Der Quantenmechanik wird ja oft vorgeworfen, dass sie, anders als die klassische Physik, sehr unanschaulich sei. Tatsächlich aber sind auch manche Größen in der klassischen Physik gar nicht so leicht anschaulich zu verstehen. Darüber will ich in diesem und ein paar weiteren Posts nachdenken.
Als erstes möchte ich den Begriff “Energie” näher ansehen. Mit dem hantieren wir so oft und selbstverständlich, dass er doch sicherlich eine klare anschauliche Bedeutung hat.
Oder?
In der Mechanik ist die Energie zunächst definiert als “die Fähigkeit, mechanische Arbeit zu verrichten”. Für eine physikalische Größe ist das bereits eine seltsame Definition, weil sie nichts darüber aussagt, was ist, sondern darüber, was vielleicht sein könnte. “Energie” ist keine Substanz, nichts, das man direkt anfassen könnte, sondern wird über eine Möglichkeit definiert.
Nehme ich beispielsweise einen Stein vom Boden und lege ihn auf den Tisch, so hat er jetzt eine höhere Energie, weil er sich im Schwerefeld der Erde befindet. Ich könnte ihn vom Tisch herunterfallen lassen, und dabei könnte der Stein eine Feder verbiegen oder über eine Wippe einen Ball in die Luft schleudern. In beiden Fällen würde er mechanische Arbeit leisten, weil er ein Objekt gegen eine Kraft bewegt.
Wo aber “steckt” diese Energie, wenn der Stein auf dem Tisch liegt? Woher “weiß” der Stein, wieviel Arbeit er leisten kann? Natürlich gibt es eine Rechenvorschrift für diese Energie, nämlich E=m g h. Dabei ist m die Masse des Steins, g die Erdbeschleunigung und h die Höhe. Allein das ist schon merkwürdig – welche Höhe ist denn gemeint? Die über dem Fussboden? Über dem Meeresspiegel? Berechnet man die tatsächlich beim Herunterfallen geleistete Arbeit, so ist das Problem natürlich nicht vorhanden, denn dann muss man die Energiedifferenz betrachten, also mg(h2-h1), und diese Größe ist eindeutig definiert. Die klassische Physik ist damit natürlich vollkommen konsistent und gibt korrekte Antworten auf die Frage nach der geleisteten Arbeit, aber wie groß die Energie tatsächlich (absolut) ist, die irgendwie “im Stein steckt”, ist innerhalb der klassischen (Newtonschen) Physik nicht so klar und man kann diese Energie, die auch (der Name kann einen schon stutzig machen) “potentielle” Energie heißt, auch nicht direkt messen.
Die Sache wird noch problematischer, wenn ich den Stein fallen lasse, ohne dass er dabei ein anderes Objekt bewegt. Er prallt auf den Boden auf – und dann? Wohin ist seine “Fähigkeit, Arbeit zu leisten” verschwunden? Beim Aufprall hat der Stein die Moleküle im Boden beschleunigt und an ihnen Arbeit geleistet. Da es aber sehr viele Moleküle im Boden gibt und diese ziemlich ungeordnet schwingen, verteilt sich diese Arbeit unregelmäßig auf sehr viele Moleküle, die sich nun etwas schneller bewegen. Ungeordnete Molekülbewegung ist aber nichts als Wärme, also hat der Stein die Temperatur des Bodens erhöht.
Klingt harmlos für unseren Energiebegriff – die Moleküle sind jetzt schneller geworden, also ist die Energie in ihnen als kinetische Energie gespeichert, oder? Das ist schon richtig, die Sache hat nur einen Haken: Nach dem 2. Hautpsatz der Thermodynamik können wir diese zusätzliche Wärmeenergie nicht mehr vollständig in andere Energieformen zurückverwandeln, wir können sie also nicht verwenden, um über irgendeinen Mechanismus den Stein wieder auf den Tisch zu heben.
Verwenden wir die klassische Definition “Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten”, ist uns jetzt also Energie verloren gegangen. Wir können (und das ist in der Physik gängige Praxis) den Energiebegriff so verändern, dass er auch Wärmeenergie umfasst, dadurch wird er aber noch unanschaulicher.
Schließlich gibt es auch noch andere Energieformen, wie elektrische oder chemische Energie. Der Energiebegriff umfasst all diese Energieformen, allerding ist er nicht mehr wirklich anschaulich.
Wir können eine Vorschrift angeben, wie man den Energiegehalt eines Systems berechnen kann: Man addiert alle Energieformen, wobei für jede Energieform eine separate Regel gilt, wie man diese spezielle Energie bestimmt. Letztlich handelt es sich bei der Energie also um eine Rechengröße, die wir für jedes System bestimmen können. Eine unmittelbar anschauliche Interpretation, die in allen Fällen funktioniert, hat sie allerdings nicht.
Tatsächlich können die theoretischen Physiker uns eine Definition der Energie geben, die auf alle Energieformen zutrifft. Allerdings hilft diese Definition der Anschauung nicht besonders weiter, denn sie lautet:
Die Energie ist diejenige Erhaltungsgröße, die aus der zeitlichen Invarianz der Naturgesetze folgt.
Dank des sogenannten Noether-Theorems ist das tatsächlich eine brauchbare Definition der Energie, aber zumindest ich finde das nicht “anschaulich” (Natürlich ist das Noether-Theorem ein spannendes Stück Physik, das ist keine Frage.): Weil die Naturgestze gestern so waren wie heute, gibt es eine Rechengröße, die erhalten bleiben muss…?
Und tatsächlich schreibt Richard Feynman in den Feynman Lectures On Physics:
It is important to realize that in physics today, we have no knowledge what energy is. [Es ist wichtig, sich klarzumachen, das wir in der heutigen Physik nicht wissen, was Energie ist.]
Warum kommt uns der Energiebegriff dann trotzdem oft so anschaulich vor? Hierfür ist, denke ich, die Energieerhaltung verantwortlich: Die Energie in einem abgeschlossenen System ist konstant, sie kann aber ihre Form ändern (beispielsweise von mechanischer in Wärmeenergie). Wir können uns deshalb vorstellen, dass Energie von einem Teil des Systems in den anderen Teil “fließt” oder “sich umwandelt”, so als wäre die Energie eine Substanz. Diese Umwandlung erfolgt sogar “lokal”, d.h. wenn ich zu einer Zeit Energie an einem Ort messe und diese Energie dann später an einem anderen Ort wiederfinde, dann hat sie in der Zwischenzeit in irgendeiner Form den dazwischenliegenden Raum durchquert.
Da man sich in der Physik meist vor allem für Umwandlungen der Energie interessiert, ist diese Anschauung eines Energieflusses oft nützlich, und wenn Physiker über Prozesse reden, dann heißt es ständig “woher soll denn die Energie kommen” oder “wo bleibt denn die Energie?”, so, als wäre die Energie eine Art Stoff. Eine echte Anschauung für das, was da fließt oder sich umwandelt, gibt es aber, soweit ich sehen kann, nicht.
Kommentare (96)