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Wohin steuert die Welt? Globale Trends die fast niemand kennt
von Maxwell
Ich bin 24 Jahre alt, wohne in der Schweiz und studiere aktuell Bauingenieurwesen. Das ist meine erste Teilnahme an diesem Schreibwettbewerb, ich freue mich über Kommentare.
Hat sich die Zahl der Menschen in extremer Armut in den letzten 20 Jahren verdoppelt, halbiert oder ist etwa gleich geblieben? Wenn Männer im Alter von 30 Jahren heute im weltweiten Durchschnitt 8 Jahre zur Schule gingen, sind es bei den Frauen 3, 5 oder 7 Jahre? Und wie entwickelte sich die Zahl der Todesopfer von Naturkatastrophen in den letzten 100 Jahren: Verdoppelt, halbiert, etwa gleich? Die Gapminder-Stiftung des Schweden Hans Rosling liess solche Multiple-Choice Umfragen in verschiedenen Industrieländern durchführen. Die Resultate zeigten Erstaunliches: Meistens wählten weniger als 10% die richtigen Antwort. Die meisten Menschen scheinen ein vollkommen falsches Bild vom Lebensstandard in den Entwicklungs- und Schwellenländern sowie dem globalen Trends zu haben. Wie Hans Rosling anmerkt, hätten selbst Affen mit total zufälligen Antworten deutlich besser abgeschnitten. Das Problem scheint also nicht fehlendes Wissen zu sein, sondern falsche Vorstellungen.
Und mit „falsch“ ist hier „pessimistisch“ gemeint. In der Tat halbierte sich die extreme Armut in den letzten zwei Jahrzehnten, und Frauen können mit 7 Jahren im Durchschnitt fast gleich lange die Schule besuchen wie Männer. Die Zahl der Todesopfer von Naturkatastrophen verringerte sich nicht nur um 50%, sondern um mehr als 80%. Aber mit diesen positiven Entwicklungen ist es bei weitem nicht zu Ende.
Die Lebenserwartung steigt weltweit, nur in Afrika liegt sie noch unter 70 Jahren. An Malaria sterben jährlich halb so viele Menschen wie vor 15 Jahren, auch sinken die Neuinfektionen und Todesopfer durch Aids. Mittlerweile werden weltweit mehr als 80% aller Kinder gegen Masern geimpft und die Kindersterblichkeit sank in 50 Jahren von 19% auf 4%. Vor 25 Jahren galt noch 18% der Weltbevölkerung als unterernährt, heute sind es 12%. Im gleichen Zeitraum ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser von unter 80% auf über 90% gestiegen. 45% der Weltbevölkerung haben Zugang zum Internet. Vor 50 Jahren lebte 30% der Weltbevölkerung in einer Demokratie, heute sind es 50%. Die Welt wird auch immer friedlicher: Der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandprodukt hat im weltweiten Durchschnitt von 6% in 1960 auf heute 2.2% abgenommen, die Zahl der Atomwaffen von ehemals über 60‘000 im Jahr 1980 auf heute etwa 10‘000. Bei den Todesopfern durch Kriege ist ebenfalls ein deutlicher Abwärtstrend erkennbar. Die Grafik nach 1945 erinnert an ein auslaufendes Gebirge, bei dem die kleiner werdenden Gipfel mehrheitlich auf einzelne Kriege wie den Koreakrieg und den Vietnamkrieg zurückzuführen sind. Aktuell liegt die Erde aufgrund des Syrienkriegs auf einem Hügel.
Weltweit geht auch die Zahl der Menschen zurück, die durch Gewaltverbrechen ums Leben zu kommen. Dagegen liegt die Zahl der Suizide mit 800‘000 pro Jahr rund doppelt so hoch. Sollte man also Angst haben, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, so sollte man sich statistisch gesehen eher vor sich selbst fürchten (Die Zahl der Suizide sinkt jedoch ebenfalls). Auch die Bildung kommt voran: Von der Weltbevölkerung über 15 Jahren kann inzwischen über 80% lesen und schreiben, immer mehr Kinder besuchen die Schule und auch die mittlere Anzahl der Schuljahre steigt stetig.
Vor allem die auf der Welt angeblich aufgehende Schere zwischen arm und reich ist ein Mythos. Nicht nur gibt es immer weniger sehr Arme, auch sinkt die Ungleichverteilung der Einkommen seit Jahrzehnten, was man in der Einkommensverteilung erkennen kann. Während die Welt in den 70er Jahren noch zweigeteilt war in einen reichen Westen und einen armen Rest, ist 2015 nur noch ein Buckel erkennbar. Dies liegt am Aufstieg von sehr vielen Menschen der Schwellenländer in die Mittelschicht, vor allem in China. Die weltweite Ungleichheit, gemessen etwa mit dem Gini-Koeffizienten, ist deshalb gesunken.
Ein Thema, über das auch sehr viele schlecht informiert zu sein scheinen, ist die angebliche Bevölkerungsexplosion. Gerne wird darauf verwiesen, dass in der Vergangenheit die Abstände, bis eine weitere Milliarde Menschen auf der Erde lebte, immer kürzer wurden. Mittlerweile ist das Bevölkerungswachstum aber am abnehmen. Die maximale jährliche Wachstumsrate wurde 1970 mit 2.1% erreicht, heute liegt sie bei 1.2%. Der absolute Zuwachs gipfelte im Jahr 1988 und sinkt seither auch. Laut ausführlichen Simulationen der UNO wird sich dieser Negativtrend fortsetzen, wodurch im mittleren Szenario die Weltbevölkerung im Jahr 2100 mit etwa 11 Milliarden das Maximum erreichen wird. Die Institution IIASA (International Institute for Applied System Analysis), die auch den Bildungsstand in die Modelle einbezog, rechnet gar mit einem Maximum von nur 9.5 Milliarden im Jahr 2070. Danach spricht nichts dagegen, dass die Weltbevölkerung sinken wird, so wie es auch in Westeuropa ohne Migration bereits heute der Fall wäre. Zurückführen lässt sich der Rückgang auf die sinkende Geburtenrate, die wiederum von der sinkenden Kindersterblichkeit, dem steigenden Wohlstand und mehr Frauenrechten abhängt. Der demografische Übergang mit zuerst sinkender (Kinder-)sterblichkeit und daraufhin sinkender Geburtenrate vollzieht sich dabei in den Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich schneller als in Europa zur Zeit der industriellen Revolution.
Wer dieser Liste von Verbesserungen Rosinenpickerei vorwirft, hat nicht ganz Unrecht, da in der Tat nur Positives ausgewählt wurde. Nicht erwähnte Themen, in denen aktuell keine Verbesserungen sichtbar sind, betreffen zum Beispiel Terrorismus, Einkommensverteilung innerhalb der Staaten, Krebs, Übergewicht und illegale Drogen. Die grosse Menge an erwähnten positiven Veränderungen sollte aber klarmachen: Die Welt verbessert sich nicht nur an einigen Stellen, sondern in fast allem. Gerade bei den grössten Problemen wie Armut, Hunger, Krankheit und Gewalt ist eine deutliche positive Entwicklung im Gange. Die Gründe für die allgemein pessimistische Grundhaltung der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung sind vielfältig und schwierig zu bestimmen. Einen Anteil daran haben sicher die Medien, die naturgemäss von (meist negativen) Abweichungen von der Norm berichten, während langsame, stetige Verbesserungen kaum erwähnt werden. Durch die Schwierigkeit, in grossen Massstäben zu denken, werden kürzliche negative Erfahrungen auf die Allgemeinheit projiziert. Erwiesen ist auch, dass Menschen in Umfragen die persönliche Zukunft sowie den Zustand der eigenen Gemeinde deutlich positiver einschätzend als die des gesamten Staates oder der Welt. Dies könnte daran liegen, dass man etwas positiver einschätzt, desto mehr Kontrolle man darüber hat. Weitere Gründe könnten eine fehlerhafte Schulbildung, das Älterwerden (der eigene Körper lässt mit der Zeit nach) sowie die Verdrängung von negativen Erinnerungen sein, womit die Vergangenheit besser dasteht als sie war.
Diese Flut von positiven Nachrichten provoziert natürlich einige Dauerpessimisten, deren Einwände man diskutieren sollte. Zuallererst behauptet niemand, dass es nicht lokal und/oder zeitlich begrenzt zu Rückschritten kommt. Es geht explizit um die langjährigen, globalen Trends, die für den Zustand der Welt und die zukünftige Entwicklung nun einmal viel aussagekräftiger sind als eine aktuelle Schlagzeile, nach der irgendwo ein Problem in diesem Bereich herrscht. Letztere werden häufig als Gegenbeweis zum Trend präsentiert, haben aber als Momentaufnahme eine sehr geringe Aussagekraft. Von positiven Entwicklungen zu berichten erscheint auch vielen so, als würde man die Probleme kleinreden. Es ist und bleibt tragisch, dass immer noch hunderttausende Kinder jährlich an Unterernährung sterben, man kann sich aber trotzdem daran freuen, dass diese Zahl vor relativ kurzer Zeit wesentlich höher lag. Auch soll mit diesen Statistiken sicher nicht impliziert werden, dass diese Probleme nicht existieren oder sich von selbst lösen. Die Trends anzuerkennen erlaubt zu sehen, dass die weltweiten Bemühungen für eine bessere Welt tatsächlich eine Wirkung erzielen. Im Gegenteil ist es eher die „es wird sowieso alles schlimmer“-Haltung, die Menschen daran hindert zu helfen.
Ein weiterer Einwand kommt aus dem Bereich des Umweltschutzes. Die logische Folge eines weltweit steigenden Wohlstands und Lebensstandards ist ein grösser werdender Ressourcenverbrauch. So wird befürchtet, dass aktuelle und zukünftige Probleme wie Luft- und Wasserverschmutzung, Klimawandel, Artensterben, Abholzung und endliche Ressourcen die aktuellen positiven Trends umkehren werden. Auch wenn Verbesserungen sichtbar sind, hat in der Tat bisher in keinem dieser Themen eine deutliche globale Trendwende stattgefunden. Es gibt trotzdem einige Gründe, davon auszugehen, dass die Auswirkungen dieser Probleme begrenzt werden können und sich die aktuellen Trends, wenn auch etwas gebremst, fortsetzen. Zunächst einmal sind manche dieser Probleme relativ neu und/oder haben Zeitrahmen von Jahrzehnten, bis mit irreparablen/katastrophalen Folgen gerechnet werden muss. Zugleich gilt: Je grösser ein Problem, desto grösser auch die Bemühungen es zu lösen (auch wenn es natürlich häufig besser wäre, man würde mit der Lösung bereits früher anfangen). In den Industriestaaten steigen die Bemühungen für den Umweltschutz ständig, wodurch schon einige Fortschritte erzielt wurden. Beispiele wie die im Vergleich zu früher deutlich bessere Wasser- und Luftqualität sowie die steigende Waldfläche in Europa zeigen, dass eine hohe Lebensqualität und ein akzeptabler Einfluss auf die Umwelt kein Widerspruch bedeuten muss. Auf globaler Ebene ist es gelungen, das Ozonloch zu verkleinern. Ausserdem sank die Menge an Öl, die jährlich durch Tankerunfälle ins Meer gelangt, von mehr als 150 kt in den 70ern auf weniger als 5 kt. Ein gewisser Wohlstand ermöglicht zudem Forschung, Innovation, Investitionen in Schutzmassnahmen (Dämme, Kläranlagen, Abfallentsorgung) und bietet einen sicheren Rahmen für Umweltschutzgesetze (Naturschutzgebiete, Grenzwerte). Entwicklungs- und Schwellenländer legen den Fokus aktuell verständlicherweise auf das Wirtschaftswachstum statt auf den Umweltschutz, da Hunger, Armut und Gewalt dort nach wie vor die weitaus grösseren Probleme darstellen. Mit steigendem Wohlstand werden aber auch diese Länder den Umweltschutz stärker gewichten, ohne die Fehler der Industriestaaten wiederholen zu müssen. Aufgrund des Endes des Bevölkerungswachstums wird zudem auch der Ressourcenverbrauch nicht ewig weiter steigen.
Angesichts dieser Statistiken ist es angebracht, etwas positiver in die Zukunft zu blicken und den vorherrschenden Pessimismus hinter sich zu lassen. Natürlich gibt es immer noch grosse Probleme und zukünftige Herausforderungen, die sich nicht so schnell und einfach lösen lassen. Wenn aber die Vergangenheit sowie die aktuellen Trends etwas zeigen, so dass damit gerechnet werden kann, dass die Menschheit weiter Fortschritte machen wird. Damit liegen wir auf dem Weg, das fast schon utopische Ziel zu erfüllen, allen Menschen auf der Welt ein friedliches, gesundes und materiell sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
Meine Hauptquellen:
Ein unterhaltsamer Vortrag von Hans Rosling auf Youtube.
Informative und gut aufbereitete Statistiken auf Our World in Data.
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