Dieser Artikel ist Teil des ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2018. Informationen zum Ablauf gibt es hier. Leserinnen und Leser können die Artikel bewerten und bei der Abstimmung einen Preis gewinnen – Details dazu gibt es hier. Eine Übersicht über alle am Bewerb teilnehmenden Artikel gibt es hier. Informationen zu den Autoren der Wettbewerbsartikel finden sich in den jeweiligen Texten.
——————————————————————————————————————
Für Dumme verkauft
von Curia248
Eine Chemikerin, die gerne Kuchen mag
Eine nicht ganz alltägliche Liebe
Peinlicher Party-Smalltalk mit fremden Menschen. Wer kennt ihn nicht, den gezwungen Versuch über Beruf und Wetter zu reden, um mit neuen Menschen in Kontakt zu kommen. “Und was machst du so?” “Ich bin Chemikerin.” Meine Gegenüber antwortet mir dann meist, dass er Chemie in der Schule ganz schnell abgewählt hat. Ja, Chemie gehört nicht unbedingt zum Lieblingsfach der meisten Schüler. Aber können wir diese Wissenschaft aus unserem Alltag verbannen? Oder kann sie uns sogar bei einem alltäglichen Einkauf helfen? Ihr könnt euch schon denken, meine Antwort fällt zugunsten der Chemie aus. Aber ich möchte euch einen kleinen Ausblick geben, warum wir alle von Chemie betroffen sind. Egal ob Science-Freak oder Chemie-Abwähler. Außerdem zeige ich euch, dass ein bisschen Chemieverständnis zwar zu spontanen Wutausbrüchen führen kann, aber durchaus auch Geld sparen kann. Hierbei beginnen wir beim Kuchen, streicheln kurz Schrödingers Katze und landen schließlich bei strahlenden Menschen auf flackernden Bildschirmen, die für Dumme verkaufen.
Eine Wissenschaft vom Waschmittel bis zum Kuchen
Meine geliebte Chemie hat es also nicht immer einfach. Die meisten Menschen begegnen ihr das erste Mal in der Schule, wenn ihnen das Atom vorgestellt wird. Atome sind die kleinsten Bausteine aus denen alle Dinge aufgebaut sind. Somit sind wir dauerhaft von Chemie umgeben, ja bestehen sogar selbst aus Chemie. Diese Wissenschaft erklärt uns sogar den Aufbau von Kuchen. Aber Kuchen ist nicht nur lecker, sondern auch chemisch interessant. Beim Kuchenbacken werden verschiedene Zutaten vermischt und erhitzt, sodass der Kuchen entsteht. Dieser unterscheidet sich dann in Geschmack und Eigenschaften deutlich von den verwendeten Zutaten, denn Eier, Butter und Mehl schmecken eher nicht. Für die Kuchen-Entstehung haben chemische Reaktionen stattgefunden, bei denen die Atome neu verknüpft wurden und dadurch eine neue Substanz, nämlich den Kuchen, gebildet haben. Die Umwandlung von Ausgangsstoffen in andere Stoffe mit neuen Eigenschaften ist ein grundlegendes Prinzip der Chemie. Solche chemischen Reaktionen finden häufig erst beim Erhitzen statt, auch das ist vom Kuchenbacken bekannt. Der Chemiker betrachtet nur eben nicht Butter, Eier und Mehl, sondern die Atome, aus denen die Zutaten aufgebaut sind.
Aber was genau sind diese Bausteine, die Atome, eigentlich? Auch die Antwort zu dieser Frage beginnt mit dem Kuchen. Diesmal ist der Kuchen aber nur eine symbolische Vereinfachung eines einzelnen Atoms. In der Schule wird häufig als erstes das “Rosinenkuchenmodell” vorgestellt: Ein Atom besteht aus einem Teig, der positiv geladen ist. In diesem Teig befinden sich die Rosinen, sie haben eine negative Ladung und werden als Elektronen bezeichnet Dieses Modell zeigt also, dass Atome gar nicht die allerkleinsten Bausteine sind. Sie bestehen selber aus negativ geladenen Elektronen und einem positiv geladenen Anteil. Diese leckere Modellvorstellung entspricht jedoch nicht dem aktuellen Kenntnisstand der Realität. Es muss also als nächstes das Bohrsche Atommodell gepaukt werden. Hierbei gibt es einen Kern in der Mitte des Atoms, dieser enthält positive Teilchen, Protonen genannt und außerdem nicht geladene Teilchen. Sie sind neutral, also werden sie als Neutronen bezeichnet. Um diesen Atomkern kreisen die Elektronen auf bestimmten Bahnen. Diese Bahnen werden Schalen genannt und mit Buchstaben, beispielsweise K und L gekennzeichnet.
Doch auch hierbei wird der fleißige Schüler oder Student erfahren müssen, dass was er so eben noch mühsam gelernt hat eigentlich nicht die ganze Wahrheit ist. Das beschriebene Modell kann zwar in vielen Fällen gut angewendet werden, doch wer es genau wissen will, muss sich mit einem Fach namens Quantenmechanik abgegeben. Hierbei wird man mit langen Gleichungen und seltsamen, häufig walförmigen Orbitalen konfrontiert. Es fallen berühmte Namen wie Schrödinger und Heisenberg. Letzterer ist gut bekannt, schließlich hat man ihm beim Crystal Meth kochen zugesehen. Schrödingers Katze ist ebenfalls berühmt und sie besteht immerhin auch aus Atomen. Leider hat dies wenig mit der verworrenen Theorie der Quantenmechanik zu tun und viele Schüler geben spätestens beim Anblick von seitenlangen Rechnungen mit fremd aussehenden griechischen Buchstaben auf. Aber das ist ja auch in Ordnung, denn dafür gibt es uns Chemiker: Menschen, die ihre Nase hinter dicken Büchern verbergen, im Hochsommer in langen Laborkitteln vor ihren Reagenzgläsern schwitzen und ja, auch Drogen kochen können. Und der hochmotivierte Schüler, der diese seltsamen Dinge dann doch mal lieber schnell abgewählt hat, der kommt heute doch gut ohne Chemie aus.
Chemie ist nicht alles, aber alles ist Chemie
Ihr lasst euch natürlich nicht entmutigen. Denn auch mit dem Bohrschen Atommodell, frei von Katzen, können viele Grundlagen der Chemie verstanden und interessante Beobachtungen erklärt werden. Doch chemischen Begeisterung wird im Alltag leider selten beobachtet. Im Gegenteil, häufig wird “ohne Chemie” bevorzugt, vom Waschmittel bis zur Haartönung. Was hier besonders umweltfreundlich klingeln soll, ist insbesondere falsch. Denn wir wissen jetzt, alles besteht aus Atomen und somit ist alles Chemie. Weiterhin sind die Funktionen solcher Produkte nicht ohne chemische Reaktionen möglich Der Werbespruch “Ohne Chemie” meint nur, dass es sich um ein Naturprodukt handelt, also die Substanz wurde nicht in einem Labor oder einer großen chemischen Fabrik hergestellt. Doch der Name der Chemie wird noch weiter ausgenutzt. Häufig wird sie nämlich verwendet, um bestimmte Produkt als besonders fortschrittlich darzustellen. Chemische Fachbegriffe schmücken Verpackungen und flimmern über Bildschirme. Es wird eine vermeintlich wissenschaftliche Erklärung gegeben, die den Konsumenten dazu bewegt ein Produkt zu kaufen. Hierbei geht es natürlich nicht darum, dass der Käufer das Prinzip versteht, sondern er soll darauf vertrauen, dass die Funktion des Produkts durch aktuelle Wissenschaft verbessert wurde. Dies impliziert, dass es sich lohnt mehr Geld für dieses Produkt auszugeben.
Und genau hier beginnt ein schwieriger Teil meines Chemikerinnen-Alltags. Wie euch vielleicht bereits am Anfang aufgefallen ist, ich kenne auch das Leben außerhalb des Labors. Ja, ich gehe auf Partys und da schreit wohl nicht alles an meiner Ausstrahlung “Nerd auf unbekanntem Territorium”. Mir ist es auch erst einmal passiert, dass ich in der Mittagspause mit meiner Schutzbrille auf der Nase zum Essen spaziert bin. Aber in den meisten Lebenssituationen bin ich ein ganz normaler Mitmensch. Es kann allerdings auch anders kommen.
Ich sitze zuhause in meinem Lieblingssessel und schaue entspannt fern. Und dann plötzlich die Werbung beginnt, nett lächelnde Menschen möchten uns etwas verkaufen. Soweit, so gut, das ist der Sinn von Werbung. Aber die Wut packt mich, wenn wir dabei für dumm verkauft werden. Die Werbung berichtet uns von wissenschaftlich erwiesenen Vorteilen eines Produkts und aufgrund dieser wunderbaren neuen Erfindungen sollen wir bereit sein mehr Geld auszugeben. Beispiele hierfür gibt es viele, doch ich möchte euch hier meinen neusten Werbeaufreger präsentieren: Mizellen-Reinigungsprodukte. Hierbei soll es sich um ein “neues Produkt” handeln, welches herkömmliche Abschminktücher und Gesichtsreiniger ersetzt. Als ich heute in einer Drogerie war, musste ich wieder feststellen, dass mir auf einem Großteil der Produkte das Wort “Mizelle” entgegen sticht. Aber was ist diese “Mizelle“ und warum ist sie so toll?
Abschminktücher benutze ich auch schon lange, schließlich ist es super praktisch das Tuch mit integriertem Make-Up Entferner abends schnell durchs Gesicht zu wischen und schon ist man ungeschminkt. Doch neben den “gewöhnlichen” Tüchern finden sich eben neuerdings die sogenannten Mizellenreinigunstücher. Sie versprechen eine gründliche und schonende Reinigung und hierfür ist der Konsument offensichtlich bereit mehr zu zahlen. Das Bild stellet eine dieser Mizellen da. Sie besteht aus vielen einzelnen Tensiden, die sich beispielweise zu einer großen Kugel zusammenlagern.
Das Tensid, welches rechts zu sehen ist, besitzt zwei verschiedene Teile. Einmal den blauen, runden Kopf und den grünen, geschlängelten Schwanz. Was erstmal niedlich klingt, ist sehr wichtig für die Eigenschaften der Tenside. Der Kopf ist nämlich gerne in Kontakt mit Wasser, er wird wasserliebend genannt. Der Schwanz hingegen ist wasserhassend, er möchte also möglichst keinen Kontakt mit dem Wasser haben. Wenn jetzt eine große Menge dieser Tenside in Wasser kommt, möchte der wasserhassende Schwanz den Kontakt zum Wasser minimieren. Daher formen die Tenside beispielsweise eine Kugel, bei der alle wasserliebenden Köpfe nach außen im Kontakt zum Wasser stehen und die Schwänze innerhalb der Kugel liegen, sodass sie keinen Kontakt zum Wasser haben. Diese Kugel wird dann Mizelle genannt. Immer wenn die Konzentration an Tensiden im Wasser hoch genug ist, bilden sich Mizellen. Tenside sind Seifen. Sie sind in Spülmitteln, Shampoos und vielen anderen Reinigungsprodukten zu finden, eben überall wo Seife im Spiel ist. Auch wenn die Werbung uns dies verschweigt, bildet also nahezu jedes Reinigungsprodukt Mizellen. Wir wissen jetzt also, Mizellen sind in sehr vielen Produkten enthalten und sind keineswegs eine neue Erfindung. Aber wofür werden sie denn in all diesen Waschmitteln gebraucht? Der Schwanz hasst zwar das Wasser, allerdings ist er fettliebend. Schmutzteile wie beispielsweise Fette werden im Inneren der Mizelle eingekapselt. Dadurch werden diese Schmutzpartikel daran gehindert an einer Oberfläche zu haften oder sich zu größeren Schmutzteilchen zu verbinden. Somit können die Schmutzpartikel in den Mizellen von der zu reinigenden Fläche entfernt werden. Und hierfür “benutzen” wir Mizellen täglich, beim Waschen, Spülen oder eben beim Make-Up Entfernen. Die Anwendung dieser Tenside wird schon seit mehreren Jahrtausenden genutzt, auch wenn die genaue Bildung der verschiedenen Mizellen heute noch ein Thema der aktuellen Forschung ist.
Doch um sicher zu gehen, werfen wir noch einen Blick auf die von mir verwendeten “normalen Reinigungstücher”: Auf der Verpackung findet sich eine Liste von Inhaltsstoffen mit langen chemischen Namen unter denen sich die wenigsten Menschen etwas vorstellen können. Neben Wasser und Konservierungsmitteln gibt es beispielsweise folgende Substanzen: Laurylglucosid, Natriumstearoyllactylat, Glycerinstearat und Stearylalkohol. Wenn ihr die Namen überhaupt richtig durchgelesen habt, seid ihr wahrscheinlich selber schon Chemieliebhaber. Aber das wichtige ist, hinter diesem Buchstabenwirrwarr verstecken sich Substanzen, die aus einem wasserliebenden und einem fettliebenden Teil bestehen, es sind also Tenside. Und wir wissen jetzt, diese Tenside bilden Mizellen. Klar ist also, auch diese Reinigungstücher, die nicht damit angeworben werden, müssen Mizellen enthalten. Natürlich ist die Bezeichung “Mizellenreingung” nicht falsch, doch sie kennzeichnet auch nichts Neues. Das Ziel ist nur, dass der Konsument das Produkt aufgrund des wissenschaftlichen Namens eher kaufen wird, ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Und dieses Ausnutzen der Wissenschaft und des Unwissens macht mich wütend. Deshalb möchte ich an euch appellieren, egal ob Wissenschaftler oder Künstler, Science-Freak oder Chemie-Abwähler: Seid kritisch. Gebt der Chemie eine Chance, sie ist auch in eurem Alltag präsent. Interessiert euch für Naturwissenschaft in eurem Umfeld und diskutiert darüber. Und vor allen Dingen, lasst euch nicht für dumm verkaufen.
Passende Literatur findet ihr zum Beispiel hier:
P. Atkins, J. de Paula, Physical Chemistry, 10th Edition, Oxford University Press, 2014.
J. Clayden, N. Greeves, S. Warren, Organic Chemistry, 2nd Edition, Oxford University Press,2012.
Anmerkung: Aus Gründen der Übersichtlichkeit nutze ich das generische Maskulinum. Natürlich sind aber mit jeder dieser Formulierungen alle Geschlechter angesprochen.
Kommentare (29)