Sonne, aber nicht mehr als schwarze Scheibe, sondern gleichsam halb transparent wie mit einem leichten Stahlschimmer überlaufen, rings um ihn kein Sonnenrand, sondern ein wundervoller, schöner Kreis von Schimmer, bläulich, rötlich, in Strahlen auseinanderbrechend, nicht anders, als gösse die obenstehende Sonne ihre Lichtflut auf die Mondeskugel nieder, daß es rings auseinanderspritzte – das Holdeste, was ich je an Lichtwirkung sah! ”
“Nie, nie werde ich jene zwei Minuten vergessen – es war die Ohnmacht eines Riesenkörpers, unserer Erde.”
“Auch wurde die Wirkung auf alle Menschenherzen sichtbar. Nach dem ersten Verstummen des Schrecks geschahen unartikulierte Laute der Bewunderung und des Staunens: der eine hob die Hände empor, der andere rang sie leise vor Bewegung, andere ergriffen sich bei denselben und drückten sich – eine Frau begann heftig zu weinen, eine andere in dem Hause neben uns fiel in Ohnmacht, und ein Mann, ein ernster fester Mann, hat mir später gesagt, daß ihm die Tränen herabgeronnen.”
“Ich habe immer die alten Beschreibungen von Sonnenfinsternissen für übertrieben gehalten, so wie vielleicht in späterer Zeit diese für übertrieben wird gehalten werden; aber alle, so wie diese, sind weit hinter der Wahrheit zurück.”
“Ihr aber, die es im höchsten Maße nachempfunden, habet Nachsicht mit diesen armen Worten, die es nachzumalen versuchten, und so weit zurückgeblieben. Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen; ich glaube, da könnte ich es besser.”
Stifter hat noch viel mehr geschrieben; das hier war nur ein kurzer Auszug aus seinem Aufsatz und ich kann allen nur empfehlen, ihn komplett zu lesen.
Und so wie Stifter am Ende seines Textes um Nachsicht gebeten hat, bitte auch ich um Nachsicht, weil ich ausnahmsweise mal jemand anderes fast den kompletten Text einer Folge der Sternengeschichten schreiben habe lassen. Aber angesichts der Worte von Stifter wäre es vermessen, diese Beschreibung besser machen zu wollen als er sie gemacht hat. Und ich überlasse Stifter auch das Schlusswort. Er bezieht sich dabei auf den möglichen Vorwurf, dass das ja nur ein natürliches Phänomen ist, das man auch ganz leicht berechnen kann. Und antwortet, dass die “wunderbare Magie des Schönen” nichts mit Rechnungen zu tun hat: “Sie ist da, weil sie da ist, ja sie ist trotz der Rechnungen da, und selig das Herz, welches sie empfinden kann; denn nur dies ist Reichtum, und einen andern gibt es nicht – schon in dem ungeheuern Raume des Himmels wohnt das Erhabene, das unsere Seele überwältigt, und doch ist dieser Raum in der Mathematik sonst nichts als groß.”
Kommentare (4)