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Das sagt die Autorin des Artikels, Esther über sich:
Ich bin Esther und studiere Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Kriminalität und Kriminalitätskontrolle“.
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Auf der Suche nach dem geborenen Verbrecher
Warum werden Menschen zu Verbrechern? Unterscheiden sich Kriminelle von Natur aus von Nicht-Kriminellen? Und kann man Kriminelle womöglich an ihrem Äußeren erkennen?
Einer der Ersten, der sich mit diesen Fragen beschäftigte, war der italienische Mediziner Cesare Lombroso. Beeinflusst durch Darwins Evolutionstheorie, stellte er im Jahr 1876 die Theorie auf, dass Kriminelle auf einer früheren, primitiveren Entwicklungsstufe stehen geblieben seien. Ob jemand zum Verbrecher werde oder nicht, sei durch seine genetischen Anlagen festgelegt. Der Kriminelle könne sich also nicht für oder gegen die Begehung einer Straftat entscheiden, sondern werde aus biologischen Gründen zu kriminellem Verhalten bestimmt.
Lombroso glaubte überdies, dass sich die kriminelle Natur des Verbrechers in seinem Äußeren wiederspiegele. Er führte Untersuchungen an zahlreichen Strafgefangenen durch und gelangte zu der Überzeugung, dass sich Kriminelle von Nicht-Kriminellen durch physische Merkmale wie eine flache Stirn, ein fliehendes Kinn, schielende oder blutunterlaufene Augen, eine auffällige Nasenform oder ungewöhnlich große oder kleine Ohren unterschieden. Allerdings machte Lombroso bei seinen Studien einen entscheidenden Fehler: Er verwendete keine Kontrollgruppe. Seine Untersuchungen beschränkten sich auf Strafgefangene, sodass er nicht wissen konnte, wie häufig die von ihm entdeckten Merkmale in der Normalbevölkerung auftraten.
Der englische Psychiater Charles Buckman Goring (1870-1919) machte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts daran, Lombrosos Theorie unter Verwendung einer Kontrollgruppe zu überprüfen. Über einen Zeitraum von 12 Jahren hinweg untersuchte er 3.000 verurteilte Straftäter und verglich sie mit 1.000 Studenten der Universitäten Cambridge und Oxford sowie mit Soldaten der britischen Armee. Bis auf eine leicht geringere Körpergröße und ein geringeres Gewicht der Strafgefangenen konnte er jedoch keine signifikanten körperlichen Unterschiede feststellen.
Zwillings- und Adoptionsstudien
Lobrosos Lehre vom Verbrecher, dem man seine kriminelle Natur ansieht, war damit zwar widerlegt. Der Gedanke, dass Verbrechen angeboren und vererblich sein könnte, war aber keineswegs aus der Welt geschafft. Insbesondere von Zwillings- und Adoptionsstudien wurden sich diesbezüglich Erkenntnisse erhofft.
Die Zwillingsforschung vergleicht eineiige und zweieiige Zwillinge miteinander. Ausgangspunkt ist folgender Gedanke: Wenn Verbrechen tatsächlich biologisch bedingt ist, müssten sich eineiige Zwillinge auf Grund ihres identischen Erbgutes hinsichtlich ihrer kriminellen Verhaltensweisen mehr ähneln als zweieiige Zwillinge, die nur 50% ihrer genetischen Ausstattung teilen.
Zwillingsstudien wurden bereits seit Ende der 1920er Jahre durchgeführt. Und tatsächlich verzeichneten sie eine weit höhere Übereinstimmung straffälligen Verhaltens (man spricht hier von einer höheren Konkordanzrate) bei eineiigen Zwillingen als bei zweieiigen Zwillingen. Anders ausgedrückt ist danach eine Person, deren eineiiger Zwilling kriminell ist, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ebenfalls kriminell, als dies bei zweieiigen Zwillingen zu erwarten ist.
Die Aussagekraft dieser Studien ist jedoch begrenzt. Zum einen war die Anzahl der Versuchsteilnehmer, da es naturgemäß nicht allzu viele kriminelle Zwillinge gibt, bei den einzelnen Studien durchweg eher klein. Zum anderen muss die höhere Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen nicht unbedingt auf deren Veranlagung zurückzuführen sein: Eineiige Zwillinge werden wegen ihrer Ähnlichkeit von ihrem sozialen Umfeld häufig in stärkerem Ausmaß gleich behandelt als zweieiige Zwillinge. Beispielsweise finden es Eltern oft lustig, den identisch aussehenden Nachwuchs auch gleich zu kleiden. Daher lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die höhere Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen nun auf der gleichen Veranlagung oder den gleichen Umwelteinflüssen beruht. Die Enge der zwischenmenschlichen Beziehung könnte ebenfalls eine Rolle spielen, da sich eineiige Zwillinge oft besonders nahe stehen und mehr Zeit miteinander verbringen als zweieiige Zwillinge.
Besser geeignet zur Überprüfung der These, dass Verbrechen anlagebedingt ist, sind Adoptionsstudien. Hinter diesen steckt die Idee, dass Adoptivkinder, was ihr straffälliges Verhalten betrifft, ihren leiblichen Eltern mehr ähneln als ihren Adoptiveltern, sofern tatsächlich eine biologische Ursache für Kriminalität besteht. Da die Adoptivkinder getrennt von ihren leiblichen Eltern aufwachsen, lassen sich biologische und äußere Einflüsse besser trennen als bei Zwillingsstudien.
In einer sehr umfassenden Adoptionsstudie aus Dänemark wurden über 6 000 Adoptivsöhne mit ihren Adoptiveltern und leiblichen Eltern verglichen. Das Ergebnis zeigt folgende Tabelle:
Die Adoptivkinder, deren leibliche Eltern kriminell waren, begingen also in höherem Maße Straftaten als die Adoptivkinder nicht-krimineller (leiblicher) Eltern. Waren nur die Adoptiveltern kriminell, wirkte sich das hingegen kaum auf die Delinquenz der Adoptivsöhne aus. Die höchste Kriminalitätsbelastung zeigten diejenigen Adoptivkinder, bei denen sowohl die biologischen als auch die Adoptiveltern kriminell waren. Dies legt nahe, dass die biologische Komponente im Zusammenhang mit Kriminalität in der Tat eine Rolle spielt. Zugleich macht die Adoptionsforschung aber deutlich, dass Verbrechen nicht in dem Sinne angeboren ist, wie Lombroso und seine Anhänger sich das vorgestellt haben. Ein Fünftel der Adoptivkinder delinquenter leiblicher Eltern wurde zwar ebenfalls kriminell, die weit überwiegende Mehrheit wurde es jedoch nicht! Zudem zeigt sie, dass sich eine Kombination aus ungünstiger Veranlagung und Umwelteinflüssen am stärksten auf kriminelles Verhalten auswirkt.
Von Mörderchromosomen und Risikofaktoren
Unabhängig davon gab die Adoptionsforschung keinen Aufschluss darüber, welche biologischen Faktoren denn nun genau Kriminalität begründeten. Wodurch unterscheidet sich die genetische Ausstattung von Menschen, die Straftaten begehen, von solchen, die es nicht tun? Gibt es bestimmte Dispositionen, die zwangsläufig zu kriminellem Verhalten führen?
In den 60er Jahren nahm man an, dass Männer mit dem XYY-Syndrom, also solche, die ein zusätzliches Y-Chromosom besitzen, eine gesteigerte Aggressivität aufweisen und demzufolge verstärkt zu Gewalttaten neigen würden. Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte dabei der Fall um den US-amerikanischen, achtfachen Frauenmörder Robert F. Speck, der über das sog. „Mörderchromosom“ verfügen sollte. Die Diagnose stellte sich jedoch als falsch heraus. Und auch die These, dass ein überzähliges Y-Chromosom kriminaltätsfördernd wirke, ist inzwischen empirisch widerlegt.
Die Suche nach den biologischen Gründen für Kriminalität geht indessen weiter. Ein einzelnes Gen oder eine körperliche Anomalie, die den geborenen Verbrecher auszeichnet, wurde bislang aber nicht gefunden. Und wird es wohl auch nie werden. Kriminalität ist eben komplex, eine einfache Antwort auf die Frage nach der Ursache von Verbrechen gibt es nicht.
Im Laufe der letzten 150 Jahre wurden zahlreiche kriminologische Theorien entwickelt. Während Lombroso in Italien seine biologische Theorie aufstellte, machten in Frankreich der Mediziner Alexandre Lacassagne (1843-1924) und der Richter Gabriel de Tarde (1843-1904) das soziale Umfeld des Menschen für Verbrechen verantwortlich. Der deutsche Rechtswissenschaftler Franz von Liszt (1851-1919) versuchte die beiden gegensätzlichen kriminologischen Lehren in seiner Anlage-Umwelt-Formel zu vereinen: Kriminalität sei sowohl durch die angeborene Eigenart des Täters als auch durch gesellschaftliche Einflüsse bedingt.
Im 20. Jahrhundert entstanden weitere kriminologische Theorien. Keine hat dabei den Anspruch, alle Formen von Kriminalität zu erklären. Manche beschäftigen sich mit der Frage, warum in bestimmten Gesellschaften oder historischen Epochen vergleichsweise viele Normbrüche auftreten. Andere versuchen zu klären, warum der Einzelne kriminell wird, welche Rolle dabei Lernprozesse, die soziale Bindung an die Gesellschaft oder bestimmte Charaktereigenschaften wie Selbstkontrolle spielen, und wieder andere, warum Menschen, die Straftaten begangen haben, ihre kriminelle Laufbahn beenden.
Dass eine bestimmte genetische Veranlagung einen Menschen zwangsläufig zum Verbrecher macht, glaubt heute niemand mehr. Es gibt Faktoren, die Kriminalität wahrscheinlicher machen und die sowohl biologisch als auch durch Umwelteinflüsse bedingt sein können. Man nennt diese interne und externe Risikofaktoren. Interne Risikofaktoren können zum Beispiel neurologische Beeinträchtigungen und daraus folgende Lern- und Aufmerksamkeitsdefizite sein, zu externen Risikofaktoren zählen etwa familiäre Konflikte, fehlende Zuwendung, Misshandlung oder eine delinquente Peergroup. Diesen stehen jedoch auch interne und externe Schutzfaktoren gegenüber, die vorhandene Risikofaktoren ausgleichen können. Die aktuelle kriminologische Forschung versucht unter anderem herauszufinden, welche inneren und äußeren Risiko- und Schutzfaktoren es gibt und wie sie aufeinander wirken.
Demgegenüber ist Lombrosos biologische Theorie nicht nur überholt, sie hat heute auch einen sehr negativen Beigeschmack. Zu Recht, denn sie ermöglicht es, Menschen auf Grund ihrer Anlagen vorzuverurteilen und Straftäter aus der Gesellschaft auszugrenzen, anstatt ihnen die Chance auf Resozialisierung und Wiedergutmachung zu geben. So griffen die Nationalsozialisten im Dritten Reich auf Lombrosos Lehre zurück und missbrauchten sie als Rechtfertigung für die Durchführung von Zwangssterilisationen und die Verhängung von Sippenhaft.
Lombrosos Verdienst ist trotz allem darin zu sehen, dass er erstmals die wissenschaftliche Suche nach den Ursachen von Kriminalität in den Vordergrund rückte. Er stellte die kriminalpolitische Forderung, strafrechtliche Entscheidungen an empirischen Befunden auszurichten. Und letztendlich war es Lobrosos Ziel – wie das aller anderen auch, die sich intensiv mit den Ursachen von Verbrechen beschäftigten – Kriminalität zu verstehen und so einen Weg zu finden, sie zu verhindern.
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