Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 480: Galaxien-Wurst im Inneren der Milchstraße
Im Inneren der Milchstraße steckt eine gigantische Wurst. Ok, nicht wirklich natürlich. Aber die Geschichte der “Gaia Sausage” also auf deutsch der “Gaia Wurst” ist tastsächlich spannend. Sie handelt von dem, was vor ungefähr 9 Milliarden Jahren passiert ist und unsere Galaxie erst zu dem gemacht hat, was sie heute ist.
Die Milchstraße ist die Galaxie, in der sich die Sonne befindet. Zusammen mit ein paar hundert Milliarden anderer Sterne. Die Milchstraße ist eine recht typische Spiralgalaxie, aber natürlich nicht allein im Universum. Da sind noch unzählige andere Galaxien. Zum Beispiel die Zwerggalaxien, die jede große Galaxie in ihrer Umgebung hat. Bei uns sind das die Zwerggalaxien der sogenannten “Milchstraßen-Untergruppe” und am bekanntesten davon sind die Große und die Kleine Magellansche Wolke, die man am Südhimmel der Erde wunderbar sehen kann. Die uns am nächsten gelegene Zwerggalaxie ist die Canis-Major-Zwerggalaxie, in knapp 40.000 Lichtjahren Entfernung vom Zentrum der Milchstraße. Im Gegensatz zu den hunderten Milliarden von Sternen in der Milchstraße besteht so eine Zwerggalaxie aus hunderten Millionen beziehungsweise nur wenigen Milliarden Sternen. Die nahe gelegene Canis-Major-Zwerggalaxie wurde erst 2003 entdeckt; sie liegt so ungünstig am Himmel dass uns die vielen Sterne der Milchstraße den Blick darauf verstellt haben. Noch ein wenig genauer hinschauen muss man, wenn man Zwerggalaxien entdecken will, die gar nicht mehr existieren.
Denn auch wenn zwischen den Galaxien sehr, sehr viel Platz ist: Ab und zu kommen sie sich doch in die Quere. Ich habe in Folge 177 der Sternengeschichten ja schon mehr über Zwerggalaxien und sogenannte “Sternströme” erzählt. Zwerggalaxien stehen unter dem Einfluss der viel stärkeren Schwerkraft der großen Galaxien in deren Nähe sie sich befinden. Sie bewegen sich um die großen Galaxien herum und sie können auch mit ihnen kollidieren. Nur dass bei solchen galaktischen Kollisionen so gut wie nichts tatsächlich miteinandern zusammenstößt. Wenn zwei Galaxien aufeinander treffen, werden sie zuerst durch die wechselseitige Gravitationskraft verformt. Dann durchdringen sie einander langsam; zu Kollisionen zwischen Sternen kommt es dabei aber so gut wie gar nicht. Ist eine Galaxie sehr viel größer als die andere, dann wird aus dem Durchdringen allerdings oft ein Verschlucken. Die Sterne der kleinen Galaxie verteilen sich in der großen und am Ende hat die Zwerggalaxie aufgehört zu existieren.
Aber sie hinterlässt Spuren! Die Sterne die früher Teil der Zwerggalaxie waren sind immer noch durch ihre Bewegung als Außenseiter zu erkennen. Sie bewegen sich nicht so wie die Sterne der großen Galaxien, sondern folgen Bahnen, die zum Beispiel weit über die Ebene der anderen Sterne hinaus führen. Solche “Sternströme” sind die letzten Reste der ehemaligen Zwerggalaxie und in unserer Milchstraße haben wir schon einige davon gefunden. Jeder davon zeigt uns, dass die Milchstraße irgendwann eine Zwerggalaxie verschluckt hat. Und ein ganz besonderes Ereignis dieser Art muss vor 8 bis 10 Milliarden Jahren stattgefunden haben.
Wir haben davon erst im Jahr 2018 erfahren als Daten des Weltraumteleskops Gaia ausgewertet wurden. Dieses Teleskop hat Position und Geschwindigkeit von so vielen Sternen vermessen wie kein anderes zuvor. Mehr als 1,6 Milliarden Sterne, was zwar immer noch nur ein Bruchteil aller Sterne der Milchstraße ist, aber doch dramatisch viel mehr Sterne, als wir zuvor in unseren Katalogen hatten. Wir können zwar nicht in echt sehen, wie die Sterne sich bewegen. Beziehungsweise schon, aber angesichts der enormen Distanzen im Universum sind die Distanzen die die Sterne in den paar Jahren zurücklegen in denen wir sie beobachten kaum der Rede wert. Aber wenn wir – dank Messungen wie von Gaia – wissen, wo ein Stern sich befindet und wie schnell er sich in eine bestimmte Richtung bewegt, dann können wir _berechnen_ wo sie früher waren und wo sie in Zukunft sein werden. Und als man das mit den Gaia-Daten getan hat, ist plötzlich die Wurst aufgetaucht.
Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, müssen wir ein wenig abstrakter werden. Wir zeichnen aus den Daten jetzt keine Karte der Milchstraße, also kein Diagram, in dem man die Positionen einträgt. Sondern erstellen ein Bild der Geschwindigkeiten. Ein Stern hat ja gewissermaßen drei verschiedene Geschwindigkeiten; eine für jede Richtung im Raum. Das kann man sich leicht vorstellen, wenn man zum Beispiel Autos statt Sternen betrachtet. Wenn ich am Bürgersteig neben der Straße stehe, dann fahren die Autos – hoffentlich – an mir vorbei. In die eine Richtung, die Fahrtrichtung der Autos, ist ihre Geschwindigkeit sehr hoch. Aber keines der Autos kommt – nochmal hoffentlich – direkt auf mich zu; in dieser Richtung ist ihre Geschwindigkeit also gleich Null. Bei den Sternen ist es genau so. Sie bewegen sie durch die Milchstraße und je nachdem wie sie das tun haben sie unterschiedliche Geschwindigkeiten in den drei Raumrichtungen.
Die “Gaia-Wurst” ist nun etwas, was man als “ausgeprägte Anisotropie in der Geschwindigkeitsverteilung der Sterne” bezeichnen kann, wenn man wissenschaftlich formuliert. Oder, wenn man ein wenig verständlicher sein will: Zeichnet man die Geschwindigkeiten aller Sterne der Milchstraße entlang der drei Raumrichtungen auf, dann findet man eine Gruppe an Sternen, die sich alle sehr stark “radial” bewegen. Das heißt, sehr vereinfacht, anstatt sich schön gleichmäßig rundherum zu bewegen, haben sie langgestreckte Bahnen auf denen sie die meiste Zeit auf – wieder sehr vereinfacht – fast gerader Bahn durch die Galaxie sausen und dann in einer 180-Grad-Kurve die Richtung ändern und wieder zurück fliegen. Gut, das war vermutlich ein wenig zu sehr vereinfacht, aber wenn wir nicht in die Details der Kugelkoordinaten einsteigen, dann sollte das reichen. Wichtig ist: Man hat eine Gruppe von Sternen entdeckt, die sich ganz anders bewegen als der Rest der Sterne in der Milchstraße. Sie tun das auf sehr langgestreckten Bahnen, was bedeutet, dass eine ihrer Geschwindigkeitskomponenten sehr viel größer ist als die andere und wenn man das in einem entsprechenden Diagramm einzeichnet, dann sieht diese Gruppe von Sternen aus wie eine langgestreckte “Wurst”, die quer in der Milchstraße liegt.
Auf solchen Bahnen bewegen sich Sterne aber nicht so einfach und schon gar nicht so viele auf einmal. Es muss also etwas besonderes vorgefallen sein, wenn wir da so viele Sterne auf so komischen Bahnen haben. Und das, was vorgefallen ist, war eine galaktische Kollision! Die Milchstraße ist vor 8 bis 10 Milliarden Jahren mit einer Zwerggalaxie kollidiert, die wahlweise als die “Wurst-Galaxie” oder “Gaia-Enceladus-Sausage” bezeichnet wird. Die muss quasi frontal mit der Milchstraße kollidiert sein; wenn sie sich eher “seitlich” in die Milchstraße gedrängt hätte, dann hätten die Sterne heute nicht so extreme Bahnen. Es muss auch eine vergleichsweise große Zwerggalaxie gewesen sein, denn die Gaia-Wurst ist gewaltig. Man schätzt, das die Milchstraße durch die Kollision insgesamt 50 Milliarden Sonnenmassen dazugewonnen hat. Nicht alles davon waren Sterne, es war auch eine gute Menge Gas und dunkle Materie mit dabei. Aber dennoch sind 50 Milliarden Sonnenmassen eine ordentliche Mahlzeit und es ist nicht verwunderlich, dass das Spuren hinterlassen hat. Nach der Kollision mit der Wurst-Galaxie war die Milchstraße nicht mehr die alte. Die Scheibe der Milchstraße, in der sich die Spiralarme befinden, wurde vermutlich zum Teil auseinander gerissen und musste sich danach erst wieder neu bilden. Überreste der Wurst-Galaxie haben sich im Zentrum der Milchstraße angesammelt und dort den “Bulge” gebildet, also die kugelförmige Ausbuchtung die sich im zentralen Bereich der galaktischen Scheibe erhebt.
Wir wissen auch, dass die Wurst-Galaxie mindestens acht Kugelsternhaufen mitgebracht hat. Das ist ein weiteres Anzeichen für ihre Größe. Kleine Zwerggalaxien haben keine eigene Sammlung dieser Sternhaufen; große wie unsere Milchstraße schon. Wir kennen circa 150 Kugelsternhaufen, die sich rund um die Milchstraße herum befinden; sie gehören zur Ausstattung jeder ordentlichen Galaxie. Die Wurst-Galaxie war zwar deutlich kleiner als die Milchstraße, aber trotzdem groß genug um zumindest ein paar eigene Kugelsternhaufen gehabt zu haben. Wir wissen nämlich dank Position- und Geschwindigkeitsmessungen, dass sich auch ein paar der galaktischen Kugelsternhaufen auf die gleiche seltsame Art bewegen wie die Sterne der Gaia-Wurst. Wer es genau wissen will: Es sind die Kugelsternhaufen mit der Bezeichnung Messier 2, Messier 56, Messier 75, Messier 79, NGC 1851, NGC 2298 und NGC 5286. Beim Kugelsternhaufen NGC 2808 ist man sich noch nicht ganz sicher. Dieses Objekt ist knapp 31.000 Lichtjahre entfernt, besteht aus mehr als einer Million Sterne und gehört zu den massereichsten Kugelsternhaufen unserer Milchstraße. Man findet dort junge Sterne, aber auch sehr alte Sterne, was ungewöhnlich ist für Kugelsternhaufen. Dort sind normalerweise nur alte Sterne zu finden. Im Gegensatz zu den zentraleren Bereichen von Galaxien, die immer Sterne aller Generationen enthalten. Deswegen wird vermutet, dass es sich bei NGC 2808 um die Zentralregion der ehemaligen Wurst-Galaxie handeln könnte. Es wäre dann der letzte Rest dieser Galaxie; der Teil, der sich bei der Kollision nicht aufgelöst hat.
Die Milchstraße ist im Laufe der Zeit mit vielen Zwerggalaxien kollidiert und hat sie sich dabei einverleibt. Die Wurst-Galaxie aber war mit Abstand der größte Brocken. Dieser Zusammenstoß hat unsere Milchstraße zu dem gemacht, was sie heute ist. Aber nicht unbedingt bleiben wird. Es wird weitere Kollisionen geben. Es GIBT weitere Kollisionen; gerade jetzt ist die Milchstraße etwa dabei, die Sagittarius-Zwerggalaxie zu verschlucken. Aber galaktische Kollisionen laufen langsam ab und sie wird noch die eine oder andere Milliarde Jahre daran zu knabbern haben.
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