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Quantenmechanik und Genderforschung – Unterschiede von Jungen und Mädchen im naturwissenschaftlichen Unterricht
von noch’n Stephan
Lehramtsstudent für Chemie und Geschichte mit vertretungsweiser Berufserfahrung in Chemie und Mathe. Schreibe derzeit an meiner Masterarbeit.
Quantenmechanik und Genderforschung haben eine Sache gemeinsam. Nicht jeder, der darüber redet, weiß auch, was damit gemeint ist. In diesem Artikel möchte ich kurz zeigen, dass es durchaus wissenschaftliche Probleme gibt, für die die Genderforschung wichtige Anworten sucht.
Quantenmechanik ist faszinierend, obwohl (oder gerade weil) die Vorstellungen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, stark unterschiedlich sind. Für die einen lädt er ein zu quasi philosophischen Ausflügen über das Wesen der Welt und die Existenz, Andere nutzen die Theorien der Quantenmechanik für scheinbar profanes Handwerkszeugs, wie die Temperatur fremder Sterne zu bestimmen oder einfach die Farben der Welt erklären zu können. Und eine Gruppe von Menschen nutzt das Vokabular der Quantenmechanik, um völligen Blödsinn zu reden.
Nicht ganz so weltbewegend, aber in mancher Hinsicht ähnlich, verhält es sich mit Allem was in den Bereich „Genderforschung“ gezählt wird. Jeder scheint eine feste Vorstellung davon zu haben, was in der Wissenschaft unter dem Begriff „Genderforschung“ so alles abläuft. Die passende Bewertung wird dann häufig gleich mit geliefert und man bekommt den Eindruck, als gäbe es dabei nur „absurd“, „nutzlos“ oder „revolutionär“.
Als werdender Lehrer kommt man nicht herum, sich selber mit dem Thema zu befassen. Das Thema ist in diesem Fall, ob unterschiedliche Schulleistungen durch das Geschlecht begründet sind, und was man dagegen tun könnte. Da Diskussionen um den Bereich „Genderforschung“ häufig sehr dogmatisch oder unsachlich verlaufen, möchte ich mit diesem Artikel einen einen eher pragmatischen und sachlichen Beitrag liefern, wann Genderforschung durchaus wichtige Fragestellungen angeht. Als Zugang zu dem Themenfeld habe ich mir die PISA-Studie ausgesucht, die alle drei Jahre von der OECD durchgeführt wird, zuletzt 2015. Über die PISA-Studien ließen sich problemlos ganze Serien von Artikeln schreiben, da sie in der Öffentlichkeit selbst auch kontrovers dargestellt und diskutiert werden. Die Kontroversen beziehen sich aber meist auf die Interpretation der Ergebnisse und die Maßnahmen, die mit den PISA-Studien begründet werden. Die eigentliche Leistungsmessung soll hier aufgegriffen werden, um sich damit der Situation von Mädchen und Jungen im naturwissenschaftlichen Unterricht zu nähern.
Was ist das Problem?
Schülerinnen erreichen in Naturwissenschaften weniger gute Leistungen als Schüler – im statistischen Durchschnitt. Und selbst Schülerinnen im oberen Leistungsbereich schätzen sich selber oft schwächer ein, oder geben seltener Naturwissenschaften als Berufswunsch an. Das ist zugegeben nicht das drängendste Problem des deutschen Bildungssystems, aber es ist ein auffälliges und andauerndes Problem. Und da es ungefähr die Hälfte aller Kinder in jeder Klasse betrifft wäre es fahrlässig diesen Befund einfach zu übergehen. Diskussionen darüber, ob und wie Mädchen in Naturwissenschaften gezielt gefördert werden sollen, verlaufen jedoch häufig entlang vorgefertigter Meinungen und Klischees, so dass sich gängigen Gegenargumente oft schon vorhersehen lassen.
„Mädchen und Jungs haben nun mal Unterschiedliche Interessen/ Fähigkeiten!“
Ist das so? Sind die unterschiedlichen Leistungen allein durch Veranlagung begründet und unveränderbar? Die PISA-Studien ermöglichen es, einen Blick in andere Länder zu werfen. Dabei zeigt sich, dass Vorsprung der Schüler in naturwissenschaftlichen Leistungen tatsächlich ein weltweites Phänomen ist. Einige Länder zeigen jedoch bemerkenswerte Ausnahmen von diesem Trend. In Finnland, Slowenien, Lettland aber auch in der Türkei liegen die durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen teilweise deutlich über denen der Schüler. Also entweder sind Veranlagungen von Jungen und Mädchen in diesen Ländern anders, oder das Problem ist nicht so eindeutig, wie es oft behauptet wird.
Ein Fehler dieser Betrachtung liegt im Fokus auf den Mittelwert. Der Mittelwert ist kaum geeignet, pauschale Aussagen über Eigenschaften derart großer Gruppen zu machen, wie etwa alle 15 jährigen Mädchen und Jungs im naturwissenschaftlichen Unterricht. Ein etwas deutlicheres Bild ergibt sich, wenn neben dem Mittelwert auch die Streuung berücksichtigt wird. Hierbei zeigt sich ein weiterer Trend: Schülerinnen sind im obersten Leistungsbereich unterrepräsentiert, sie sind es aber auch im untersten. Die Leistungen der Mädchen konzentrieren sich stärker um den Mittelwert, als es bei den Jungs der Fall ist. Nur nicht in Deutschland, wo Mädchen auch deutlich häufiger als Jungen in der untersten Leistungsgruppe zu finden sind. Es gibt nur noch vier andere Länder, die mit Deutschland hier einen recht exklusiven Club bilden, den wohl niemand erwartet hat: Chile und Costa Rica, Kolumbien und Peru.
Dies sind nur zwei einfache Betrachtungen einer Statistik, die zeigen, dass die Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen nicht von Natur aus vorgegeben sein können, sondern dass sie irgendwie im deutschen Bildungssystem begründet sein müssen.
Welche pädagogischen Schlüsse lassen sich nun daraus ziehen? Da Veranlagung die Leistungsunterschiede nicht erklären kann, müssen andere Faktoren eine Rolle spielen. Die PISA- Autoren nennen als eine mögliche Erklärung die Korrelation mit einer geringeren Selbstwirksamkeitserwartung. Mädchen trauen sich tendenziell seltener zu, naturwissenschaftliche Fragestellungen beantworten zu können, auch wenn die eigenen Leistungen anderes nahelegen. An dieser Stelle ließe sich schon ansetzen, indem bei Schülerinnen das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt werden. So könnte zumindest die Begeisterung für das Fach auch mit Blick auf eine mögliche Berufswahl gesteigert werden.
Das Problem der unterschiedlichen Leistungen anzugehen, ist jedoch komplizierter. Hier könnte ein Zusammenhang bestehen mit den Leistungen in Mathematik, wo die Befunde aus der PISA-Studien ähnlich sind. Ein möglicher Ansatz wäre es dann über die Förderung in Mathematik auch die Fähigkeiten in den Naturwissenschaften zu stärken.
“Das ist doch Gleichmacherei!”
Das kommt auf den Blickwinkel an. Als Naturwissenschaftler und Pädagoge ist es ein grundsätzliches Anliegen, Jungen und Mädchen für Naturwissenschaften zu begeistern und ihnen zu bestmöglichen Leistungen zu verhelfen. Wer mag, kann das gerne Gleichmacherei nennen – ich nenne es eher meinen Beruf.
Das hat aber nichts damit zu tun, dass Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen negiert werden sollen. Ganz im Gegenteil: Im Unterricht sollen alle entsprechend den Möglichkeiten gefördert werden. Und da ist es doch unsinnig, wenn die Hälfte aller Kinder von den Bemühungen ausgeschlossen werden, nur weil man glaubt, die Natur ließe es nicht zu.
Und was ist mit den Jungs?
Ein weiterer Einwand ist häufig, dass bei all der Diskussion über die Förderung von Schülerinnen, die Jungs auf der Strecke blieben. Aber auch hier lässt sich an Hand der PISA-Daten ein Interessantes Phänomen erkennen, das die Lese- und Schreibkompetenzen betrifft. In der Bildungsforschung wird auf diese Kompetenzen besonders geachtet, da sie als Schlüsselkompetenz für weitere Entwicklungen gelten (nicht zuletzt war das Abschneiden bei der Lesekompetenz im Jahr 2000 Anstoß für die wohl größten Bildungsreformen in der Geschichte der Bundesrepublik).
Auch bei der Lesekompetenz gibt es deutliche Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern, jedoch umgekehrt und deutlich stärker ausgeprägt. Weltweit sind die Leseleistungen der Jungen deutlich schwächer, als die der Mädchen. Der Effekt ist dabei noch viel stärker ausgeprägt, als die Leistungsunterschiede im Bereich der Naturwissenschaften. Die öffentliche Wahrnehmung dieses Problems ist jedoch eine völlig andere. Zunächst stellt niemand in Frage, dass hier ein Problem vorliegt, bei dem dringender Handlungsbedarf besteht. Bei der Diskussion um Möglichkeiten der Förderung fallen aber zwei Unterschiede auf, die bei der Diskussion in diesem Fall radikal anders sind:
1. Es wird es überhaupt nicht biologistisch Begründet. Den Satz „Jungen sind nun mal von Natur aus nicht so gut im Lesen“ habe ich jedenfalls noch nie gehört.
2. Es wird kaum als Problem der Jungen behandelt. Programme und Initiativen zur Leseförderung zielen auf alle Kinder ab und eben nicht schwerpunktmäßig auf Schüler, obwohl sie mit deutlichem Abstand die größte Zielgruppe sind.
Die Leistungsunterschiede in Naturwissenschaften und in der Lesekompetenz sind zwei Beispiele, bei denen das Geschlecht großen Einfluss hat, und diese Beispiele zeigen, dass es auch in der öffentlichen Diskussion große Unterschiede darüber gibt, wie über Probleme von Mädchen und Jungen in der Schule geredet wird. Zu untersuchen, warum das so ist, wäre doch sicher ein interessantes Forschungsvorhaben. Wenn es doch nur einen wissenschaftlichen Bereich gäbe, der sich solcher Fragen annimmt…
P.S.: Eine übersichtliche grafische Darstellung der wichtigsten PISA-Ergebnisse einschließlich interessanter Ländervergleiche findet sich hier. Auch wenn die Grafiken dort nicht den Standards genügen, ist es ein guter Einstieg in die PISA-Welt.
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