Unendlich hohe Geschwindigkeiten sind natürlich durch die Relativitätstheorie “verboten”. In der klassischen Newtonschen Mechanik aber kann man Himmelskörper auf unendlich hohe Geschwindigkeiten bringen, und zwar in endlicher Zeit. Wie das geht?
Dass die Newtonsche Mechanik Unendlichkeiten beinhalten kann, ist eigentlich nicht so überraschend: Die gravitative Anziehungskraft F zwischen zwei Körpern mit Massen m1 und m2 im Abstand r ist ja gegeben durch
F = G m1 m2 / r2 (G: Gravitations-Konstante)
Wenn zwei Massenpunkte kollidieren (r=0), ist ihre Anziehung also unendlich groß.
Nach dem Newtonschen Axiom Kraft=Masse mal Beschleunigung wird damit auch die Beschleunigung unendlich und letztendlich auch die Geschwindigkeit.
Aber das ist natürlich irgendwie geschummelt, denn beim Kollidieren würde ja schließlich sowieso irgendetwas anderes passieren.
Vor etwa 100 Jahren fragte sich Paul Painleve, ob man Unendlichkeiten in der Newtonschen Mechanik auch ohne Kollisionen zwischen zwei Körpern erhalten könnte. Er konnte beweisen, dass so etwas bei drei Körpern nicht auftreten könnte. Für mehr als drei Körper vermutete er, dass so etwas möglich sei, konnte es aber nicht beweisen oder widerlegen.
In der Folgezeit gab es viele Teilergebnisse hierzu, aber der endgültige Beweis gelang Zhihong Jeff Xia in seiner Doktorarbeit im Jahr 1988. Die Idee dahinter war die, die wir oben schon gesehen haben: Bringt man eine sehr kleine Masse sehr dicht an eine große Masse heran, so wird die Anziehungskraft der großen Masse entsprechend groß sein (weil das 1/r2 oben in der Gleichung riesig wird, wenn r sehr klein ist.). Das Problem ist aber natürlich, dass die beiden Massen dann aufgrund ihrer Anziehung kollidieren würden, und gesucht ist ja eine Situation ohne Kollision.
Xia fand einen genialen Trick: Er ließ zwei Massen auf einer engen und stark elliptischen Umlaufbahn umeinanderkreisen, so dass sie sich periodisch annähern und wieder voneinander entfernen. Eine kleine Masse kommt jetzt von unten angeflogen. Sie bewegt sich genau zwischen dem Mittelpunkt der großen Massen hindurch, während diese gerade dabei sind, sich anzunähern. In dem Moment, wo die beiden großen Massen sich am nächsten sind, ist die kleine dritte Masse gerade zwischen ihnen durchgeflitzt und liegt jetzt ganz dicht über den beiden.
Hier kommt die Masse von unten und bewegt sich zwischen den beiden großen Massen hindurch. Aus [1]
Sie wird jetzt extrem stark angezogen (auf den gemeinsamen Schwerpunkt der beiden Massen hin, der genau in der Mitte liegt) und saust deshalb wieder auf die beiden großen Massen zu. Diese aber entfernen sich ja voneinander, so dass die kleine Masse zwischen ihnen hindurchflitzen kann. Sie wird jetzt nicht so stark gebremst, wie sie vorher beschleunigt wurde, weil die beiden anderen Massen sich ja schon ein Stück entfernt haben und ihre Anziehungskraft jetzt schwächer ist.
Jetzt haben wir also eine kleine Masse, die sich extrem schnell bewegt. Um sie weiter zu beschleunigen, wiederholen wir das Spiel mit einem zweiten Massenpaar: Genau auf der Bewegungslinie der kleinen Masse, die jetzt nach unten unterwegs ist, haben wir ein weiteres sich umkreisendes Paar von großen Massen. Zwischen denen saust die kleine Masse wieder hindurch und genau in dem Moment, wo sie zwischen ihnen hindurchgeflitzt ist, erreichen jetzt diese beiden Massen ihre dichteste Annäherung und beschleunigen die kleine Masse wieder zurück zum ersten Massenpaar.
Die vollständige Konfiguration mit 5 Massen. Aus [1]
Bei geeigneter Wahl der Anfangsbedingung kann man es erreichen, dass die kleine Masse zwischen den beiden Massenpaaren hin- und hergeschossen wird wie bei einem Tennismatch. Ihre Geschwindigkeit steigt dabei jedes Mal weiter an. Weil der Impuls dafür irgendwoher kommen muss (Impulserhaltung!), treibt die kleine Masse die beiden Massenpaare immer weiter auseinander, jedes Mal, wenn diese die kleine Masse nach unten (bzw. oben) beschleunigen, werden sie selbst nach oben (bzw. unten) beschleunigt.
Xia konnte zeigen, dass dabei tatsächlich der Abstand zwischen den Massenpaaren innerhalb endlicher Zeit auf einen unendlichen Wert steigen kann, die beiden Massenpaare entfernen sich also unendlich schnell voneinander. Wenn ich es richtig verstehe funktioniert das deshalb, weil die Geschwindigkeit der kleinen Masse so viel schneller steigt als der Abstand der Massenpaare, dass die kleine Masse in endlicher Zeit unendlich oft hin- und herflitzen kann. Der Beweis selbst ist, gelinde gesagt, sehr kompliziert. (Das ist die vornehme Umschreibung für “Ich hab ihn nicht verstanden.” Falls jemand ihn halbwegs verständlich erklären kann, ist er oder sie herzlich zu einem Gasteintrag eingeladen…)
Allerdings muss man die Anfangsbedingungen exakt einstellen, damit das Ganze klappt. Wenn ich alles richtig verstanden habe, dann ist die Menge aller geeigneten Anfangsbedingungen eine Cantor-Menge im Raum aller möglichen Anfangsbedingungen. (Das ist auch der Grund, warum der Beweis schwierig ist – Xia gab sich nicht damit zufrieden, eine passende Anfangsbedingung zu finden, sondern er suchte gleich alle…) Obwohl so eine Cantor-Menge unendlich viele Punkte hat, ist die Wahrscheinlichkeit, ein Element der Menge zufällig zu treffen, beliebig klein; Ludmilla muss sich also keine Sorgen machen, dass sie einen unendlich schnellen Exoplaneten verfolgen muss (muss sie natürlich sowieso nicht, wegen der Relativitätstheorie…).
Die praktische Relevanz der Konstruktion ist also gleich Null, aber sie zeigt wieder einmal, dass auch in der klassischen Physik extrem un-intuitive Dinge passieren können…
Nahezu zeitgleich (zu seinem Pech aber etwas später) fand übrigens auch Joseph Gerver eine Konstruktion für unendlich hohe Geschwindigkeiten in der Newtonschen Mechanik. Dazu ordnete er n Massenpaare auf einem Polygon an und ließ n kleine Massen immer zwischen ihnen hindurchsausen, so dass die Bahnen der Paare umeinander immer enger wurden und gleichzeitig das Polygon immer größer, ähnlich wie bei einem fly-by-Manöver:
Gervers Lösung mit 3n Massen auf einem Polygon. Aus [2]
Gegenüber Xia’s Lösung hat diese den zusätzlichen Charme, dass sie sich in einer Ebene abspielt.
Quellen:
[1] “Off to Infinity in Finite Time”
Donald G. Saari and Zhihong (Jeff) Xia
Notices of the AMS, Vol 42, Nr. 5
[2] “Painleve’s Conjecture”
Florin Diacu
DMS_606-IR, April 1992
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