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Sternengeschichten Folge 289: Neutrinos
In der Astronomie beschäftigt man sich meistens mit sehr großen Dingen. Mit Planeten, Sternen, Galaxien oder gleich dem Universum in seiner Gesamtheit. Aber man kann all diese Objekte nur dann vernünftigt verstehen, wenn man sich auch mit den allerkleinsten Dingen im Kosmos beschäftigt. Wer wissen will, wie ein Stern funktioniert, muss wissen, wie sich Atome verhalten und nicht einmal das reicht. Man muss auch Ahnung von den allerkleinsten Dingen haben, den Elementarteilchen, aus denen die gesamte Materie aufgebaut ist. Dazu gehören auch die Neutrinos und sie spielen in der Astronomie eine besondere Rolle.
Neutrinos gehören zum Standardmodell der Teilchenphysik, das ich in Folge 46 der Sternengeschichten genauer besprochen habe. Zusammen mit Elektronen und Quarks sind die Neutrinos die grundlegenden Bausteine, aus denen all die Materie aufgebaut ist, die wir kennen. Auf die Idee, dass es so etwas wie Neutrinos geben könnte, kam man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals wusste man schon einigermaßen gut über Atome und deren Aufbau Bescheid und auch über die Radioaktivität. Also die Tatsache, dass bestimmte Atomkerne instabil sind und im Lauf der zerfallen und sich so in andere Atomkerne umwandeln. Eigentlich sollte bei solchen Zerfallsprozessen die Energie erhalten bleiben. Die Energie bzw. die Masse des Atomkerns vor dem Zerfall muss gleich groß sein wie Energie und Masse all der Objekte zusammengenommen, in die der Atomkern zerfällt. Bei bestimmten Zerfallsarten beobachtete man das aber nicht. Da war nach dem Zerfall weniger Energie vorhanden als vorher.
Zumindest schien weniger Energie vorhanden zu sein. Vielleicht, so dachte sich damals der deutsche Physiker Wolfgang Pauli, sehen wir aber gar nicht alles, was beim Zerfall passiert. Atomkerne und Elementarteilchen sind nicht leicht nachzuweisen; dazu braucht es spezielle Methoden. Und vielleicht entstehen beim Zerfall auch Teilchen, die man mit den verwendeten Methoden nicht nachweisen kann. Dann ist es kein Wunder, wenn wir nach dem Zerfall weniger Energie messen als vorher. Pauli schlug also in einem Brief an den italienischen Physiker Enrico Fermi im Dezember 1930 vor, dass es da vielleicht ein noch unentdecktes Teilchen geben könnte. Fermi nannte es “Neutrino”, also italienisch für “kleines Neutron”. Neutronen kannte man damals schon. Zusammen mit dem elektrisch positiv geladenen Proton bildete das elektrisch neutrale Neutron die Komponenten aus denen ein Atomkern besteht. Mit den damaligen Methoden zum Nachweis solcher Teilchen, konnte man elektrisch geladene Teilchen sehr gut entdecken. Das noch unentdeckte Teilchen das Pauli vorschlug, musste also auch elektrisch neutral sein, sonst hätte man es schon gefunden. Und es musste eine sehr geringe Masse haben. Es war also tatsächlich ein “kleines Neutron”; ein “Neutrino”.
Nach Wolfgang Paulis Idee dauerte es dann auch noch mehr als zwei Jahrzehnte, bevor man im Jahr 1956 die Existenz des Neutrinos experimentell nachweisen konnte. In den nächsten Jahren entdeckte man, dass nicht nur eine Neutrino-Art gibt, sondern drei. Damit folgen die Neutrinos dem Muster, dass sich auch bei den anderen Elementarteilchen zeigt. Es gibt drei Arten von Quarks, es gibt drei Arten von Leptonen und zu jedem Lepton ein passendes Neutrino. Das Wort “Lepton” hört man außerhalb der Teilchenphysik selten. Zu den Leptonen gehört das Elektron, also das negativ geladene Teilchen, das in den Atomen die Hülle um den Atomkern bildet. Viel anschaulicher sind Elektronen auch die Teilchen, die alltäglichere Phänomene wie den elektrischen Strom verursachen. Aber das Elektron hat auch noch zwei “Geschwister”: Teilchen, die sich wie Elektronen verhalten, aber eine viel größere Masse haben. Die nennt man “Myon” und “Tauon” und beide sind nicht stabil sondern existieren nach ihrer Entstehung nur für ein paar Sekundenbruchteile. Zum Aufbau der Materie tragen Myon und Tauon wegen ihrer Instabilität nicht bei; die normale Materie besteht nur aus Atomkernen und Elektronen. Aber Myonen und Tauonen können bei diversen nuklearen Reaktionen entstehen. Wenn zum Beispiel kosmische Strahlung aus dem All auf die äußere Erdatmosphäre und die Atome der Luft trifft, können dort Reaktionen ablaufen, bei denen Myonen erzeugt werden.
Bei nuklearen Reaktionen entstehen aber auch Neutrinos. Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tauon-Neutrinos. Man könnte nun auf die Idee kommen, dass diese drei Neutrino-Arten sich ebenso in ihrer Masse unterscheiden wie das Elektron, Myon oder Tauon tun. Also das Tauon-Neutrinos schwerer sind als Myon-Neutrinos und Elektron-Neutrinos. Vielleicht ist das auch so. Aber die Masse der Neutrinos ist eine der großen ungelösten Fragen in der Physik. In der Theorie des Standardmodells haben die Neutrinos schlicht und einfach keine Masse. Die konkreten Messungen die bisher durchgeführt worden sind, zeigen, dass die Masse der Neutrinos extrem gering sein muss; so klein, dass wir sie mit den bisherigen Methoden nicht messen können. Aber trotzdem wissen wir, dass die Neutrinos eine Masse haben müssen. Diese Erkenntnis gehört zu den großen Entdeckungen der Naturwissenschaft und zeigt außerdem, warum Neutrinos in der Astronomie so wichtig sind.
Alles fängt mit der Sonne an. Warum leuchtet die Sonne? Dazu gab es im Laufe der Geschichte jede Menge Theorien und davon erzähle ich vielleicht mal in einer anderen Folge der Sternengeschichten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wusste man aber schon ziemlich sicher, dass die Sonne ihre Energie aus der Kernfusion bezieht. Im Inneren unseres Sterns herrschen Temperaturen von bis zu 13 Millionen Grad. Die Atome dort bewegen sich so schnell, dass sie bei Kollisionen verschmelzen und bei dieser Fusion von Atomkernen wird Energie frei. Energie, aber auch Neutrinos. Neutrinos entstehen bei einer Vielzahl von Kernreaktionen und die Sonne sendet nicht nur jede Menge Licht hinaus ins All, sondern auch einen stetigen Strahl von Neutrinos. Man wusste damals aber noch nicht, wie viele Neutrinos tatsächlich im Inneren der Sonne produziert werden. Denn man wusste noch nicht genau, welche Arten von Kernreaktionen im Inneren unseres Sterns ablaufen. Die Beobachtung von Neutrinos aus dem Inneren der Sonne könnte nicht nur endgültig belegen, dass dort Kernfusion abläuft sondern auch erklären, was dort im Detail passiert. Nur: Neutrinos lassen sich enorm schwer beobachten.
Die elektrisch nicht geladenen Teilchen reagieren so gut wie gar nicht mit der restlichen Materie. Aus Sicht eines Neutrinos existiert die ganze normale Materie quasi nicht. Wenn ein Neutrino auf die Erde trifft, dann merkt es davon nichts und saust einfach glatt durch. Nur ganz, ganz selten kommt es zu einer Wechselwirkung zwischen einem Neutrino und zum Beispiel einem Atomkern. Dann kann das Neutrino dort dafür sorgen, dass sich ein Proton des Atomkerns in Neutron umwandelt oder umgekehrt. Diese Veränderung des Atomkerns kann man nachweisen und so auch die Existenz des Neutrinos, das für die Veränderung verantwortlich war. Man kann nun zum Beispiel künstlich Neutrinos herstellen. Also zum Beispiel in einem Teilchenbeschleuniger gezielt Reaktionen ablaufen lassen, die Neutrinos in großer Menge produzieren und diesen Neutrinostrahl dann auf ein geeignetes Meßgerät richten. Aber es ging den Wissenschaftlern ja um den Nachweis der Neutrinos von der Sonne.
Die produziert mehr Neutrinos als jeder Teilchenbeschleuniger. Auf jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche treffen pro Sekunde ein paar Dutzend Milliarden Neutrinos. Aber davon merken wir nichts, weil die Neutrinos eben so selten mit der normalen Materie reagieren. WIE selten, hängt im Detail von der Energie ab, die die Neutrinos mit sich tragen und die hängt von den Reaktionen ab, bei denen sie im Inneren der Sonne erzeugt werden. Die man damals aber noch nicht kannte und deswegen wusste man nicht, wie viele Sonnen-Neutrinos ein Meßgerät detektieren würde. Trotzdem machte man sich natürlich auf die Suche. Ein Meßgerät für Neutrinos ist allerdings kein simpler Apparat, den man in einem Labor auf den Tisch stellt. Typischerweise handelt es sich dabei um riesige Tanks, die tief unter der Erde in Höhlen aufgestellt werden. In diesen Tanks befinden sich entweder spezielle Flüssigkeiten aus speziellen Atomen. Man weiß vorher, welche Atome in den Tanks sind. Nach der Messung lässt man die Flüssigkeit ab, analysiert sie und schaut nach, ob sich einige der Atome verändert haben – was ein Zeichen dafür ist, dass sie mit ein paar der vielen Billiarden Neutrinos reagiert haben. Oder aber man füllt die Tanks mit Wasser und Lichtdetektoren. Wenn Neutrinos auf die Atome des Wassers treffen und reagieren, entsteht dabei auch ein kurzer Lichtblitz, der nachweisbar ist und aus dem man sogar noch die Richtung bestimmen kann, aus dem das Neutrino gekommen ist.
Es klingt ein wenig seltsam, dass man sich tief unter die Erde begibt, um die Sonne zu beobachten. Aber den Neutrinos ist es komplett egal, ob da ein paar Kilometer Gestein im Weg stehen. Und in den unterirdischen Höhlen gibt es viel weniger störende Strahlung aus anderen Quellen. Wenn man dort etwas misst, kann man sich ziemlich sicher sein, dass es tatsächlich Neutrinos sind und nicht irgendwas anderes, das mit den Meßgeräten reagiert. Man begann also in den 1960er Jahren mit der Messung von Sonnen-Neutrinos und war auch ziemlich schnell erfolgreich. Damit war auf jeden Fall endlich nachgewiesen, dass in der Sonne tatsächlich Kernfusion stattfindet. Es gab aber schnell ein weiteres Problem.
Mit theoretischen Modellen über den Aufbau der Sonne berechnete man damals, wie viele Neutrinos produziert und auf die Erde treffen sollten. Die tatsächlich gemessene Menge an Neutrinos wich aber deutlich von der vorhergesagten Menge ab. Sie betrug nur etwa ein Drittel dessen, was da sein sollte. Zuerst machte man die Astronomen für diesen Unterschied verantwortlich. Die theoretischen Modelle der Sonne müssen falsch sein. Die Astronomen aber waren sich sicher, dass damit alles mehr oder weniger in Ordnung war. Irgendwas musste mit den Messungen der Teilchenphysiker nicht stimmen.
Und so war es auch. Man ging damals davon aus, dass Neutrinos erstens keine Masse hatten, so wie es das Standardmodell beschrieb. Und zweitens sollten sie auch unveränderlich sein. Ein Elektron-Neutrino bleibt ein Elektron-Neutrino; ein Myon-Neutrino ein Myon-Neutrino. Das klingt ja auch vernünftig. Ein Elektron etwa verwandelt sich ja auch nicht einfach so in ein anderes Teilchen; wieso sollte das bei den Neutrinos anders sein. Weil sie doch eine Masse haben!, wie der italienische Physiker Bruno Pontecorvo 1968 behauptet hatte. Aus quantenmechanischen Gründen, die zu erklären hier jetzt zu weit führen würde, können Neutrinos ihre Art verändern, wenn sie eine Masse haben. Anders gesagt: Wenn Pontecorvo recht hat, dann würde die Sonne zwar, wie vorhergesagt, jede Menge Elektron-Neutrinos produzieren. Bei ihrem Flug aus dem Zentrum der Sonne durch die unterschiedlich dichten Schichten der Sonnenmaterie und dem weiteren Flug durchs All in Richtung Erde würde sich ein Teil dieser Elektron-Neutrinos in Myon- und Tauon-Neutrinos umwandeln. Vereinfacht gesagt, oszilliert ein Neutrino ständig zwischen den drei möglichen Arten hin und her. Und wenn auf der Erde ein Detektor steht, der nur eine der drei Arten nachweisen kann, dann verpasst man die anderen zwei. Oder misst eben nur ein Drittel der Neutrinos, die man eigentlich erwartet hatte.
In den späten 1990er Jahren gelang dann schließlich der Nachweis, dass genau das der Fall ist. Die Modelle der Astronomen über das Innere der Sonne waren korrekt. Und Neutrinos müssen eine Masse habe. Denn sie wechseln tatsächlich ständig zwischen den Arten hin und her. Warum sie das tun und wie sie das genau tun, wird auch heute immer noch erforscht. Unter anderem, weil man herausfinden will, was für eine Masse die Neutrinos wirklich haben. Denn das Standardmodell der Teilchenphysik sieht weiterhin nur masselose Neutrinos vor. Dieser große Widerspruch zwischen Theorie und Beobachtung ist ein deutliches Zeichen dafür, dass hier noch ein paar wirklich große Entdeckungen auf uns warten.
Mittlerweile sind die Astronomen auch wirklich gut darin geworden, Neutrinos aus dem All nachzuweisen. Man detektiert nicht nur Neutrinos von der Sonne. Wir haben auch Neutrinos gemessen, die bei Supernova-Explosionen ferner Sterne entstanden sind. Und in Zukunft können wir dann vielleicht auch Neutrinos vieler anderer Quellen messen. Denn nukleare Reaktionen finden überall im Universum statt. In den Zentren ferner Galaxien, der Umgebung schwarzer Löcher oder sterbenden Sternen. Im Gegensatz zum Licht können die Neutrinos überall ungehindert durch und können uns so Informationen liefern, die wir anders nicht bekommen können. Wenn wir die kleinen Dinger denn erwischen!
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