Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video.
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Sternengeschichten Folge 260: Das Nizza-Modell
Die Astronomie ist eine Wissenschaft die einen ganz besonderen Blick auf die Vergangenheit wirft. Wortwörtlich, denn immerhin ist jeder Blick hinaus ins Weltall auch ein Blick zurück in die Zeit. Wir sehen das, was war als sich das Licht aus den Tiefen des Kosmos zu uns auf den Weg gemacht hat. Das ist eine einmalige Möglichkeit heraus zu finden wie alles entstanden ist. Wir können Galaxien beobachten die kurz nach dem Urknall entstanden sind und die letzten Spuren des allerersten Lichts im Universum.
Aber manchmal ist es auch schwierig beziehungsweise sogar unmöglich etwas konkretes über die Vergangenheit zu entdecken. Zum Beispiel wenn es um die Entstehung unseres Sonnensystems geht. Wir sehen die Sonne und die Planeten und all die anderen Himmelskörper des Systems so wie sie jetzt sind. Von den äußeren Regionen des Sonnensystems braucht das Licht zwar auch ein paar Stunden bis zu uns aber das hilft uns nicht großartig weiter wenn wir wissen wollen wie alles vor 4,5 Milliarden Jahren angefangen hat.
Wir haben in diesem Fall nur zwei Möglichkeiten. Wir können entweder andere Planetensysteme beobachten die weit entfernt und gerade in der Entstehung begriffen sind. Dort können wir beobachten wie Planeten entstehen. Allerdings sehen wir immer nur Schnappschüsse bestimmter Phasen; die komplette Entstehung eines Planetensystems dauert viele Millionen Jahre. Und wir sehen eben andere Systeme und nicht unser eigenes. Wir können nur spekulieren dass das was dort passiert im wesentlichen auch bei uns abgelaufen sein muss.
Die andere Möglichkeit besteht in Computersimulationen. Wir kennen die physikalischen Gesetze nach denen Materie miteinander wechselwirkt. Und wir haben eine ziemlich gute Vorstellung von dem was da war als es das Sonnensystem noch nicht gab. Da war nur eine große Wolke aus Gas und Staub die langsam kollabiert ist. Ein Stern entstand – das war das Thema der allerersten Folge der Sternengeschichten – und aus dem restlichen Material bildeten sich die Planeten. Im Prinzip können wir ein Computermodell erstellen in dem genau die gleichen Prozesse ablaufen wie sie auch in der Realität abgelaufen sind. Und wenn am Ende der Simulation das Sonnensystem im Computer genau so aussieht wie das das wir beobachten dann können wir mit einiger Berechtigung davon ausgehen dass das Modell uns das zeigt was damals wirklich passiert ist.
Natürlich ist die Praxis wesentlich komplizierter als die Theorie. Die Computer die wir haben sind nicht gut genug um die Entstehung eines kompletten Sonnensystems ausgehend von einer Wolke aus Gas und Staub über 4,5 Milliarden Jahre hinweg komplett zu simulieren. Aber wir haben zumindest interessante und wichtige Phasen in der Entwicklung unseres Sonnensystems im Modell nachgebaut. Eines davon ist das Nizza-Modell und es beschreibt quasi die wilde Jugend der Planeten.
Das Nizza-Modell wurde 1997 von vier Wissenschaftlern vorgestellt: Rodney Gomes aus Argentinien, Hal Levison aus den USA, Alessandro Morbidelli aus Italien und Kleomenis Tsiganis aus Griechenland. Gearbeitet haben sie am Observatoire de la Côte d’Azur bei Nizza in Frankreich und von dieser Stadt hat das Modell auch seinen Namen bekommen.
Das Modell der vier Wissenschaftler setzt nicht bei der eigentlichen Entstehung des Sonnensystems ein. Sondern ungefähr 500 Millionen Jahre später. Die Sonne ist schon entstanden, ebenso die Planeten. Das Gas und der Staub aus der ursprünglichen Scheibe hat sich verflüchtigt. Aber das Planetensystem sah damals trotzdem anders aus als heute. Das Nizza-Modell beginnt mit Planeten die sich auf nahezu perfekten Kreisbahnen befinden. Es geht außerdem davon aus dass sich die vier großen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun damals alle viel näher an der Sonne befunden haben als heute. Heute zieht Neptun mit dem 30fachen Abstand zwischen Erde und Sonne als fernster Planet seine Runden im äußeren Sonnensystem. Im Nizza-Modell drängen sich alle acht Planeten in knapp der Hälfte des Raums; die äußerste Umlaufbahn befindet sich im 17fachen Erdabstand von der Sonne.
Außerdem gibt es noch viel mehr Asteroiden als heute. Diese Brocken aus Eis und Gestein sind ja das was von der ganzen Planetenentstehung übrig geblieben ist, all die zusammengeklumpten Brocken aus dem Material der ursprünglichen Gas- und Staubscheibe. Im Laufe der Zeit hat die Zahl dieser Kleinkörper im Sonnensystem abgenommen – und wie das passiert ist wird unter anderem durch das Nizza-Modell erklärt. Damals jedenfalls reichte eine dichte Scheibe aus Kleinkörpern von der äußersten Umlaufbahn der Planeten bis hinaus zum 35fachen Abstand zwischen Erde und Sonne. Zusammen hatten all diese Asteroiden eine Masse die dem 35fachen der Erdmasse entspricht. Heute dagegen haben alle Asteroiden im Sonnensystem zusammen nur etwa die Achtfache Masse des Mondes.
All diese Annahmen sind natürlich nur Annahmen. Es muss nicht so gewesen sein – aber das was wir über die Entstehung von Planetensystemen wissen lässt diese Ausgangssituation zumindest plausibel erscheinen. Damals war es also anders als heute – zumindest im Nizza-Modell. Aber es zeigt uns wie aus diesem System das uns bekannte Planetensystem wurde. Dazu haben die Wissenschaftler jede Menge Simulationen am Computer laufen lassen um zu sehen was passiert.
Zuerst einmal nicht viel. Vereinzelt kommt es zu gravitativen Wechselwirkungen zwischen den vier äußeren Planeten und den Asteroiden. Die kleinen Asteroiden werden aus der Scheibe geworfen und das führt zu winzigen Änderungen in der Bahn der Planeten. Die Gravitation wirkt ja immer in beide Richtungen. Wären damals so wenig Asteroiden vorhanden wie heute dann wäre auch weiterhin nicht viel passiert. Aber es gab in dieser Frühzeit des Sonnensystems viel, viel mehr von ihnen und somit auch viel, viel mehr Interaktionen. Und Kleinvieh macht auch Mist – oder anders gesagt: Die vielen kleinen Änderungen in den Bahnen der Planeten haben dazu geführt dass die langsam ihre Umlaufbahnen vergrößert haben. Zumindest drei davon: Saturn, Uranus und Neptun. Jupiter dagegen verkleinerte seine Bahn ein wenig.
Das ging ein paar hundert Millionen Jahre so weiter. Die Planeten wanderten durchs Sonnensystem und schleuderten Asteroiden durch die Gegend. Aber dann passierte etwas interessantes. Der Abstand zwischen den Umlaufbahnen von Jupiter und Saturn hatte sich genau so verändert das ein Umlauf von Saturn doppelt so lange dauerte wie ein Umlauf von Jupiter um die Sonne. Es gab eine Resonanz (darüber habe ich in Folge 8 der Sternengeschichten schon genauer gesprochen). Die gravitativen Kräfte zwischen den beiden Planeten konnten sich aufschaukeln und das hatte Folgen. Die Bahnen der Planeten wurden immer elliptischer; sie wichen immer mehr von der Kreisform ab. Saturn, Uranus und Neptun hatten langgestrecktere Bahnen als vorher und konnten sich selbst und vor allem den Asteroiden in der Scheibe viel öfter viel näher kommen. Viel mehr Asteroiden als vorher wurden durch die Gegend geschleudert. In astronomisch kurzer Zeit hat sich die große Scheibe quasi aufgelöst; die Asteroiden sind entweder weit hinaus in die allerfernsten Regionen des Sonnensystems geworfen worden oder aber mit den Planeten kollidiert.
Hier bietet sich auch das erste Mal eine Möglichkeit das Nizza-Modell zu überprüfen. Wir sehen nämlich an den Kratern auf Erde, Mond und Mars dass es in der Frühzeit des Sonnensystems eine kurze Phase gegeben hat in der deutlich mehr Asteroideneinschläge stattgefunden haben als davor oder danach. Und zeitlich passt sie genau zu dem was das Nizza-Modell beschreibt. Aber das ist noch nicht alles.
Wie ich in Folge 31 erzählt habe, hat Jupiter sogenannte “Trojaner”-Asteroiden, also Asteroiden die sich mit ihm auf seiner Bahn in einer speziellen stabilen Konfiguration bewegen. Asteroiden die sich in solchen stabilen “Lagrange-Punkten” befinden bleiben auch dort. Während der Resonanz-Phase von Jupiter und Saturn waren die Regionen um die Langrange-Punkte allerdings dynamisch nicht so abgeschlossen wie heute. Sie waren quasi “offen”, d.h. es war möglich Asteroiden einzufangen. Genau das würde erklären warum Jupiter überhaupt so viele Trojaner hat wie wir heute beobachten.
Aus den Asteroiden die all das überlebt haben ist der Kuiper-Gürtel entstanden, der Asteroidengürtel den wir heute außerhalb der Neptunbahn finden können. Und auch hier passen die Ergebnisse des Nizza-Modells gut zur realen Verteilung der Asteroiden dort.
In all den chaotischen Vorgängen damals könnten auch einige der Monde der äußeren Planeten ihren Ursprung haben. Große Monde wie zum Beispiel Titan beim Saturn oder Europa bei Jupiter sind vermutlich gleichzeitig mit ihren Planeten und auf die gleiche Art entstanden. Aber die Dutzenden kleinen Monde der großen Planeten sind vermutlich eingefangen worden. Allerdings fängt sich ein Planet nicht so leicht einen Mond. Dass ein kleiner Asteroid genau in der richtigen Geschwindigkeit vorbei kommt um eingefangen zu werden ist so unwahrscheinlich das es eigentlich unmöglich ist. Er muss gebremst oder beschleunigt werden und da die Dinger keinen Raketenantrieb haben geht das nur wenn auch noch ein dritter Himmelskörper an der Wechselwirkung beteiligt ist. Nahe Begegnungen von drei Objekten sind heute selten, damals gab es sie aber oft genug um die Existenz der kleinen Monde der großen Planeten erklären zu können.
Das Nizza-Modell macht noch weitere interessante Vorhersagen. In ungefähr der Hälfte der Simulationen haben Uranus und Neptun die Plätze getauscht! Ursprünglich war Neptun näher an der Sonne und ist erst später an Uranus vorbei gezogen – zumindest im Computer. Ob es auch in der Realität so war lässt sich schwer definitiv herausfinden.
Das Nizza-Modell hat noch ein paar andere Schwächen. Zum Beispiel beschäftigt es sich gar nicht mit den vier inneren Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars. Ob die sich nach all dem Durcheinander am Ende auch noch dort befinden wo sie heute sind weiß das Nizza-Modell nicht. Es ist auch ein wenig überraschend dass keiner der Planeten ganz aus dem Sonnensystem geflogen ist. So etwas kommt bei solchen Wechselwirkungen normalerweise öfter vor. Und tatsächlich zeigen Erweiterungen des Modells dass alles viel besser funktioniert und passt wenn man am Anfang einen fünften großen Gasplaneten hinzufügt der im Laufe der Entwicklung aus dem System geschleudert wird.
Die Vergangenheit unseres Sonnensystems bleibt weiterhin geheimnisvoll. Aber dank des Nizza-Modells wissen wir dass es sich lohnt, sie auch weiterhin zu erforschen. Selbst wenn das nur im Computer stattfindet.
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