Dieser Artikel ist Teil des ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2018. Informationen zum Ablauf gibt es hier. Leserinnen und Leser können die Artikel bewerten und bei der Abstimmung einen Preis gewinnen – Details dazu gibt es hier. Eine Übersicht über alle am Bewerb teilnehmenden Artikel gibt es hier. Informationen zu den Autoren der Wettbewerbsartikel finden sich in den jeweiligen Texten.
——————————————————————————————————————
Der kreative Videorekorder: Lügengeschichten aus unserem Gedächtnis
Von Dennis Gregor
Ich lese gerne populärwissenschaftliche Bücher und Artikel und bin immer sehr dankbar, wenn ich mal wieder ein Buch entdeckt habe, in dem es dem Autor gelingt, mir ein Thema verständlich zu machen und mich dabei zu unterhalten und zu begeistern. Da sind die Schreibwettbewerbe von Florian Freistetter natürlich eine gute Gelegenheit, mich selbst hin und wieder an einem Text zu versuchen…
Nach landläufiger Vorstellung gleicht unser Erinnerungsvermögen einem Videorekorder. Detailgetreu zeichnet er alle unsere Wahrnehmungen auf und ist prinzipiell in der Lage, sie bei Bedarf unverändert wieder abzuspielen. Zwar mag es passieren, dass das Videoband mit der Zeit an Qualität verliert, so dass Einzelheiten nicht mehr klar zu erkennen sind, schlimmstenfalls kann der Film auch ganz zerreißen. Was wir bei einem Videorekorder aber nie erleben werden, ist, dass er plötzlich einen ganz anderen Film abspielt, in dem auf einmal der Butler der Mörder ist und nicht mehr der Gärtner. Aber so ergeht es unserem Erinnerungs-Rekorder!
Passiert euch das auch manchmal? Ihr lasst mit einem Freund oder einer Freundin gemeinsam erlebte Abenteuer Revue passieren, vielleicht den Urlaub vor drei Jahren, und plötzlich stellt ihr fest, dass ihr zwei unterschiedliche Filme im Kopf habt, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind.
“So kann es doch gar nicht gewesen sein, an dem Tag hat es doch in Strömen geregnet”, sagt ihr vielleicht. Und euer Gegenüber schwört Stein und Bein, dass ihr an genau jenem Tag bei strahlendem Sonnenschein den Gipfel erklommen habt. Vielleicht einigt ihr euch am Ende auf eine Version, aber vielleicht seid ihr euch beide eurer Sache ganz sicher und bescheinigt dem anderen ein marodes Gedächtnis.
Dass unser Gedächtnis kein perfekter Behälter ist, sondern eher ein löchriger Beutel, aus dem der Inhalt allmählich heraus sickert, ist allgemein bekannt. Dass es aber nicht selten auch Bilder und Eindrücke hinzufügt, die in der fraglichen Situation gar nicht vorhanden waren, ist eine weniger geläufige Tatsache.
Der erste Wissenschaftler, der untersucht hat, wie sich die Erinnerungen der Menschen verändern, war der Kognitionspsychologe Frederic Bartlett. In einer 1932 veröffentlichten Studie ließ er Versuchspersonen eine kurze Geschichte lesen und diese nach unterschiedlichen Zeiträumen von Tagen, Wochen oder Monaten nacherzählen. Schon bei der Wiederholung am nächsten Tag fiel auf, dass die meisten Probanden wesentliche Teile ausließen, Einzelheiten veränderten und Ereignisse oder Erklärungen hinzufügten, die in der Originalfassung nicht enthalten waren.
Seit Bartletts Pionierarbeit hat sich die Unstetigkeit unseres Gedächtnisses in den verschiedensten Bereichen, vom Lernen von Wortlisten über das Wiedererkennen von Gesichtern bis zur Erinnerung an besondere Erlebnisse, als robustes Resultat in gut kontrollierten Studien erwiesen.
Wenn ihr Lust habt, selbst ein Experiment durchzuführen, dann könnt ihr einmal versuchen, eure Freunde mit dem Deese-Roediger-McDermott Paradigma zu überlisten. Dazu habe ich in Anlehnung an die Versuche dieser Autoren eine Tabelle mit sechs Wortlisten zusammengestellt.
Das Experiment funktioniert wie folgt: Ihr gebt euren Opfern ein leeres Blatt Papier und erklärt, dass ihr ihnen Listen von je 15 Wörtern vorlesen werdet (ca. alle 1-2 Sekunden ein Wort), die sie versuchen sollen, sich zu merken. Nach dem Vorlesen einer Liste gebt ihr ihnen zwei Minuten Zeit, alle Wörter aufzuschreiben, die ihnen noch einfallen. Sie sollen dabei mit den letzten Wörtern der Liste beginnen. Dann macht ihr in gleicher Weise mit der nächsten Liste weiter, bis ihr alle sechs durchhabt.
Wenn euer Experiment ähnlich ausfällt, wie das Vorbild, dann werden eure Versuchspersonen sich im Schnitt an zwei Wörter “erinnern”, die ihr nicht vorgelesen habt, und zwar mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit an die Wörter “Stuhl”, “Berg”, “Nadel”, “rau”, “schlafen” und “süß”.
Warum gerade diese Wörter? Das liegt daran, dass man zur Erstellung der Listen Menschen nach ihren Assoziationen mit eben diesen Wörtern gefragt hat. Die erste Liste enthält demnach Worte, die vielen Menschen einfallen, wenn sie “Stuhl” hören, die zweite enthält Assoziationen zum Wort “Berg” und so weiter.
Nach der Theorie der Aktivierungsausbreitung (Collins und Loftus 1975) lässt sich unser semantisches Gedächtnis abstrakt als Netz aus miteinander mehr oder weniger stark verknüpften Konzepten darstellen. Ist eines dieser Konzepte aktiviert, etwa weil wir das entsprechende Wort gehört oder daran gedacht haben, dann breitet sich diese Aktivierung auf assoziierte Nachbarbegriffe aus, so dass diese ebenfalls, wenngleich in geringerem Maße, aktiviert werden. Wie im Bild zu sehen ist, das einen kleinen Ausschnitt aus einem hypothetischen semantischen Netz darstellt, ist das Wort “Stuhl” von mehreren Wörtern aus der Liste umzingelt. Die von jedem dieser Knotenpunkte ausgehende Erregung läuft in dem Wort “Stuhl” zusammen, welches dadurch so stark aktiviert wird, dass es ins Bewusstsein geholt wird.
Das Problem für unser Erinnerungsvermögen ergibt sich nun daraus, dass unser Gehirn manchmal nicht treffsicher unterscheiden kann, was die Ursache für die Aktivierung eines Inhalts war. Haben wir das Wort zuvor gehört oder wurde es durch Assoziation aktiviert? So kratzt sich die eine oder andere Versuchsperson am Ende des Experiments am Kopf und murmelt: “Na sowas… ich war sicher, er hätte ´Stuhl´ gesagt.”
Aber was ist jetzt an der Forschung über ausgeschmückte Geschichten und eingebildete Wörter so interessant? Abgesehen davon, dass sie Rückschlüsse auf die Funktionsweise unseres Gehirns zulassen, gibt es eine Menge praktischer Gründe, die Verlässlichkeit unseres Erinnerungsvermögens auszuloten. Man denke nur an Zeugenaussagen vor Gericht. Hier kann man den interessanten TED-Talk (2013) von Elizabeth Loftus, der berühmtesten Forscherin im Feld der falschen Erinnerungen, ansehen, in dem sie unter anderem den traurigen Fall von Steve Titus erzählt, der vom Opfer einer Vergewaltigung irrtümlicherweise als Täter identifiziert worden war.
Loftus begann mit ihren Forschungen über Erinnerungen von Augenzeugen in den 70er Jahren. Sie zeigte ihren Versuchspersonen Filmszenen von Autounfällen und befragte sie über das, was sie gesehen hatten. In einer ihrer Versuchsanordnungen sollten die Probanden schätzen, mit welcher Geschwindigkeit die Unfallautos zusammengestoßen waren. Dabei hatte Loftus die Frage für verschiedene Probandengruppen unterschiedlich formuliert. Während einige gefragt wurden: “Wie schnell fuhren die Autos, als sie ineinander krachten?”, sollten andere die Frage beantworten: “Wie schnell fuhren die Autos, als sie kontaktierten?”. Es zeigte sich, dass die Gruppe, bei denen der stärkste Ausdruck benutzt worden war, die Geschwindigkeit der Unfallautos im Durchschnitt um 25% höher schätzte, als die Gruppe mit der schwächsten Version. Für Loftus war das ein Hinweis darauf, dass die Wortwahl bei der Befragung die Erinnerung der Augenzeugen an das Ereignis eingefärbt hatte. Freilich musste man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Augenzeugen sich zwar präzise erinnerten, ihre Antworten dann aber auf die Erwartung abstimmten, die sie bei der Versuchsleitung aufgrund der Wortwahl in der Frage vermuteten.
Der zweite Teil des Versuchs schien hier ein klares Wort zu sprechen. Eine Woche nach dem Sichten der Unfallszenen wurden die Versuchsteilnehmer noch einmal nach ihrer Erinnerung an bestimmte Einzelheiten gefragt, zum Beispiel, ob sie zerbrochenes Glas gesehen hätten. Diesmal erhielten alle dieselben Fragen. Von den Probanden, die eine Woche zuvor nach der Geschwindigkeit “ineinander krachender” Autos gefragt worden waren, wollten 32% zerbrochenes Glas gesehen haben. Unter denjenigen, die man nach “kontaktierenden” Autos gefragt hatte, waren es nur 14%. Tatsächlich war in keiner der gezeigten Szenen zerbrochenes Glas zu sehen gewesen! Für Loftus war klar: Suggestivfragen beeinflussten Zeugenaussagen nicht nur durch Konformitätsdruck, sondern sie verzerrten nachhaltig die Erinnerungen der Augenzeugen!
Eine Vielzahl nachfolgender Untersuchungen haben bestätigt, dass jegliche Art von Information, die einer Person erst im Nachhinein dargeboten wird, sich in ihre Erinnerung an ein zurückliegendes Ereignis einschleichen kann. So genügte es in einer anderen Studie, Personen, denen man ein Video eines gestellten Banküberfalls gezeigt hatte, die Frage zu stellen: “Trug der Mann, der den Kassierer mit der Waffe bedrohte, eine Kapuze?”, um die Testpersonen später signifikant häufiger angeben zu lassen, sie hätten gesehen, wie ein Mann den Kassierer mit einer Pistole bedroht hatte, obwohl dies in keiner Szene zu erkennen gewesen war.
Auch unser eigenes Vorwissen oder unsere Schlussfolgerungen sind in diesem Sinne Zusatzinformationen, die unser Gedächtnis beeinflussen und sich in die Illusion einer Erinnerung verwandeln können. Wenn ich zum Beispiel sehe, wie sich Peter auf dem Schulhof mit einem anderen Jungen prügelt und außerdem weiß, dass Fritz und Peter sich spinnefeind sind, dann kann es passieren, dass ich mich später daran erinnere, gesehen zu haben, wie sich Fritz und Peter auf dem Schulhof prügelten, obwohl ich den Prügelgegner im Moment des Gefechts gar nicht erkannt habe.
All diesen Illusionen liegt ein ganz ähnlicher psychologischer Mechanismus zugrunde wie den falsch erinnerten Wortlisten und den mutierenden Geschichten von Bartlett: Wir bringen die Informationsquellen durcheinander. Unwillkürlich flechten wir neue Informationen oder automatische Schlussfolgerungen in unsere Erinnerung an ein Ereignis ein und sind nicht fähig, diese von den ursprünglich gespeicherten Bildern sicher zu unterscheiden. Das Einbinden frischer Daten in bereits vorhandene Gedächtnisspuren ist offensichtlich eine normale Funktion unseres Gedächtnisses.
Neurowissenschaftler glauben unterdessen, den biologischen Vorgängen auf der Spur zu sein, die bei der Aktualisierung von Erinnerungen in unserem Gehirn ablaufen. Es hat sich gezeigt, dass Gedächtnisinhalte, wenn sie abgerufen, also erinnert werden, in eine labile Phase eintreten, in der sie wieder abgespeichert (rekonsolidiert) werden müssen, so als handele es sich um neue Informationen. Wie bei der Entstehung der ersten Erinnerung müssen auch hierbei Nervenzellen neue Verknüpfungen ausbilden. Forscher der kanadischen McGill Universität zeigten 2000 in einem Experiment an Mäusen, das ein bisschen nach science fiction á la Total Recall klingt, dass man bereits Gelerntes wieder auslöschen kann, wenn man durch pharmakologische Hemmung der Proteinsynthese die Ausbildung neuer neuronaler Verknüpfungen verhindert und dadurch die Rekonsolidierung unterbindet. Sehr wahrscheinlich geschieht es in dieser sensiblen Phase der Rekonsolidierung, dass die gerade abgerufenen Erinnerungen durch neue Inhalte aktualisiert, mit alten Erinnerungen vermischt oder gar gelöscht werden. Der Senior-Autor der Arbeit Joseph LeDoux erklärt mehr dazu in diesem kurzen Video.
Zu den Verantwortlichen im Rechtssystem sickern die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Psychologen und Neurowissenschaftler im Laufe von Jahrzehnten erarbeitet haben, erst mit Verzögerung durch. Denn dass falsche und ungenaue Erinnerungen von Augenzeugen Menschen unschuldig hinter Gitter gebracht haben, davon legt das Innocence Project Zeugnis ab. Auf der Internetseite dieser Organisation kann man die erschütternden Geschichten von bislang fast 400 Menschen nachlesen, die durchschnittlich 13 Jahre lang unschuldig hinter Gittern verbrachten (einige im Todestrakt) bevor neue DNA-Untersuchungen zeigten, dass sie als Täter nicht in Frage kamen. In knapp drei Viertel dieser Fälle war eine falsche Identifizierung durch Augenzeugen für die Verurteilung ausschlaggebend gewesen.
In den 90er Jahren wurde Elisabeth Loftus in einem besonders skurrilen Mordfall von der Verteidigung als Expertin hinzugezogen. Die 29-jährige Eileen Franklin hatte ihren Vater der Vergewaltigung und des Mordes an ihrer Schulfreundin Susan Nason beschuldigt. Das Besondere an diesem Fall: Das Verbrechen war begangen worden, als Eileen acht Jahre alt war, jedoch hatte sie sich erst vor Kurzem an das Ereignis erinnert, nachdem sie es 20 Jahre lang vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte.
Die Erinnerungen waren in langen Psychotherapiesitzungen langsam hervorgekommen, anfangs als dunkle Ahnung, dann immer deutlicher, bis Eileen den ganzen Ablauf des Verbrechens rekonstruieren konnte.
Loftus tat ihr Bestes, das Gericht davon zu überzeugen, dass Eileens Aussage mit äußerster Skepsis behandelt werden sollte. Denn das Konzept der verdrängten Erinnerung, das wir Sigmund Freud zu verdanken haben (neben Ödipus-Komplex und Penisneid…), ist zwar im Volkstum tief verankert, Psychologen wie Loftus sprechen ihm aber jede wissenschaftliche Grundlage ab. Selbstverständlich können wir Dinge vergessen, an die wir uns später wieder erinnern. Aber eine Erinnerung an ein komplexes Geschehen, die über Jahrzehnte vollkommen unzugänglich bleibt wie eine tief vergrabene Schatztruhe, und dann auf einmal unbeschadet, lebendig und detailreich emporsteigt („Das Sonnenlicht kam durch die Bäume. Ich sah meinen Vater auf Susan zukommen, seine Hände über seinem Kopf, einen Stein in der Hand. Ich schrie, ich kreischte… ich hörte zwei Schläge…“) – das gehört nach Loftus ins Reich der Märchen.
Viele Details, die Eileen beschrieb, waren in Zeitungsartikeln über den Mord erwähnt worden, darunter sogar einige Ungenauigkeiten. Loftus war davon überzeugt, dass es sich bei Eileens Story nicht um wiedererlangte verdrängte Erinnerungen handelte sondern um falsche neue Erinnerungen – möglicherweise unabsichtlich produziert im Verlaufe ihrer Therapiesitzungen, in denen ihr Psychiater unter anderem mit Vorstellungsübungen und Suggestion arbeitete. Allein, das Gericht glaubte Loftus nicht und Franklin wurde wegen Mordes verurteilt.
Fünf Jahre später wurde der Fall noch einmal aufgerollt. Man war doch stutzig geworden, nachdem Eileen sich in der Zwischenzeit noch an zwei weitere Morde erinnert hatte, die ihr Vater vor ihren Augen begangen hatte. In diesen Fällen konnte George Franklin durch DNA-Tests als Täter zweifelsfrei ausgeschlossen werden, was natürlich die Glaubwürdigkeit von Eileens Erinnerungen belastete. Im Revisionsprozess kamen noch einige weitere Verfahrensfehler zum Vorschein und Franklin wurde rehabilitiert.
Dieser Fall brachte ein Phänomen zum Vorschein, das weit über unterschätzte Autogeschwindigkeiten, das Auftauchen einer nicht vorhandenen Waffe oder die Verwechslung eines Gesichts hinausging. Hier waren nicht Teile eines Geschehens verzerrt worden, sondern es war eine ganz neue Geschichte aus dem Nichts aufgetaucht. Verständlicherweise hielten viele Menschen, unter ihnen Richter und Psychotherapeuten, dies für unmöglich. Eine Erinnerung musste ihrer Überzeugung nach von einem realen Geschehen herrühren.
Lange sann Loftus über eine Methode nach, das Phänomen wissenschaftlich nachzuweisen. Schließlich entwickelte sie mit ihren Studenten an der University of California ein Experiment, das unter dem Namen „verloren im Einkaufszentrum“ bekannt wurde.
Bei diesem Experiment wurden den Versuchsteilnehmern jeweils vier kurze Texte über besondere Erlebnisse aus ihrer Kindheit vorgelegt, die mit Hilfe von Familienangehörigen erstellt worden waren. Eine der vier Geschichten war jedoch erdichtet und erzählte davon, wie der Proband als kleines Kind in einem großen Einkaufszentrum verloren gegangen war. Die Testpersonen sollten dann im Laufe der folgenden Woche alles aufschreiben, woran sie sich aus diesen Erlebnissen noch erinnerten. Es zeigte sich, dass ein Viertel der Testpersonen sich an ihre Odyssee im Einkaufszentrum „erinnerten“. Als man ihnen eröffnete, eine der vier Geschichten sei nicht real, konnten sie nicht angeben, welche erfunden war. Die Resultate, die die Forscher am meisten faszinierten, waren die vielen Details, mit denen die Opfer des Erinnerungsschwindels ihre Geschichte ausgeschmückt hatten. Eine Person erinnerte sich an die Angst, ihre Familie nicht mehr wiederzusehen, eine andere an den kahlköpfigen älteren Herren, der ihr half, ihre Eltern wiederzufinden, und eine weitere an den Spielwarenladen, dessen Schaufenster sie in den Bann gezogen hatte. Loftus´ Team war es gelungen, in diesen Menschen Erinnerungen an Ereignisse zu generieren, die nie stattgefunden hatten.
Allerdings überzeugte das Experiment bei Weitem nicht alle Kritiker, insbesondere nicht die Anhänger der Theorie der verdrängten Erinnerung. Wer konnte denn sicher ausschließen, dass es sich bei den Erinnerungen, die die Versuchspersonen zu Tage förderten, nicht um echte Erinnerungen handelte, die sie zuvor verdrängt hatten?
Um diesem Einwand zu begegnen, machten verschiedene Forscher sich daran, Menschen Erinnerungen an immer einzigartigere und abstrusere Geschichten zu implantieren. Einige überzeugten ihre Subjekte davon, dass sie bei einer Familienhochzeit der Braut die Bowle über das Kleid gekippt hatten. Andere brachten sie dazu, zu glauben, sie hätten einer älteren Dame geholfen, ihren ausgebüchsten Affen wiederzufinden. Besonders findige Wissenschaftler in Harvard sparten sich die Arbeit der Implantation und rekrutierten ihre Versuchspersonen einfach aus dem Kollektiv von Menschen, die sich daran erinnerten, von Aliens entführt worden zu sein. Ihre Messungen physiologischer Stressparameter wie Herzfrequenz und Hautwiderstand zeigten ebenso starke Reaktionen auf die Erinnerung an ihr Erlebnis wie Menschen, die unter schweren Kriegs- oder Misshandlungstraumen litten. Falsche Erinnerungen, wie sie auch entstanden sein mögen, fühlen sich genauso echt an, wie wirkliche Erinnerungen.
Wir können uns fragen, warum die Natur uns kein besseres Gedächtnis mit auf den Weg gegeben hat; eines, das wie ein Videorekorder die Wirklichkeit eins zu eins wiedergibt, anstatt Inhalte zu verbiegen und zu vermischen. Die Antwort darauf dürfte lauten, dass uns das nicht unbedingt zum Vorteil gereicht hätte. Denn natürlich ist unser Gedächtnis evolutionär entstanden und wir dürfen unterstellen, dass seine Funktionsweise so, wie sie ist, eine gute Umweltanpassung darstellt. So wird es wohl für die längste Zeit der Existenz unserer Spezies wichtiger gewesen sein, ein möglichst vollständiges Abbild der Umwelt, so wie sie sich im Augenblick darstellte, im Sinn zu haben, als sich genau daran zu erinnern, wo der Fluss früher einmal entlang floss oder wo die Gazellen vor vielen Jahren grasten. Der Zweck unseres Gedächtnisses ist es eben nicht, möglichst viele separate Details zu behalten, sondern uns in die Lage zu versetzen, unsere Kenntnisse zu integrieren und zu verallgemeinern, um danach zu handeln. Unser Gehirn ist nicht an einer objektiven Wahrheit interessiert, sondern an stimmigen Geschichten, die im Einklang mit anderen Informationsquellen und unseren Überzeugungen stehen.
Wenn ihr euch also das nächste Mal mit einem Freund darüber streitet, wie es denn eigentlich genau gewesen war, als ihr damals beim gemeinsamen Interrail-Urlaub bestohlen wurdet, und euch nicht auf eine Version einigen könnt, dann denkt daran: Wahrscheinlich habt ihr beide Unrecht.
Literaturauswahl:
Loftus EF. Memories of Things Unseen. Current Directions in Psychological Science. August 2004;13(4):145–7.
Roediger, H. L., & McDermott, K. B. (1995). Creating false memories: Remembering words not presented in lists. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 21(4), 803-814.
Shaw J. Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. München: Heyne Verlag; 2018. 304 S.
Kommentare (31)